Die Furcht der Demenzkranken

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Die Furcht der Demenzkranken ist der Inhalt des 91. Blogs. Es wird das Konzept der „Alt- und Neubiografie“ (vorläufige Arbeitsbegriffe) im Rahmen der fehlenden Emotionskontrolle erläutert.

Vorbemerkung

Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium sind aufgrund ihrer fehlenden Emotionskontrolle regelrecht Angstpatienten. Wie in Blog 90 aufgezeigt, sind durch den neurodegenerativen Abbau die Kontroll- und Regulierungsfunktionen des Emotionszentrums im limbischen System (Frontalgroßhirnareale) verloren gegangen. Diese Fehl- und Minderleistung ist das neurophysiologische Produkt von Angst und Furcht (Bandelow et al. 2006: 500f, Roth et al. 2006: 66).

Ständige Unruhe und Furcht bei den Demenzkranken führen zu einem hohen Einsatz von Psychopharmaka. Und Psychopharmaka sind bei Gebrechlichen und Hochbetagten eindeutig die Mittel zweiter Wahl, berücksichtigt man die schweren Nebenwirkungen (Sturzgefährdung u. a.) (Gutzmann et al. 2005: 76, Häussermann 2018). Erschwerend kommt noch der Sachverhalt hinzu, dass für Vertreter des Kitwood-Ansatzes Unruhe und Stress gemäß den Vorstellungen einer „Entpathologisierung“ und „Normalität“ zum Alltag gehören und somit keiner besonderen Beachtung bedürfen (Kitwood 2000, Müller-Hergl 2009, siehe Blog 78).

Die Herstellung der Person-Umwelt-Passung bei Demenzkranken bedeutet neben Eingliederung in die soziale und räumliche Umwelt des Weiteren die ständige Behandlung von Furcht und Unruhe, denn die entfesselte Furchtregion (Amygdala) kann aufgrund des neurodegenerativen Abbaus nicht mehr reguliert werden. Dementsprechend gilt es nun, die Emotionskontrolle extern u. a. durch das Gewohnheitslernen (Personal- Handlungs- und Milieustetigkeit) herzustellen.

Furcht als zentrales Krankheitssymptom der Demenz

Furcht und Unruhe sind bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium ein häufig anzutreffendes Krankheitssymptom. So wurde z, B. in den bisherigen Blogelementen der Begriff „Furcht“ 88mal und der Begriff „Unruhe“ 77mal im Rahmen verschiedener demenzspezifischer Gegebenheiten angeführt (siehe auch Lind 2007: 62ff, Lind 2011: 172). Hieraus lässt sich der Schluss ziehen, dass das psychosoziale Gleichgewicht bei dieser Personengruppe besonders fragil ist. Demenzkranke verlieren somit leicht ihre Fassung und regen sich schnell auf. Die Macht der unkontrollierten Amygdala ist somit allgegenwärtig. Auf der anderen Seite sind in den bisherigen Blogelementen viele Umgangsformen und Konzepte vorgestellt worden, die zur Vermeidung oder Verminderung dieser Stress- und Überforderungssymptome beitragen. Furcht und Unruhe lässt sich zwar nicht immer aber doch sehr oft durch wirksame Umgangsformen und Ritualisierungen im therapeutischen Sinn positiv beeinflussen. Im Folgenden werden die Aspekte der vergangenheitsbezogenen und der gegenwartsbezogenen Furchtimpulse auch hinsichtlich ihrer Behandlung dargestellt.

Altbiografie und Neubiografie im Rahmen der Demenzpflege

Es darf gefragt werden, warum im Rahmen der Furchtsymptomatik bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium neue Begrifflichkeiten wie „Altbiografie“ und „Neubiografie“ (vorläufige Arbeitsbegriffe) eingeführt werden. Mit Hilfe dieser neuen Kategorien soll auf den Sachverhalt verwiesen werden, dass es sich beim biografischen Ansatz der Demenzpflege nicht nur um vergangenheitsbezogene Aspekte aus der Lebensphase vor Ausbruch der Erkrankung handelt, sondern auch um die unmittelbare Gegenwart, die Lebensphase im Krankheitszustand.

Altbiografie bzw. Biografieorientierung

Die Lebensgeschichte in Gestalt der episodischen und episodisch-prozeduralen Langzeitgedächtnisinhalte besitzt für die Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium bedeutsame Wirkkraft. Die Lebensgeschichte ist nämlich aufgrund des fehlenden Realitätsfilters im Frontallappen der Großhirnrinde sowohl Vergangenheit als zugleich auch Gegenwart (Schnider 2012, siehe Blog 8). Diesem Umstand entsprechend ist im Rahmen des Blogs Demenzpflege auf die Biografieorientierung als ein Kernelement der Demenzpflege bereits ausführlich eingegangen worden:

  • Blog 8 – beeinflussbare spontane Desorientierungsphänomene
  • Blog 11 – belastende Erinnerungen
  • Blog 12 – zwangsähnliches Desorientierungsverhalten
  • Blog 13 – Schlüsselreize
  • Blog 16 – Umgang (u. a. Jargon und „Demenz-Du“)
  • Blog 31 – Prägungen, Gewohnheiten
  • Blog 26 – Pflegeprinzipien: biografische Stetigkeit
  • Blog 36 – biografische Aspekte bei der Pflegeverweigerung
  • Blog 39 – biografische Verwechselung
  • Blog 55 – Ersatz- und Surrogatstrategien
  • Blog 56 – Vertraute Handlungsmuster
  • Blog 63 – Milieusensibilität: biografische Vertrautheit

Bedeutsam für das Themenfeld Furchtsymptomatik ist der Sachverhalt, dass die hier angeführten biografisch bezogenen Verhaltensweisen und auch Umgangsformen in der Pflege und Betreuung Berücksichtigung finden müssen, um Furcht- und Stresssymptome zu vermeiden bzw. deutlich zu vermindern. Die Furchtsymptome lassen sich bezogen auf die Herkunft (Altbiografie) somit zugleich als „vergangenheitsbezogene Furchtsymptome“ bezeichnen.

Neubiografie bzw. Stetigkeit, Konditionierung und Ritualisierung

Während bei der Altbiografie die Langzeitgedächtnisinhalte die Richtung vorgeben, an die es bei der Pflege und Betreuung anzuknüpfen gilt, geht es bei der Neubiografie darum, durch ständige Konditionierung und Ritualisierung erst eine Biografie in der Gegenwart aufzubauen. Die Gestaltung und damit der Aufbau einer Neubiografie ist somit ähnlich wie der Bezug auf die Biografie vor der Erkrankung ein Kernelement der Demenzpflege und Demenzbetreuung. Wie in Blog 90 bereits angeführt, gilt es bei der Neubiografie, die vielschichtige Umwelt bei den Demenzkranken zu verinnerlichen. Die Außenwelt in Gestalt aller Reizgefüge gilt es Schritt für Schritt zu Elementen der Innen- oder Binnenwelt zu konfigurieren. Neurophysiologisch geschieht dies durch Abspeicherung und Konsolidierung dieser Gedächtnisspuren (Engramme) in den entsprechenden Hirnarealen. Wenn es gelungen ist, alle wesentlichen Impulse und damit Reizgefüge zu Langzeitgedächtnisinhalten werden zu lassen, dann sind Außenwelt und Innenwelt miteinander verknüpft. In diesem Fall ist dann auch der Zustand der Vorhersehbarkeit des wesentlichen Geschehens im unmittelbaren Umfeld erreicht worden. Und mit dieser Gegebenheit der Vertrautheit mit den Reizgefügen der Außenwelt ist der wesentliche Versorgungsauftrag bezogen auf die Vermeidung von Furcht und Unruhe erfüllt. In Blog 3 und Blog 26 sind die Kernelemente des Vorgehens zwecks Erstellung einer Neubiografie angeführt:

  • Personale Stetigkeit: Vertrautheit mit den Mitarbeitern (Bezugs- oder Gruppenpflege) und mit deren Unveränderlichkeit ihres Äußeren (u. a. Frisur, Kleidung).
  • Handlungsstetigkeit bei der Pflege und Betreuung und Stetigkeit in der Tagesstruktur: Ritualisierung allen Geschehens.
  • Milieustetigkeit: Unveränderlichkeit der räumlichen Umwelt.

Die Gestaltung der Neubiografie mittels Konditionierung und Ritualisierung bedeutet somit zugleich Eingewöhnung in den Heimalltag, vertraut werden mit den sozialen und räumlichen Gegebenheiten, die für Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium lebensnotwendig sind. Andernfalls droht frühzeitiger Tod durch permanenten Überstress (Fremdheitssyndrom: u. a. „exceeded disabilities“ und Schockstarre).

Konsequenzen für die Praxis

Der Handlungs- und auch Orientierungsrahmen der Demenzpflege wird von zwei Dimensionen oder Scharnieren gehalten: der Stetigkeit der Gegenwart (Neubiografie: Konditionierung und Ritualisierung) und der Stetigkeit der Vergangenheit (Altbiografie: Biografieorientierung). Diese zweifache Stetigkeit ist das wesentliche Kernelement der Demenzwelt und damit auch Demenzweltgestaltung. Neu- und Altbiografie sind somit für jede stationäre Pflegeeinrichtung, die Demenzkranke zu ihrer Bewohnerschaft zählt, Pflicht und Standard zugleich (Blog 26).

Literatur

  • Bandelow, B. et al. (2006) Angst – Neurobiologie. In: Förstl, H.; Hautzinger, M.; Roth, G. (Hrsg.) Neurobiologie psychischer Störungen (484-521). Heidelberg: Springer Medizin Verlag
  • Gutzmann, H. et al. (2005) Demenzielle Erkrankungen. Medizinische und psychosoziale Interventionen. Stuttgart: Kohlhammer Verlag
  • Häussermann, P. (2018) Behandlung mit Psychopharmaka. In: Jessen, F. (Hrsg.) Handbuch Alzheimer-Krankheit. Berlin: Walter de Gruyter (449-483)
  • Kitwood, T. (2000) Demenz. Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Müller-Hergl, C. (2009) Stress rechtfertigt keine Lügen. Pflegen: Demenz 4 (11) 30-32
  • Roth, G. et al. (2006) Funktionelle Neuroanatomie des limbischen Systems. In: Förstl, H.; Hautzinger, M.; Roth, G. (Hrsg.) Neurobiologie psychischer Störungen (1-74). Heidelberg: Springer Medizin Verlag
  • Schnider, A. (2012) Konfabulationen und Realitätsfilter. In: Karnath, H.-O. und Thier, P. (Hrsg.) Kognitive Neurowissenschaften, Berlin: Springer (567 – 572)

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