Das Lernen der Demenzkranken (Teil 3)

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Das Lernen der Demenzkranken (Teil 3) ist der Inhalt des 90. Blogs. Es wird das Konzept der Vorhersehbarkeit als Ziel des Gewohnheitslernens erläutert.

Vorbemerkung

In Blog 89 ist der Sachverhalt beschrieben worden, dass im fortgeschrittenen Stadium Vertrautes und Gewohntes die soziale und räumliche Umwelt bestimmen sollte. Neue Impulse wie fremde Menschen verunsichern, denn ähnlich Kleinkindern entwickeln Demenzkranke eine Furcht vor fremden Personen. Sie fangen wie Kleinkinder an zu fremdeln (Siegler et al. 2016: 359f, siehe auch Blog 72). Unruhe, Schreien und auch Flucht sind dann die entsprechenden Reaktionen (Cohen-Mansfield et al. 1990).

Furcht bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium ist wie bei kleinen Kindern eine neurophysiologisch bzw. neuropathologische Gegebenheit, denn Emotionen können in diesem Krankheitsabschnitt nicht mehr angemessen kontrolliert werden. Der oben angeführte Reizimpuls „Wahrnehmung einer fremden Person“ z. B. aktiviert die Furchtregion im limbischen System (Amygdala u. a.). Es bedarf hier des Hinweises, dass jeder Außenreiz durch das limbische System Hippocampus und Amygdala erfasst und zugleich auch hinsichtlich seiner Bedeutung klassifiziert wird. Das Problem im fortgeschrittenen Stadium besteht nun aus dem Sachverhalt, dass die Amygdala als Gefahrenklassifikationsinstitution ihre ergänzenden Regulierungskompetenzen des Großhirns verloren hat, die als Schutz-, Puffer- und damit zugleich auch Beruhigungsfunktionen dienen (siehe Blog 37). Konkret bedeutet diese abbaubedingte Großhirneinbuße, dass die Furchtregion Amygdala immer gleich Gefahr und damit Furcht und Unruhe signalisiert, wenn sie einen Impuls nicht mit dem Vertrauten abzugleichen vermag.

Umgangssprachlich ausgedrückt kann man sich diesen Vorgang wie folgt vorstellen: die entfesselte und damit unkontrollierte Amygdala ordnet jeden nicht bekannten Außenreiz der Rubrik Gefahr zu und schaltet damit automatisch den Panikmodus an. Dadurch entstehen Unruhe und Furcht. Bei dieser äußerst explosiven Konstellation kommt es nun darauf an, möglichst alle Außenreize für das Hirn und damit auch für die übersensibel reagierende Amygdala vertraut zu machen, denn auf bereits bekannte Impulse erfolgt keine Reaktion. Die Reize bleiben hierbei umgangssprachlich unter dem Radar. Diese Form der Gewöhnung oder Habituation, die einfachste Form des Lernens, wurde bereits im pränatalen Stadium der Humanentwicklung festgestellt (Siegler et al. 2016: 49).

Im Folgenden wird anhand der Konzeption Vorhersehbarkeit dargelegt, wie im Rahmen der Demenpflege und Demenzbetreuung sich eine größtmögliche Gestaltung der sozialen und räumlichen Umwelt bewerkstelligen lässt.

Vorhersehbarkeit

Die Optimierung der Einbindung Demenzkranker in das soziale Geschehen des näheren Umfeldes wie z. B. in den Wohnbereich im Heim vollzieht sich durch Anpassungs- und Vereinfachungsstrategien in Gestalt von Verstetigung oder Ritualisierung allen interaktiven Geschehens. Durch immer wiederkehrende Handlungen vertrauter Personen lernen die Demenzkranken Schritt für Schritt die Handlungsabläufe und damit den Alltag. Diese Vorgehensweise wird als Konditionierung bezeichnet: die Verinnerlichung äußerer Reizgefüge durch ständige Wiederholungen. Wenn nun das Äußere verinnerlicht ist – die Personen, die Handlungsschritte und die Örtlichkeiten – dann kann von der Gegebenheit der Vorhersehbarkeit allen Geschehens ausgegangen werden. Die Betroffenen wissen nun um die auf sie zukommenden Handlungen, sie haben damit zugleich ein Empfinden von Zukunft. Für die Pflege und Betreuung ist dies von großer Bedeutung, denn hierdurch wird das Zusammenwirken von Pflegenden und Demenzkranken oft erst ermöglicht oder erleichtert.

Pflegeermöglichung durch Vorhersehbarkeit

In Blog 28 sind anhand von konkreten Fallbeispielen verschiedene Formen der Pflegeermöglichung und Pflegeerleichterung mittels Strategien der Konditionierung dargestellt, die nachfolgend teilweise nochmals angeführt werden.

Pflegeermöglichung aufgrund der Handlungsstetigkeit (Ritual)

Beispiel 1: Eine Pflegende berichtete, dass sie vor der Morgenpflege immer dieselben Handlungsschritte vollführt: Begrüßung der Bewohnerin, ans Fenster gehen und die Vorhänge öffnen, anschließend in die Nasszelle und für die zu Pflegende sichtbar und hörbar die Waschutensilien zusammenstellen, mit der Waschschüssel plus Waschlappen etc. ans Bett treten, um anschließend mit dem Entkleiden zu beginnen. Bei einer guten Tagesform beobachtet sie, dass die Demenzkranke sich bereits in Erwartung der Pflegehandlung aufgerichtet und auf die Bettkante gesetzt hat (Persönliche Mitteilung).

Der Sachverhalt, dass durch die Ritualisierung der Pflegehandlung das Zusammenarbeiten von Pflegenden und Demenzkranken bei diesem Geschehen deutlich verbessert werden kann, konnte bereits empirisch nachgewiesen werden (Sachweh 2008: 227). Ebenso haben Untersuchungen gezeigt, dass bei Abweichungen von vertrauten Handlungsroutinen die Demenzkranken verunsichert und verstört reagierten (Skovdahl et al. 2003).

Pflegeermöglichung aufgrund der Kommunikationsstetigkeit

Beispiel 2: Bei einer verunsicherten und pflegeabweisenden Bewohnerin trat die Pflegende immer das vertraute Lieblingslied singend ans Bett. Die Demenzkranke fiel in den Gesang ein und wurde dabei gepflegt (Persönliche Mitteilung).

Dieses Beispiel zeigt zweierlei. Erstens, dass vertraute Handlungen gemäß der Vorhersehbarkeit des Geschehens den Beginn der folgenden Handlungen ankündigen. Und zweitens, dass das Lieblingslied zugleich auch von der belastenden Pflegehandlung ablenkt. Der hier angeführte ritualisierte Gesang fungiert somit nicht nur als Vorbereitungsphase, sondern wirkt zugleich auch als Ablenkungs- und Entspannungsfaktor (siehe Blog 14 und Blog 17).

Pflegeermöglichung aufgrund vertrauter Gegenstände

Beispiel 3: Pflegende berichten wiederholt, dass seltenere Pflegeprozeduren wie das Baden oft den Einsatz von zusätzlichen Verstärkungsstrategien bedarf, um den Demenzkranken das Erfassen der Handlungssituation zu ermöglichen. Meist werden hierbei lebensgeschichtlich vertraute Utensilien wie der alte Bademantel, der bekannte stark riechende Badezusatz und auch der eigene Waschlappen verwendet (Lind 2011: 154).

Das Zeigen vertrauter Gegenstände aus dem Bereich der Körperhygiene als Auslöseimpuls zu nutzen, ist in der Demenzpflege geläufiges Alltagsgeschäft, wie verschiedene Untersuchungen belegen (Miller 1994, Cohen-Mansfield et al. 2006, Camp 2015:87).

Vorhersehbarkeit als optimale Umweltgestaltung

Die Beispiele zeigen recht deutlich, dass die Vertrautheit mit den Reizen der unmittelbaren Umgebung verhindert, dass der Stressmodus in den angeführten Fällen aktiviert wird. Die Person-Umwelt-Passung lässt sich somit bei diesen Gegebenheiten auch im schweren Stadium der Erkrankung herstellen und aufrechterhalten. Binnenwelt und Außenwelt sind konfliktfrei miteinander verbunden. Und der Weg hierzu besteht aus ständiger Konditionierung und damit auch Ritualisierung. Dabei handelt es sich um Kernelemente der Demenzpflege, die in allen Einrichtungen zum Pflichtprogramm zählen sollten. Denn nur mittels dieser Vorgehensweisen lässt sich eine angemessene Demenzwelt gestalten.

Literatur

  • Camp, C. J. (2015) Tatort Demenz – Menschen mit Demenz verstehen. Bern: Hogrefe Verlag
  • Cohen-Mansfield, J. et al. (1990) Screaming in nursing home residents. Journal of the American Geriatrics Society, 38: 785 -792
  • Cohen-Mansfield. J. et al. (2006) Do interventions bringing current self-care practices into greater correspondence with those performed premorbidly benefit the person with dementia? A pilot study. American Journal of Alzheimer`s Disease & Other Dementias. 21 (5): 312-317
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Miller, R. I. (1994) Managing disruptive responses to bathing by elderly residents. Journal of Gerontological Nursing, 20 (11): 35–39
  • Sachweh, S. (2008) Spurenlesen im Sprachdschungel. Kommunikation und Verständigung mit demenzkranken Menschen. Bern: Verlag Hans Huber
  • Siegler, R. et al. (2016) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer
  • Skovdahl, K. et al. (2003) Different attitudes when handling aggressive behaviour in dementia – narratives from two caregiver groups. Aging and Mental Health, 7 (4): 277-286

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