Die Realitätsverkindlichung (vorläufiger Arbeitsbegriff) bei Demenzkranken ist der Inhalt des 72. Blogs. Es wird die Begrifflichkeit anhand demenzspezifischer Verhaltensweisen erläutert.
Vorbemerkungen
Der Blog Demenzpflege dient u. a. dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren. In diesem Zusammenhang wird der Begriff „Realitätsverkindlichung“ (vorläufiger Arbeitsbegriff – eine Wortschöpfung des Bloggers – Sven Lind) eingeführt, um bestimmte demenzspezifische Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen begrifflich und damit verallgemeinernd zu erfassen. Ursprünglich wurde die Begrifflichkeit „kleinkindähnliches Realitätsempfinden“ diesbezüglich in Erwägung gezogen, doch diese Kategorie erscheint einerseits zu sperrig und andererseits zu einschränkend, da mit „Kleinkind“ die Entwicklungsphasen „Säugling“ und „Kind“ als weitere Entwicklungsphasen der Hirnreifung als Referenzalter für das Verhalten Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium ausgeschlossen sind.
Was trennt nun die Realitätsverkindlichung inhaltlich von dem Realitätsverlust (siehe Blog 70) und der Realitätsverzerrung (siehe Blog 71)? Die Realitätsverkindlichung ist das allgemeine Grunderleben der äußeren und inneren Reizgefüge im schweren Stadium, sieht man von selten auftretenden „luziden Episoden“ einmal ab. Die Realitätsverkindlichung ist somit der Dauerzustand im fortgeschrittenen Stadium (überwiegend Stadium 6 der Reisberg-Skalen). Realitätsverluste und Realitätsverzerrungen hingegen treten hingegen eher gelegentlich durch äußere und innere Impulse hervorgerufen auf.
Was sind die Gemeinsamkeiten von Realitätsverkindlichung, Realitätsverlust und Realitätsverzerrung bei Demenzkranken? Diese demenztypischen und krankhaften Bewusstseins- und Empfindungsgegebenheiten sind Folgen des neurodegenerativen Abbauprozesses, der als eine krankhafte Rückentwicklung entgegengesetzt der Hirnreifung bezeichnet werden kann. Demenzkranke befinden sich im schweren Stadium in der Wahrnehmungs-, Erlebens- und Empfindungswelt, die der Erlebenswelt eines Kleinkindes stark ähnelt. In diesem Zusammenhang wurde der Begriff Retrogenese von Barry Reisberg für diesen krankhaften Rückentwicklungsprozess bei der Alzheimerdemenz eingeführt. Dieser Sachverhalt ist empirisch mittels der neurowissenschaftlichen und neuropathologischen Forschung belegt und somit Stand der Forschung: u. a. Reisberg-Skalen und Braak-Stadien (Reisberg et al. 1999, Braak et al. 1991, Boetsch et al. 2003: 78, Lind 2007: 25ff, Lind 2011: 38f) (siehe Blog 1 und Blog 32).
Im Folgenden wird u. a. anhand von Beispielen und Verweisen auf die neurowissenschaftliche Ursachen die Begrifflichkeit Realitätsverkindlichung einleitend erläutert.
Realitätsverkindlichung
Verhaltens- und Reaktionsweisen aus dem Themenfeld Realitätsverkindlichung weisen Parallelen zu kleinkindähnlichen Verhaltensmustern auf. Hochbetagte verhalten sich im Umgang miteinander und mit den Mitarbeitern oft wie kleine Kinder, da die Fähigkeiten zu einem überlegten und einsichtsfähigen Verhalten aufgrund des neurodegenerativen Abbaus verloren gegangen sind. Die folgenden Verhaltensweisen belegen diesen Sachverhalt. Es kann in diesem Zusammenhang von der Ähnlichkeit mit einer kindlichen Naivität gesprochen werden. Im Folgenden werden einige Beispiele für den Sachverhalt Realitätsverkindlichung angeführt, die bereits in vielen Blogs dargestellt wurden.
Das Sicherheitsbedürfnis
Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium fühlen sich oft unsicher, wenn sie mit neuen äußeren Reizgefügen konfrontiert werden. Es können fremde Personen, neue Milieuelemente oder auch nur neue Umgangsformen bei der Pflege und Betreuung sein, die die Betroffenen geistig und damit zugleich auch gefühlsmäßig überfordern. Sie geraten hierbei leicht in ein Stress- und Unruheverhalten. Die folgenden Verhaltensweisen treten dann hierbei auf.
Das Fremdeln
Ähnlich Kleinkindern entwickeln Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium regelrecht eine Furcht vor fremden Personen. Etwas Fremdes verursacht umgehend Furcht und Unbehagen. Schreien und Flucht sind dann die entsprechenden Reaktionen (Cohen-Mansfield et al. 1990). In Blog 37 wird gezeigt, dass diese Furcht auch bei der Pflege zu beobachten ist. Wenn z. B. eine dem Demenzkranken nicht vertraute Pflegeperson sich dem Nah- und Intimbereich nähert, um eine Pflegehandlung zu beginnen. Meist wird hier mit Pflegeverweigerung und Rückzug reagiert (Athlin et al. 1987). In diesen Fällen ist die personale Stetigkeit das Grundprinzip in der Pflege Demenzkranker (siehe Blog 26).
Fehlende Objektpermanenz
Die fehlende Objektpermanenz bei Kleinkindern bedeutet das Unvermögen, äußere Außenreize wie z. B. die Bezugsperson Mutter im Langzeitgedächtnis abzuspeichern bzw. zu verinnerlichen. Sieht das Kind die Mutter nicht, fängt es vor sofort vor Furcht (Trennungsangst) an zu schreien. Ähnlich verhalten sich auch Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium, wenn sie allein sind. Sie leiden dann auch unter der Trennungsangst und reagieren entsprechend. Aus Furcht vor dem drohenden Alleinsein laufen sie dann ihren Bezugspersonen (Angehörige oder Pflegende) ständig hinter her (Lind 2007:33) (siehe Blog 2 und Blog 52).
Nähe suchen
In Blog 60 wird aufgezeigt, dass Demenzkranke ähnlich wie Kleinkinder ein starkes Bedürfnis haben, im Nahbereich der Pflegenden zu sein. So ist oft beobachtet worden, dass Bewohner den Pflegenden bei der Verrichtung pflegeferner Handlungen wie Dokumentation, Medizin stellen oder Telefonate führen beobachten und teilweise auch versuchen, hierbei Kontakt aufzunehmen. Dies geschieht u. a. durch Winken, Ansprechen, Berühren und Streicheln. Dieses Verhalten kann dahingehend interpretiert werden, dass es für die recht hilflosen und unselbstständigen Bewohner von großer Bedeutung ist, ihre Hauptbezugspersonen im Nahbereich erleben zu dürfen. Die Erfahrung, diese wichtigen Personen sehen, hören und eventuell auch berühren zu können, vermittelt ihnen die Gewissheit, nicht allein und damit ungeschützt zu sein (Lind 2007: 61 und 195, Röse 2017: 267f).
Egozentrizität
In Blog 60 wird das Faktum Realitätsverkindlichung anhand des egozentrischen Verhaltens bei Demenzkranken erläutert, das parallel auch bei Kleinkindern beobachtet wird (Siegler et al.2016: 125). Egozentrizität besagt, dass die Betroffenen alles Geschehen ihrer unmittelbaren Umwelt nur noch aus ihrer eigenen Sicht wahrnehmen und bewerten können. Das heißt zugleich, dass die Demenzkranken abbaubedingt nicht mehr über die psychosoziale Fähigkeit verfügen, sich in die Mitmenschen einzufühlen. Sie haben somit ihr Einfühlungsvermögen verloren. Die folgenden Verhaltensweisen zeigen das Spektrum egozentrischen Verhaltens im fortgeschrittenen Stadium.
Kleinkindähnliches Verhalten
In Blog 35 und Blog 60 wird der Sachverhalt veranschaulicht, dass Demenzkranke im schweren Stadium (Reisbergskalen Stadium 6) auf das Entwicklungsstadium eines 2 bis 4jährigen Kindes rückentwickelt sind (Reisberg et al. 1999). In der geistigen und emotionalen Erfassung und Verarbeitung der Reizgefüge sind sie nun krankhaft verkindlicht. Die folgenden kleinkindähnlichen Verhaltensweisen sind Belege für das Erlebensspektrum Realitätsverkindlichung:
- Tätlichkeiten wie Schlagen oder Schubsen, teils ohne Anlass (Camp 2015: 66, Rühl 2012: 23)
- Schimpfen und Bedrohungen (Rühl 2012)
- Mitbewohnern Gegenstände wegnehmen (Röse 2017: 287)
- Gegenstände teils in Wut auf den Boden werfen oder vom Tisch fegen (Camp 2015: 78ff, Stoffers 2016: 208)
- Gewaltausbrüche ohne Anlass (Stoffers 2016: 207)
- Reflexartiges Nachahmungsverhalten (u. a. Aufstehen, Wandern und Schreien)
- Revierkonflikte um Sitzplätze und Bewohnerzimmer mit Schimpfereien und Handgreiflichkeiten (persönliche Mitteilungen)
- Mitbewohner anzuherrschen, sich hinzusetzen und ruhig zu sein (Baker 2016)
- Puppen und Kuscheltiere hegen und pflegen
- Trotzverhalten wie Zunge herausstrecken und ähnliches
Damit keine Missverständnisse dahingehend entstehen, dass das Miteinander der Demenzkranken nur aus den hier angeführten Verhaltensweisen bestehe, wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass Demenzkranke oft auch prosoziales Verhalten zeigen. Sie helfen sich z. B. beim Brötchen schmieren, die Jacke oder Schuhe anziehen; sie weisen sich Plätze zu und schenken sich bei Tisch ein; sie machen auch vieles gemeinsam wie Herumwandern oder am Tisch sitzen. Sie trösten sich und sprechen sich gegenseitig Mut zu (Röse 2017: 271ff). Und sie führen ihre „Demenzgespräche“ (Lind 2007: 172f, Röse 2017: 253) (siehe Blog 60).
Literatur
- Baker, C. (2016) Exzellente Pflege von Menschen mit Demenz entwickeln. Bern: Hogrefe.
- Boetsch, T. et al. (2003) Klinisches Bild, Verlauf und Prognose (mit Fallbeispielen). In: Hampel. H.; Padberg, F. & Möller, H.-J. (Hrsg.): Alzheimer-Demenz (73-98). Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.
- Braak, H. et al. (1991) Neuropathological staging of Alzheimer-related changes. Acta Neuropathologica, 82: 239-259.
- Camp, C. J. (2015) Tatort Demenz – Menschen mit Demenz verstehen. Bern: Hogrefe Verlag.
- Cohen-Mansfield, J. et al. (1990) Screaming in nursing home residents. Journal of the American Geriatrics Society, 38: 785 -792.
- Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber.
- Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber.
- Reisberg, B. et al. (1999) Toward a science of Alzheimer’s disease management: a model based upon current knowledge of retrogenesis. International Psychogeriatrics, 11 (1): 7-23.
- Röse, K. M. (2017) Betätigung von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim. Bern: Hogrefe.
- Rühl, M. (2012) Ich muss in die Schule! Geschichten aus der Welt der Demenz. Hannover: Schlütersche Verlagsgesellschaft.
- Siegler, R. et al. (2016) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer.
- Stoffers, T. (2016) Demenz erleben: Innen- und Außensichten einer vielschichtigen Erkrankung. Wiesbaden: Verlag Springer
Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Kontaktformular). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.
Dr. phil., Diplom-Psychologe, geboren am 21.09.1947 in Marburg/Lahn.
Dieser Blog dient dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren.
Alles was ich hier gelesen habe trifft zum größten Teil auf meinen an schwerer Demenz
erkrankten Mann zu. Ich habe nur kürzlich etwas erlebt das mich sehr überrascht hat
denn ich dachte er versteht es gar nicht mehr wenn es mir schlecht geht. Ich habe
ihm die Tabletten gegeben, die er wie üblich ausgespuckt hat. Dann habe ich mehr
zu mir gesagt, weil ich keine Reaktion erwartet habe: Jetzt weiß ich auch nicht mehr
was ich machen soll Du must doch die Tabletten nehmen. Er hat wohl meine Verzweif-
lung mitbekommen und die ausgespuckten Tabletten vom Tisch aufgehoben und
geschluckt.
Vielen Dank für Ihre Falldarstellung. Es handelt sich hierbei um eine so genannte „luzide Episode“, die im schweren Stadium der Erkrankung auftreten kann. „Luzide Episoden“ sind in der Regel relativ kurzfristige Phasen, in denen die Demenzkranken geistig völlig klar sind. Erklärt werden kann dieser Sachverhalt gegenwärtig weder hirnphysiologisch noch hirnpathologisch, da das Wissen über das zentrale Nervensystem noch äußerst beschränkt ist.