Realitätsverluste bei Demenzkranken

Geschätzte Lesedauer: 4 Minuten

Realitätsverluste bei Demenzkranken ist der Inhalt des 70. Blogs. Es wird zusammenfassend ein Überblick über die verschiedenen Formen der Realitätsverluste gegeben.

Vorbemerkungen

In Blog 69 wurde darauf verwiesen, dass Pflegende und Betreuende gezielt Beeinflussungsstrategien zur Behandlung von Belastungs- und Unruhezuständen praktizieren. Bevor die Umgangsformen im Einzelnen hinsichtlich ihrer Entstehung eingehend analysiert werden, scheint es angebracht, das Spektrum der bereits in verschiedenen Blogs angeführten Realitätsverluste und Realitätsverzerrungen bei Demenzen nochmals zusammenfassend darzustellen. Hierbei werden unterschiedliche Klassifizierungsformen zur Veranschaulichung verwendet. Des Weiteren wird nochmals auf die neurophysiologischen und neurodegenerativen Ursachen dieser demenzspezifischen Krankheitssymptome verwiesen.

Unterschiedliche Formen von Realitätsverlusten

Neurodegenerative Abbauprozesse führen bei Demenzen zu Minder- und Fehleistungen in der Verarbeitung innerer und äußerer Reizgefüge. Für die Pflege und Betreuung ist es wichtig, die verschiedenen Formen von Realitätsverlusten zu kennen, um angemessen zum Wohle der Betroffenen hierauf reagieren zu können. In vielen Blogs sind diese Krankheitsphänomene bereits praxisnah anhand von Fallbeispielen mitsamt den wirksamen Umgangsstrategien dargestellt worden. In diesem Blog werden diese verschiedenen Formen von Realitätsverlusten bei Demenzerkrankungen nochmals kurz und zusammenfassend angeführt.

Desorientierungsphänomene

Zur Symptomatik demenzieller Erkrankungen gehören verschiedene Formen von Desorientierungsphänomenen, die sich in Störungen des Raum-Zeit-Gitters zeigen. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen geradezu miteinander. Langzeitgedächtnisinhalte werden z. B. für die Realwelt gehalten und führen oft zu einem schweren Belastungserleben. Die folgenden Desorientierungsphänomene sind bereits einführend beschrieben worden.

Die beeinflussbare spontane Desorientierung

In Blog 8 sind Beispiele für die Krankheitssymptomatik der beeinflussbaren spontanen Desorientierung (vorläufiger Arbeitsbegriff) angeführt worden. Es handelt sich hierbei um eine Verzerrung des raumzeitlichen Gefüges auf der Grundlage episodischer Langzeitgedächtnisinhalte (Lind 2007: 171f, Lind 2011: 114f).

Das zwangsähnliche Desorientierungsverhalten

In Blog 12 sind Beispiele für die Symptomatik eines zwangsähnlichen Desorientierungsverhalten (vorläufiger Arbeitsbegriff) angeführt. Dabei handelt es sich um Verhaltensweisen, die einerseits an beeinflussbare spontane Desorientierungsphänomene erinnern, andererseits auch Ähnlichkeiten mit stereotypen Verhaltensautomatismen besitzen. Es sind biografisch bedingte Verhaltensmuster verbunden mit einem zwanghaften Drangverhalten, das jedoch ohne Hilfestellung Dritter nicht stresslösend ausagiert werden kann (Lind 2007: 77, Lind 2011: 119f).

Halluzinationen

Bei Halluzinationen handelt es sich um Eigenproduktionen des Gehirns ohne Mitwirkung von Außenreizen, die von den Sinnesorganen erfasst werden. Halluzinationen treten u. a. bei psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen (u. a. Schizophrenie und Epilepsie), Delir, sensorischer Deprivation und Schlafentzug auf. Bei der Alzheimerdemenz werden Halluzinationen im fortgeschrittenen Stadium verstärkt beobachtet.

Wahnhafte Halluzinationen

In Blog 9 wird die Symptomatik wahnhafte Halluzination anhand von Beispielen erläutert. Die Symptome unterscheiden sich teils recht stark hinsichtlich ihres Belastungsgrades von anderen Halluzinationsformen. Bei einer wahnhaften Halluzination ist das Trugbild somit meist mit den Aspekten Bedrohung und Furcht verknüpft. Dies führt zu einem massiven psychophysischen Stress (Lind 2007: 51 und 181, Lind 2011: 212f).

Halluzinationen mit Belastungscharakter

In Blog 10 werden Beispiele von Halluzinationen beschrieben, die von den Demenzkranken als Beeinträchtigung und somit als Belastung empfunden werden, bei denen ein Eingreifen zum Wohle der Demenzkranken erforderlich ist (Lind 2007: 180, Lind 2011: 210).

Halluzinationen ohne Belastungscharakter

Ebenfalls in Blog 10 wird u. a. an einem Beispiel der Sachverhalt aufgezeigt, dass es bei Demenzkranken auch Halluzinationen ohne jedwedes Belastungsempfinden beobachtet wurden. Bei diesen Halluzinationen wird in der Regel nicht interveniert (Lind 2011: 208).

Stabilisierungshalluzinationen

Bei den „Stabilisierungshalluzinationen“ oder den „positiven Halluzinationen“ (vorläufige Arbeitsbegriffe) handelt es sich um Trugbilder, die vorrangig der psychischen Stabilisierung der Betroffenen dienen (siehe Blog 5 und Blog 10) (Lind 2007: 51, Lind 2011: 208).

Wahnhafte Verkennungen

In Blog 19 und in Blog 68 werden Symptome des Realitätsverlustes als wahnhafte Verkennung beschrieben. Bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium „schaltet“ das Gehirn in Überstresssituationen auf wahnhafte Verkennung der Situation im Sinne eines Realitätsverlustes um. Salopp ausgedrückt kann dies als ein Umkippen des Schalters im Hirn von Realitätsbezug hin zu Realitätsverlust (wahnhafte Verkennung) aufgrund psychischer Überforderung beschrieben werden (Lind 2007: 157, Lind 2011: 76).

Fehlwahrnehmungen

Bei Fehlwahrnehmungen handelt es sich um illusionäre Verkennungen eines Außenreizes. Sie werden unterschiedlich emotional nach dem jeweiligen Belastungsgrad von den Betroffenen verarbeitet. Die Betroffenen bedürfen dementsprechend bei diesen Fehldeutungen äußerer Reizgefüge zwecks Wiederherstellung des psychophysischen Gleichgewichts Unterstützung und Hilfestellung.

Fehlwahrnehmung mit Belastungscharakter

Wenn z. B. eine Demenzkranke die Kohlroulade für den Kopf eines toten Kindes oder einen Garderobenständer für eine bedrohliche Person hält, dann gilt es umgehend einzugreifen (Lind 2011: 211f) (siehe Blog 10).

Fehlwahrnehmung als Selbststabilisierung und als Therapeutikum

Wie in Blog 58 aufgezeigt wird, können Fehlwahrnehmungen auch als Verhaltensmuster einer unbewussten Selbststabilisierung interpretiert werden: z. B. das Flirten mit einem Waschlappen (Stoffers 2016), das Gespräch mit einer Plastikrose (Röse 2017: 259) oder mit einem am Haken hängenden Morgenmantel (Becker 1995). In Blog 47 wird beschrieben, dass die Dysfunktion der Wahrnehmung auch therapeutisch genutzt wird. So stellte man einer bettlägerigen Demenzkranken, die ständig und eindringlich um Zuwendung und Gesellschaft bat, einen Garderobenständer mit Mantel als sozialen Kontakt in die halboffene Tür.

Demenzspezifische Eingebungen

In Blog 11 wird die demenzspezifische Eingebung als ein weiterer Realitätsverlust angeführt. Es handelt sich hierbei um eine Handlungsabsicht auf der Grundlage eines vorhergehenden Schlafzustandes verbunden mit einem Traumerleben. Ähnlich wie bei der beeinflussbaren spontanen Desorientierung wird hier das Traumerleben als Realität aufgefasst. Das heißt, dass die Demenzkranken nach dem Erwachen das Traumerleben nicht als bloßen Traum auffassen, sondern als die reale Gegenwart (Lind 2007: 193, Lind 2011: 210).

Belastende Erinnerungen

In Blog 11 wird die Krankheitssymptomatik belastende Erinnerung beschrieben. Bei dieser Form eines Realitätsverlustes dringen ungefiltert und unkontrolliert Langzeitgedächtnisinhalte ins Bewusstsein und werden krankheitsbedingt als reale Gegebenheiten erlebt. Denn es fehlt bei ihnen der Realitätsfilter, der unbewusst die Unterscheidung zwischen Erinnerung und Gegenwart vollzieht. Wenn nun extrem belastende Erinnerungen ins Bewusstsein dringen, dann wird gleichzeitig auch der damit verbundene starke Leidensprozess reaktiviert (Lind 2011: 215).

Literatur

  • Becker, J. (1995) Die Wegwerf-Windel auf der Wäscheleine. Die Handlungslogik dementer alter Menschen verstehen lernen. Darmstadt: afw – Arbeitszentrum Fort- und Fortbildung im Elisabethenstift Darmstadt.
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber.
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber.
  • Röse, K. M. (2017 Betätigung von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim. Bern: Hogrefe.
  • Stoffers, T. (2016) Demenz erleben: Innen- und Außensichten einer vielschichtigen Erkrankung. Wiesbaden: Verlag Springer.

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