Die Analyse der Entstehung von Demenzpflegestrategien ist der Inhalt des 69. Blogs. Es wird einführend auf wesentliche Aspekte hingewiesen.
Nachtrag zu Blog 68
Bezüglich der Problemlagen primärer Empathie im Umgang mit Demenzkranken wie in Blog 68 angeführt, gilt es die Begleitumstände oder Rahmenbedingungen zu erläutern, die ein unbewusst ablaufendes einfühlendes Verhalten erlauben. Folgende Regeln sollten hierbei u. a. Berücksichtigung finden:
Eindeutigkeit
Jeder Kontakt im Nahbereich eines Demenzkranken sollte für die Person überschaubar, verständlich und nachvollziehbar erscheinen, um eine potentielle Überforderungssymptomatik mit wahnhafter Verkennung ausschließen zu können. Bei dem Schnürsenkel-Beispiel hätte die Pflegende verbal und durch Gesten auf ihre Handlungsschritte hinweisen sollen.
Verlangsamung
Da das Verarbeitungsvermögen bei Demenzkranken im mittelschweren Stadium bereits gravierend beeinträchtigt ist, bedarf es einer Anpassung an dieses eingeschränkte Leistungsvermögen. Da spontane Handlungen oft impulsiv und damit schnell vollzogen werden, sollte bei Kontakten mit Demenzkranken die verlängerte Anpassungszeit an die neue Situation berücksichtigt werden (siehe Blog 32).
Augenkontakt
Spontane Kontaktaufnahmen im unmittelbaren Nahbereich der Demenzkranken sollten möglichst mittels Augenkontakt hergestellt werden. Dies hat einen doppelten Effekt, denn einerseits wird die Aufmerksamkeit des Gegenübers gebunden, er bemerkt das vertraute Gesicht und ist hierdurch zusätzlich beruhigt. Andererseits kann die Pflegende und / oder Betreuende durch den Augenkontakt die Verarbeitung dieser Begegnung bei dem Demenzkranken deutlich ablesen. Ein beginnender Realitätsverlust hin zu einer wahnhaften Verkennung drückt sich meist in der Mimik aus. Der Blick wird starr und erhält eine auffallende Intensität. In diesem Moment kann noch reagiert werden, um einem tätlichen Angriff ausweichen zu können (siehe Blog 19).
Beruhigungselemente
Kontakte im unmittelbaren Nahbereich des Demenzkranken sollten vorsorglich neben dem Augenkontakt weitere Beruhigungselemente wie beruhigendes Zureden und sanftes Streicheln enthalten. Diese Handlungen können als psychosoziale Puffer bei wahnhaftem Verhalten wirken.
Erfahrungen
Ein wesentlicher Bestandteil stellt die Erfahrung im Umgang mit Demenzkranken allgemein und zusätzlich auch die Erfahrung mit dem einzelnen Bewohner selbst mit seinen persönlichen und lebensgeschichtlich geprägten Eigenschaften dar. Diese meist jahrelang erworbenen Kenntnisse über das Verhalten und die Reaktionsweisen dieser Personengruppe dringt in das Verhaltensspektrum der Pflegenden ein und beeinflusst somit zugleich ihr einfühlendes Verhalten.
Es kann zusammengefasst werden, dass bei unbewusst einfühlendem Verhalten (primäre Empathie) bei Demenzkranken aufgrund krankheitsspezifischer Symptome bestimmte Faktoren im Bereich der psychischen Belastungsobergrenzen zu beachten sind. Dies geschieht in der Regel meist wiederum unbewusst oder von selbst durch die jahrelange Erfahrung im Umgang mit dieser Bewohnergruppe (Lind 2011: 76f).
Vorbemerkungen
In Blog 67 und Blog 68 wurde aufgezeigt, dass für den Umgang mit Demenzkranken die angeborenen Verhaltensmuster unbewusst intuitives Verhalten und das Einfühlungsvermögen Grundvoraussetzungen für ein Miteinander mit dieser Personengruppe sind. Ohne Einfühlungsvermögen kann nicht demenzspezifisch gehandelt werden. In diesem Blog wird nun einleitend auf weitere Aspekte der Demenzpflege eingegangen.
Demenzpflegestrategien
Demenzpflegestrategien können als Umgangsformen klassifiziert werden, die mit dem Ziel entwickelt worden sind, krankheitsspezifische Gegebenheiten der Demenz im fortgeschrittenen Stadium zum Wohle der Erkrankten angemessen zu behandeln. Furcht, Unruhe, Realitätsverluste, wahnhafte Verkennungen und vieles mehr sind die Krankheitssymptome, die teils von inneren und teils von äußeren Reizimpulsen mit verursacht werden. Pflegende und auch Betreuende haben im Rahmen ihrer Pflege und Betreuung verschiedene Strategien selbst entwickelt, um dem Leiden und den Ängsten der Betroffenen Herr werden zu können. Das Besondere und zugleich auch das Herausragende hierbei ist der Tatbestand, dass diese Umgangsformen letztlich Eigenleistungen der Mitarbeiter sind. Diese Vorgehensweisen stehen in keinem Lehrbuch, sie sind auch nicht der Inhalt der Ausbildung oder Fort- und Weiterbildung gewesen.
Diesem Umstand entsprechend stellen sich verschiedene Fragen bezüglich der konkreten Entwicklung dieser Vorgehensweisen. Einiges lässt sich zwar auf intuitives Verhalten und einfühlenden Umgang zurückführen, doch diese angeborenen Verhaltens- und Empfindungsmuster allein können diese teils sehr diffizilen und komplexen Szenarien der Demenzweltgestaltung nicht erklären. Im Rahmen dieses Blogs wird in den folgenden Blogelementen daher der Versuch unternommen, Licht in das Dunkel dieser äußerst wirksamen Kreativität im Umgang mit Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium zu bringen. Aus der Sicht des Bloggers gilt es vordringlich darum, das Wissen um die Entstehung und den Verlauf dieser Strategien zu verallgemeinern, damit diese Vorgehensweisen für jeden praktikabel und damit verwendbar werden können.
Die folgenden Umgangsformen der Demenzpflege werden in den nächsten Blogs eingehender bearbeitet werden. Sie wurden ausgewählt, weil bei der Entwicklung dieser Beeinflussungsformen in der Regel mehrere Mitarbeiter beteiligt gewesen sein müssen. Diese Vorgehensweisen erfordern meist auf der Ebene einer Gruppe von Pflegenden eine gemeinsame Ideenentwicklung, Planung, Vorbereitung und auch Umsetzung. Es liegt somit ein kollektives Handeln als Teil der alltäglichen Praxis im Heimalltag vor. Und dieses gemeinsame Zusammenwirken bei der konkreten Gestaltung dieser Beeinflussungsformen geschieht vermutlich größtenteils während der Arbeit: bei Fallbesprechungen, Übergaben und Ähnlichem. Die folgenden Beeinflussungsstrategien werden in den nächsten Blogs eingehend unter dem Aspekt ihrer Entstehung analysiert. Sie lassen sich in die Rubrik Demenzweltgestaltung einordnen. Es handelt sich dabei um die Behandlung folgender Krankheitssymptome:
- Umgang mit zwangsähnlichem Desorientierungsverhalten (Lind 2007: 77, Lind 2011: 119f) (siehe Blog 12)
- Skalierungsstrategien (siehe Blog 5)
- Ersatz- oder Surrogatstrategien (Lind 2007: 197, Lind 2011: 205) (siehe Blog 54)
Dieser Blog dient dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren. Für die Entwicklung einer auf praktischen Erfahrungen und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Theorie einer Demenzpflege ist nicht nur der Tatbestand von Bedeutung, dass eine Reihe von wirksamen Beeinflussungsstrategien bereits praktiziert wird, die in vielen Blogs bereits dargestellt wurden. Ebenso wichtig ist auch der Sachverhalt, die genauen Umstände, die zur Entstehung dieser Konzepte beigetragen haben, genauer zu kennen.
Literatur
- Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber.
- Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber.
Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Kontaktformular). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.
Dr. phil., Diplom-Psychologe, geboren am 21.09.1947 in Marburg/Lahn.
Dieser Blog dient dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren.