Der Zusammenhang zwischen Verdinglichungs- und Vollständigkeitskonzept

Geschätzte Lesedauer: 3 Minuten

Das Vollständigkeitskonzept (vorläufiger Arbeitsbegriff) ist der Inhalt des 54. Blogs. Anhand von Beispielen werden u. a. die Ersatz- oder Surrogatstrategien angeführt.

Wenn das Hirn aufgrund eines neurodegenerativen Abbauprozesses Stück für Stück Funktion und Struktur verliert, dann löst sich zunehmend die Person-Umwelt-Passung auf: Vergangenheit und Gegenwart vermengen sich zu einer nicht beherrschbaren Realitätsverzerrung. Zusätzlich werden die Gegebenheiten der realen Umwelt aufgrund der vielseitigen Wahrnehmungsstörungen nicht mehr situationsgerecht erfasst und auch die Emotionen lassen sich nicht mehr kontrollieren. Unruhe und Furcht bestimmen dann das Gefühlsleben. Das Vollständigkeits- und Entfremdungssyndrom drückt diese Vielschichtigkeit an geistigen Defiziten und zugleich an den entsprechenden Leidensprozessen deutlich aus (Blog 53).

Verallgemeinerungsstrategien als Gemeinsamkeit

Viele Strategien und Umgangsformen zur Bewältigung dieser Leidensgegebenheiten sind bereits in den bisherigen Blogs dargestellt worden. Zuletzt wurde ausführlich das Verdinglichungskonzept als eine notwendige Beeinflussungsmodalität der Demenzpflege erläutert. Nun wird im Folgenden ein weiteres Konzept beschrieben, das zwar in engem Zusammenhang mit dem Verdinglichungskonzept steht, doch einige Eigenheiten spezifisch für die Bewältigung des Vollständigkeits- und Entfremdungssyndroms enthält. Es wird als Vollständigkeitskonzept (vorläufiger Arbeitsbegriff) bezeichnet. Gemeinsam ist beiden Konzepten, dass es sich hierbei um Verallgemeinerung von demenzspezifischen Umgangsformen handelt.

Kernfunktionen als Unterscheidungskriterien

Unterschiede zwischen dem Verdinglichungskonzept und dem Vollständigkeitskonzept bestehen in den folgenden Aspekten:

Das Verdinglichungskonzept legt den Schwerpunkt auf den Einsatz von Gegenständen (Außenreize) bei der Pflege und Betreuung zur Optimierung der Beeinflussung bei auftretenden Belastungen (Leiden mindern u. a. bei Realitätsverlusten, Pflege ermöglichen, Sicherheit und Wohlbefinden stabilisieren).

Das Vollständigkeitsprinzip beinhaltet Reaktionen auf Bedarfslagen der Demenzkranken bei Realitätsverlusten und Realitätsverzerrungen. Hier wird auf das innere Verlangen nach bestimmten Außenreizen (Inhalte des episodischen oder episodisch-prozeduralen Langzeitgedächtnisses) mittels konkreter Gegenstände reagiert. Im Zentrum stehen dabei Vorgehensweisen der Ersatz- oder Surrgatstrategien teils im Kontext der Demenzwelt- und Eigenweltgestaltung.

Das Vollständigkeitsprinzip

Bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium wird immer wieder beobachtet, dass sie nach vertrauten Personen und teils auch Orten ihrer Lebensgeschichte verlangen. Es kann ihnen nicht klargemacht werden, dass z. B. die Eltern oder der Ehepartner bereits verstorben sind. Erklärt werden kann dieser Realitätsverlust mit dem Sachverhalt, dass die Erinnerungen, die teils in Tagträumen wieder ins Bewusstsein dringen, aufgrund des fehlenden Realitätsfilters als reale Gegenwart aufgefasst werden (siehe u. a. Blog 8 und Blog 12).

Für die individuelle Eigenweltgestaltung des jeweilig Betroffenen bedeutet dies, die fehlenden Elemente aus dem Kontext der Erinnerungen durch verschiedene Vorgehensweisen und auch Gegenstände zu ersetzen, damit die Eigenwelt gemäß den Erinnerungen wieder vollständig wird. Neben den Ersatz – oder Surrogatstrategien (siehe weiter unten) haben sich teilweise auch Verdinglichungsstrategien für die Erklärung der Abwesenheit der ersehnten Person aus der Vergangenheit bewährt. Wenn z. B. eine Demenzkranke nach ihrem verstorbenen Ehemann verlangt, dann wird ihr ein fingierter Arztbrief gezeigt, aus dem hervorgeht, dass der Gatte noch weitere drei Wochen in einer Rehabilitationseinrichtung zubringen muss.

Ersatz- oder Surrogatstrategien

Ersatz – oder Surrogatstrategien bedeuten, für nachgefragte Personen und manchmal auch Haustiere und Örtlichkeiten der Lebensgeschichte, die ins Bewusstsein dringen, einen akzeptablen fiktiven Ersatz zu stellen. Es können Mitarbeiter, Puppen, Plüschtiere und manchmal auch nur Fotos sein, die den aufgeregten oder sich sorgenden Demenzkranken offeriert werden. Die folgenden Beispiele verdeutlichen das Spektrum an Lösungsstrategien, die relativ oft die erhoffte Wirkung bei den Betroffenen erzielen:

Mitarbeiter als Personenersatz

Manchmal verlangen Demenzkranke nach näheren Angehörigen wie Sohn oder Tochter. Hier schlüpfen dann oft Pflegende und Betreuende in die Rollen der gewünschten Personen. Manchmal wird auch nach Personen einer bestimmten Berufsgruppe wie Pfarrer, Arzt oder Polizist gefragt, die den Demenzkranken im Zustand eines Realitätsverlustes Hilfe und Unterstützung geben sollen. Auch hier nehmen dann Mitarbeiter teils mittels Verkleidung diese Positionen ein (Lind 2011: 261, Röse 2017: 304).

Foto als Personenersatz

Eine Demenzkranke weigerte sich, ohne ihren bereits verstorbenen Ehemann die Mahlzeiten einzunehmen. Daraufhin wurde ihr ein Foto des Verstorbenen auf den Tisch gestellt. Das Bild wurde als Ersatz akzeptiert (persönliche Mitteilung).

Puppe als Personenersatz

Eine Demenzkranke sorgte sich ständig voller Angst um ihren Sohn „Hans Holm“, den keiner bisher gesehen hatte. Da beruhigende Worte hier nichts nutzten und die Pflegenden selbst das Leiden kaum noch ertragen konnten, entschloss man sich, ihr eine Puppe mit den Worten „das ist dein Hans“ in die Hand zu drücken. Die Betroffene akzeptierte diese Lösung und hegte und pflegte von da an den ganzen Tag ihren „Hans“ (Lind 2011: 205).

Plüschtier als Haustierersatz

Eine Bewohnerin war ständig auf der Suche nach ihrem vermissten Hund „Lulu“. Sie machte sich regelrecht Sorgen um ihn. Daraufhin wurde gemeinsam mit einer Pflegenden „Lulu“ (ein Stoffhund) unter dem Bett gefunden. Das Stofftier wurde als das vermisste Haustier akzeptiert und damit angenommen (persönliche Mitteilung).

Orte

Es kommt vor, dass Demenzkranke ein starkes Verlangen nach einem vertrauten Ort wie ihrem alten Arbeitsplatz haben. Es wird dann das Bewohnerzimmer durch ein weiteres Möbelstück wie ein Schreibtisch zu einem „Büro“ umgewandelt, vielleicht noch mit eigener Schreibmaschine und bekannten Formularen und Stempeln (Lind 2007: 11).

Literatur

  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Röse, K. M. (2017 Betätigung von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim. Bern: Hogrefe

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