Das Vollständigkeitskonzept

Geschätzte Lesedauer: 4 Minuten

Gegenstände als Bestandteile des Vollständigkeitskonzepts (vorläufiger Arbeitsbegriff) sind der Inhalt des 55. Blogs. Des Weiteren werden Ergänzungen zu den Ersatz- oder Surrogatstrategien angeführt.

Vorbemerkungen

Das Vollständigkeitskonzept dient vorrangig dazu, Leidenszustände Demenzkranker zu mindern, die durch unkontrollierte und damit ungefilterte episodische Langzeitgedächtnisimpulse verursacht worden sind. In Blog 53 wurden die neurowissenschaftlichen Grundlagen dieser realitätsverzerrenden und stark belastenden Desorientierungsphänomene (das Vollständigkeits- und Entfremdungssyndrom) kurz angeführt. Vergessen hierbei wurde die Krankheitssymptomatik der „fehlenden Objektpermanenz“: das Unvermögen, vertraute äußere Reizimpulse nicht mehr abspeichern und dadurch verinnerlichen zu können, wie bereits in Blog 52 erwähnt. Wenn z. B. im häuslichen Bereich der pflegende Angehörige nicht mehr gesehen wird, geraten Demenzkranke in einen massiven Furchtzustand. Sie haben nun das Empfinden, völlig allein und damit hilflos zu sein und fangen oft an zu schreien. Um dieses Belastungserleben zu vermeiden, bleiben sie im Nahbereich der Nächsten, lassen sie somit nicht mehr aus den Augen. Um das ständige Beisammensein und teils Hinterherlaufen zu begrenzen, lassen die Pflegenden möglichst alle Türen offen, um gesehen werden zu können. Und sie reden laut bzw. singen, wenn sie sich außerhalb des Gesichtsfeldes der Demenzkranken befinden (Stuhlmann 2004: 83).

In diesem Blog werden nun im Rahmen des Vollständigkeitskonzeptes Ergänzungen der Ersatz- oder Surrogatstrategien (siehe Blog 54) angeführt. Anschließend wird anhand von Beispielen belegt, dass das Vollständigkeitskonzept sich auch auf vertraute Dinge des Alltags bezieht. Demenzkranke suchen demnach nicht nur Personen aus ihrem Erinnerungsfundus (episodisches Langzeitgedächtnis), sondern auch Gegenstände.

Ergänzungen zu den Ersatz- oder Surrogatstrategien

Das Bedürfnis nach dem Erleben der nächsten Angehörigen ist wie bei Kleinkindern ein starkes Verlangen, das oft mit Unruhe und einem starken Suchverhalten verbunden ist. Neben den bereits in Blog 54 angeführten Puppen und Fotos haben sich die hier folgenden Beeinflussungsformen als wirksamer Personenersatz in der Praxis herausgestellt.

Medien

Unruhige und suchende Demenzkranke können mittels Tonbandaufnahmen und auch Videos, die die Gegenwart und damit Präsenz nächster Angehöriger simulieren, begrenzt abgelenkt und dadurch auch beruhigt werden (Baker 2016: 56, James 2013: 93, Lind 2000: 38, Lind 2007: 72). Auch fiktive Telefonate mit den Nächsten führen zur deutlichen Minderung des Belastungsniveaus.

Schriftliche Nachrichten

Erfahrungen aus den Heimen zeigen, dass manchmal auch Schriftliches völlig ausreicht, um die fehlende Gegenwart eines Verstorbenen oder eines Lebenden, der nicht zum Besuch erscheint, zu erklären. Hierbei werden z. B. Ansichtskarten aus dem Urlaub verwendet, die den Sachverhalt belegen, dass erst in einigen Wochen nach Urlaubsende mit dem Besuch gerechnet werden kann. Oder eine fiktive Arztbescheinigung wird gezeigt, aus der hervorgeht, dass der Aufenthalt in der Rehabilitationsklinik noch weiter andauern wird.

Kartoffelsack

Aus einem Altenpflegeheim in Schleswig-Holstein wurde der Fall berichtet, dass ein Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium nicht mehr ohne seine Ehefrau schlafen konnte. Der Betroffene war derart verzweifelt, dass er bereits Suizidversuche (Strangulierung) unternommen hatte. Um dieses Belastungserleben zu beheben, legt man nachts einen mit Füllmaterialien ausgestopften Kartoffelsack neben ihn ins Bett mit dem Hinweis, dass es sich hierbei um seine Gattin handeln würde (persönliche Mitteilung).

Gegenstände als Elemente des Vollständigkeitskonzeptes

Beobachtungen aus den Pflegeheimen zeigen wiederholt, dass Demenzkranke nicht nur nach Angehörigen oder manchmal auch vertrauten Mitbewohnern verlangen und auch die Suche nach ihnen aufnehmen, sondern dass auch bestimmte Gegenstände, die ihnen im episodischen Langzeitgedächtnis noch präsent sind, eingefordert werden. Fehlen diese Gegenstände, dann fehlt oft für die Betroffenen das ausreichende Maß an der Person-Umwelt-Passung. Konkret äußert sich dieses Erleben des Fehlenden und damit Unvollständigem u. a. auch in Handlungsblockaden. Das bedeutet konkret, für bestimmte Handlungen fehlt dann der erforderliche Impuls.

Vertraute Alltagsgegenstände

Es liegen Erfahrungen aus den Pflegeheimen vor, dass vertraute Gegenstände als Auslöse- oder Schlüsselreize bei der Mahlzeiteneinnahme fungieren, wie die folgenden Beispiele zeigen (Lind 2011: 280f):

  • Auf dem Frühstückstisch muss immer der vertraute Brotkorb stehen, andernfalls fehlt die Bereitschaft zur Nahrungsaufnahme.
  • Eine alte Bäuerin verlangt zum Frühstück immer ihren Krug Milch.
  • Es wird von Bewohnern berichtet, die nur mit dem eigenen Geschirr oder Besteck, teils Erbstücke, die Mahlzeiten einnehmen.
  • Beobachtet wird auch, dass Demenzkranke nur ein bestimmtes Besteck wie z. B. einen kleinen Löffel und ein Messer benutzen, weil sie so früher während der Arbeit ihre Mahlzeiten eingenommen haben.

Diese Fallbeispiele zeigen eindringlich, dass Auslösereize für ein bestimmtes Verhalten nicht nur aus vertrauten Handlungen wie z. B. ein Gebet, sondern auch aus vertrauten Gegenständen bestehen können (siehe Blog 13). Konkrete vertraute Gegenstände als Auslösereize belegen somit den Sachverhalt, wie komplex Lebensgewohnheiten und Prägungen aus der Zeit vor der Erkrankung die Erwartungen und damit das Alltagsverhalten bestimmen (siehe Blog 31).

Wie genau manchmal nach diesen Erinnerungen die neue Umgebung im Heim ausgerichtet werden muss, zeigt ein Beispiel, wobei das Bewohnerzimmer im Heim erst als das eigene akzeptiert wurde, nachdem die Familienfotos genau wie vorher im häuslichen Bereich an der Wand hingen (Bowlby Sifton 2007: 222).

Notwendige Utensilien aufgrund von Eigenwelterleben

Bestimmte Verhaltensweisen von Demenzkranken verdeutlichen den Tatbestand, dass sie teils in ihren eigenen Welten zu leben scheinen, wenn sie z. B. nach bestimmten Utensilien verlangen. So wird z. B. der Fall berichtet, dass ein ehemaliger Weinhändler und damit Handlungsreisender ständig nach seiner Rechnung und dem erforderlichen Geld verlangte, andernfalls wurde er unruhig und aggressiv (Radzey et al. 2005: 122). Ähnlich wurde ein Fall beschrieben, wonach ein Bewohner nur ruhig ist, wenn er Geldbörse, Geld, Führerschein und Personalausweis bei sich hat (Sachweh 2008: 232). Des Weiteren wird in den Heimen festgestellt, dass die Bewohner sich ständig verpflichtet fühlen, für ihre Mahlzeiten bezahlen zu müssen (Röse 2017: 213).

Ergänzend zu Blog 52 (Gegenstände zur Stärkung der Identität) kann hier auf das Beschäftigungs- und eventuell auch Identitätsmaterial „Erinnerungskisten“ bzw. „Biographie-Koffer“ etc. verwiesen werden. Hierbei handelt es sich um Behältnisse (Kisten, Schatullen, Koffer etc.), die überwiegend mit biographisch bedeutsamen Utensilien der Demenzkranken bestückt sind (Baker 2016: 57, James 2013: 93, Röse 2017: 334, Schneberger 2008: 85).

Literatur

  • Baker, C. (2016) Exzellente Pflege von Menschen mit Demenz entwickeln. Bern: Hogrefe
  • Bowlby Sifton, C. (2007) Das Demenz-Buch. Bern: Verlag Hans Huber
  • James, I. A. (2011) Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Demenz, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2000) Umgang mit Demenz. Wissenschaftliche Grundlagen und praktische Methoden. Stuttgart: Paul-Lempp-Stiftung. https://www.svenlind.de/wp-content/uploads/2019/01/Wissen24LemppA.pdf
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber.
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Radzey, B. et al. (2005) Demenzwohngruppen einführen. Stuttgart: Demenz Support Stuttgart
  • Röse, K. M. (2017 Betätigung von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim. Bern: Hogrefe
  • Sachweh, S. (2008) Spurenlesen im Sprachdschungel. Kommunikation und Verständigung mit demenzkranken Menschen. Bern: Verlag Hans Huber.
  • Schneberger, M. et al. (2008) «Mutti lässt grüßen …» Biografiearbeit und Schlüsselwörter in der Pflege von Menschen mit Demenz. Hannover: Schlütersche.
  • Stuhlmann, W. (2004): Demenz – wie man Bindung und Biografie einsetzt. München: Reinhardt

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