Vertraute Handlungen als Bestandteile des Vollständigkeitskonzepts

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Vertraute Handlungen als Bestandteile des Vollständigkeitskonzepts sind die Inhalte des 56. Blogs. Anhand von Beispielen werden u. a. die Bedarfe an Unterstützung und Hilfestellungen aufgezeigt.

Vorbemerkungen

Die Macht und damit auch Wirkungskraft der Erinnerungen bei Demenzkranken wurde in den letzten Blogs deutlich gezeigt: es werden nahestehende Angehörige vermisst und auch gesucht (Blog 54), ebenso bedarf es bestimmter Gegenstände aus dem Alltag vor der Erkrankung, um sich sicher örtlich eingebunden und sicher zu fühlen (Blog 55). Wie stark sich das räumliche Milieu in Gestalt einer generationsvertrauten Mahlzeitenmöblierung einschließlich der Aspekte Tischdecke, Geschirr und Tischverschönerung auf das Wohlbefinden auswirkt, konnte in einer Studie in Schweden nachgewiesen werden. Es wurde deutlich, dass bei dem Fehlen des Empfindens einer örtlichen Eingebundenheit wie z. B. bei einer kargen Möblierung ohne Bezug zur Lebensgeschichte der Betroffenen sich ein Stressniveau aufbaute, das sich u. a. in einer deutlich messbaren Einbuße des Appetits äußerte. Bei der generationsvertrauten Gestaltung des Mahlzeitenmilieus nahm die Kalorienaufnahme merkbar zu, des Weiteren aßen nun auch vermehrt Demenzkranke, die vorher oft die Mahlzeiten ablehnten (Elmstahl et al. 1987). Aus dieser Interventionsstudie kann geschlossen werden, dass auch das räumliche Milieu an lebensgeschichtlich vertraute Faktoren angepasst werden sollte.

In diesem Blog wird nun eine weitere Dimension des Vollständigkeitskonzeptes dargestellt: im Langzeitgedächtnis abgespeicherte und damit vertraute Handlungsmuster. Hierbei sind folgende Unterscheidungen hinsichtlich der Entstehung vorzunehmen:

  • Handlungsmuster, die vor Ausbruch der Erkrankung gebildet wurden
  • Handlungsmuster, die erst im schweren Stadium der Erkrankung gebildet wurden (siehe folgender Blog 57)

Die Unterscheidung dieser Handlungsmuster ist für die Demenzpflege von großer Bedeutung, da sie die Grundlage für die Einordnung der demenzspezifischen Verhaltensweisen hinsichtlich der möglichen Beeinflussungs- und Regulierungspotentiale darstellt.

Handlungsmuster aus der Zeit vor der Erkrankung

Bekannt in der Theorie und Praxis der Demenzpflege ist der Sachverhalt, dass die Demenzkranken vor Ausbruch der Erkrankung Handlungsmuster in Gestalt von Gewohnheiten und Alltagsroutinen verinnerlicht haben. Die Abspeicherungen oder Engramme sind Bestandteile des episodischen und episodisch-prozeduralen Gedächtnisses geworden, die im späten Stadium der Erkrankung regelrecht wieder lebendig werden, indem sie sich in demenztypischen Verhaltensweisen äußern. In den bisherigen Blogs wurden diese Verhaltensweisen auch hinsichtlich der positiven Beeinflussung mehrmals beschrieben.

Unterscheiden lassen sich diese Handlungsmuster des Weiteren hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Demenzkranken dahingehend, ob sie nun einen oder auch keinen Krankheitscharakter für die Betroffenen besitzen. Kriterien für den Krankheitscharakter eines Handlungsmusters sind der damit verbundene Leidensdruck und der Grad an Unterstützungsbedürftigkeit. Von dem jeweiligen Krankheitscharakter eines demenzspezifischen Handlungsmusters hängen dann auch das Ausmaß und die Intensität der therapeutischen Interventionen und Beeinflussungsmodalitäten ab. An den folgenden Beispielen wird dieser Sachverhalt veranschaulicht.

Handlungsmuster mit Leidensdruck

Bei Handlungsmustern mit Leidensdruck handelt es sich überwiegend um die folgenden Krankheitssymptome aus dem Bereich der Realitätsverluste und Realitätsverzerrungen.

Beeinflussbare Desorientierungsphänomene

In Blog 8 sind übersichtsartig Symptomatik, neuropathologische Ursachen und auch die wirksamen Beeinflussungsmodalitäten der beeinflussbaren Desorientierungsphänomene dargestellt worden. Der Leidensdruck entsteht hier durch das Empfinden, eine bestimmte Handlung aus der Zeit vor der Erkrankung nicht mehr auszuführen: wie z. B. Hühner füttern oder für die Kinder eine Mahlzeit zubereiten. Diese Realitätsverzerrungen verursacht ständig steigende Unruhe und Furcht, denn die Betroffenen befürchten Bestrafung bzw. Ungemach (hungernde Kinder). Die Aufgabe der Pflegenden und Betreuenden besteht nun darin, möglichst umgehend und wirksam diese Realitätsverzerrung zu beseitigen, also konkret durch einen neuen Impuls zu löschen (Extinktion). Bei dieser Beeinflussungsform wird das Vollständigkeitskonzept dahingehend erweitert, dass die Person-Umwelt-Passung als Perspektive und Zielorientierung des Vollständigkeitskonzepts in diesen Fällen nur durch eine Entfernung der Störimpulse hergestellt werden kann (Lind 2007: 48ff, Lind 2011: 108f).

Handlungsmuster mit starkem Hilflosigkeitscharakter

Bei diesen verinnerlichten Handlungsmustern aus der Zeit vor der Erkrankung ist ein Leidensdruck auf dem ersten Blick nicht so leicht zu erkennen. Deutlich erkennbar ist jedoch der Tatbestand einer völligen Hilflosigkeit, die umgehende Interventionen erforderlich machen.

Zwangsähnliche Desorientierungsphänomene

In Blog 12 wurden die zwangsähnlichen Desorientierungsphänomene beschrieben. Die Betroffenen versuchen ein vollständiges Handlungssegment wie z. B. Zeitungen austragen zwangsähnlich zu realisieren. Ständige Unruhe wie z, B. hin und her wandern sind die Reaktionen auf das Unvermögen, die Handlungskette praktizieren zu können. Hier gilt es, den Demenzkranken Gelegenheit zu geben, diese Tätigkeiten durch Hilfestellung und entsprechende Utensilien auszuführen (Lind 2007: 76ff, Lind 2011: 117ff).

Fehlende Schlüsselreize (Auslöse- und Beendigungsimpulse)

Ein großes Maß an Hilflosigkeit besteht auch, wenn ein vollständiges Handlungspotential bei den Demenzkranken noch vorhanden ist, die Betroffenen jedoch die Kompetenz zum Start bzw. zur Beendigung dieser Handlungskette verloren haben. In Blog 13 sind Beispiele für die fehlenden Auslöse- bzw. Beendigungsimpulse (Schlüsselreize) beschrieben. Wenn z. B. die Mahlzeit nicht eingenommen werden kann, weil der Schlüsselreiz Mahlzeitengebet nicht mehr präsent ist, oder wenn die Schlafenszeit nicht beginnen kann, weil der Impuls Abendgebet fehlt, dann wird das Vollständigkeitsprinzip in Gestalt des Vormachens praktiziert (Lind 2007: 78f, Lind 2011: 124ff).

Disinhibitive Verhaltensmuster (vorläufiger Arbeitsbegriff)

Wie in Blog 49 ausgeführt, geht durch den Abbau der Nervenzellen im fortgeschrittenen Stadium auch die Kontrolle über Bewegungsimpulse verloren, die zu Phänomenen der Enthemmung und zu Verhaltensautomatismen führen. Ständige Putzbewegungen ohne Realbezug, Schreien oder Rufen ohne Verursachung durch Umwelteinflüsse, stundenlanges zielloses Wandern bis zur völligen Erschöpfung sind demenzspezifische Krankheitssymptome, die teils mit einer völligen Hilflosigkeit verbunden sind.

Neurophysiologisch und auch neurodegenerativ lässt sich dieses Krankheitssymptom wie folgt erklären: Das „Bewegungsgedächtnis“ (u. a. das episodisch-prozedurale Langzeitgedächtnis) ist im schweren Stadium noch intakt, da hier tieferliegende Hirnareale wirksam sind. Die Hirnbereiche im Großhirn für die Steuerung, Kontrolle und damit auch Unterdrückung dieser Bewegungsimpulse sind bereits abgebaut. So entstehen u. a. Verhaltensautomatismen, Kontrollverluste und Symptome der Enthemmung (Disinhibition) (siehe auch Blog 7).

Im Rahmen des Vollständigkeitskonzeptes werden den massiv unruhigen Demenzkranken gezielt lebensgeschichtlich vertraute Handlungsmuster mit den dafür erforderlichen Utensilien zur Beschäftigung angeboten (Röse 2017: 325). Bezüglich des hilflosen Dauerwanderns hat sich als Kompensationsansatz die Schaffung von barrierefreien Rundwanderwegen in den Heimen bewährt (Demenzarchitektur) (Lind et al. 1990, Lind 2011: 303f).

Literatur

  • Elmstahl, S. et al. (1987) Hospital nutrition in geriatric long-term care medicine. 1. Effects of a changed meal environment. Comprehensive Gerontology, 1: 28–33.
  • Lind, S. et al.(1990) Modelle kompensatorisch-therapeutischer Raum- und Milieugestaltung für eine psychogeriatrische Abteilung. Deutsche Krankenpflege-Zeitschrift, 43, 1, 24 – 28.
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber.
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Röse, K. M. (2017 Betätigung von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim. Bern: Hogrefe

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