Die Wahrnehmungsstörung akustische Agnosie und dabei entstehender Stress bei der Verarbeitung bilden den Inhalt des zweiten Blogs. Neben den neurowissenschaftlichen Erläuterungen werden diesbezüglich Umgangsformen und auch Präventionsmaßnahmen angeführt.
Wahrnehmungsstörung akustische Agnosie und emotionale Stressreaktion
Zur Veranschaulich der Krankheitssymptome zu Beginn wieder ein Beispiel:
Beispiel: Eine Demenzkranke sitzt am Tisch und erschrickt deutlich, als plötzlich ein Telefon schrillt.
Dieses Verhalten lässt sich neurowissenschaftlich in zwei Erklärungsmuster unterteilen.
Es liegt hier eine Wahrnehmungsstörung in Form einer akustischen Agnosie vor. Das bedeutet konkret, dass die Demenzkranke deutlich etwas hört, aber das Gehörte nicht mehr angemessen einzuordnen vermag. Sie nimmt einen starken lauten Reiz wahr, doch sie kann sich nicht erklären, welchem Zwecke er dienen soll. Auch hier liegt wie bei der visuellen Agnosie hirnpathologisch eine Hirnstörung in Gestalt einer Entkopplung (Diskonnektion) bestimmter Schaltkreise vor. Nur führt in diesem Fall die Wahrnehmungsstörung nicht zu einem Fehlverhalten (Gabel als Kamm benutzen), sondern zu einer massiven emotionalen Störung, einem starken Stresserleben.
Das Schrillen versetzt die Demenzkranke in einen panikartigen Furcht- und Unruhezustand, denn sie kann sich diese massive Reizkonfiguration nicht erklären und fürchtet somit regelrecht um Leib und Seele. Krankhaft und daher auch unmittelbar interventionsbedürftig ist dieser Zustand bei Demenzkranken aufgrund der damit verbundenen Hilflosigkeit. Hilflos bedeutet in diesem Fall, dass Demenzkranke sich nicht selbst beruhigen können. Im Gegenteil, die Furcht und Unruhe nimmt ohne ein Eingreifen noch zu und kann im Extremfall zu einer psychophysischen Dekompensation führen. Hirnphysiologisch und zugleich auch hirnpathologisch lässt sich das wie folgt erklären: Der massive akustische Reiz aktiviert die Furchtregion im limbischen System (Amygdala), doch können im schweren Stadium diese Furchtimpulse nicht mehr im Frontallappen der Großhirnrinde regulierend verarbeitet werden, da dieses Hirnareal bereits zu stark abgebaut ist und somit seine Schutz-, Puffer- und damit auch Beruhigungsfunktionen verloren hat. Auch hier kann wieder die Parallele zum Kleinkinderverhalten hergestellt werden. Kleinkinder reagieren ab dem Alter von ca. 8 Monaten emotional sehr extrem auf fremde Reize („Fremdeln“ u. a.) und bedürfen der unmittelbaren Beruhigung und auch Ablenkung (Siegler et al. 2016: 359). Dieses Verhalten bei den Kindern hingegen ist nicht krankhaft, sondern entwicklungsbedingt. Hier ist die Furchtregion im limbischen System bereits funktionsgerecht entwickelt, doch der Frontallappenbereich zur situationsgerechten Verarbeitung der Furchtimpulse ist noch nicht ausreichend ausgereift. Erwähnt werden darf in diesem Zusammenhang, dass Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium ähnlich wie Kleinkinder auch Trennungsangst erleben und massiv darauf teils mit Schreien und teils mit Nachlaufen reagieren (Cohen-Mansfield et al. 1990; Lind 2007:33).
Konsequenzen für die Praxis
Damit eine Wahrnehmungsstörung wie eine akustische Agnosie zu keinem überfordernden Stresserleben führt, bedarf es für Demenzkranke im häuslichen als auch im stationären Bereich einer Regulierung akustischer und auch visueller Reizkonfigurationen zwecks Vermeidung von Überstressreaktionen. In den USA haben sich entsprechende Präventionskonzept der Reizreduzierung im Milieubereich bewährt („low stimulus units“, „reduced stimulation units“). Das Konzept umfasst die Entfernung oder Verringerung bestimmter Reizquellen, die als Stress fördernd eingeschätzt werden: Fernsehen – Radio – Telefonläuten – lautes Sprechen und Rufen (Lind 2011: 158).
Im Falle eines Furcht- und Unruhezustandes haben sich Strategien des intuitiven Beruhigens bewährt. Trösten, streicheln, besänftigen, in den Arm nehmen und vieles mehr wird tagtäglich praktiziert, damit die oft verunsicherten und verängstigten Bewohner ihr psychisches Gleichgewicht wieder erlangen (Lind 2011: 190, Sachweh 2000). Auch hier kann wieder die Parallele zu Kleinkindern hergestellt werden, denn Pflegende verhalten sich z. B. in der Kommunikation genauso wie Eltern im Umgang mit ihren kleinen Kindern (Ammensprache, übertriebene Gestik u. a.) (Siegler et al. 2016: 204).
Als Präventionskonzepte zwecks Vermeidung von überforderndem Stressverhalten haben sich u. a. zwei Konzepte bewährt, die für Demenzkranke Geltung besitzen und somit eigentlich Pflichtprogramm in jedem Demenzwohnbereich sein sollten:
- Die Unveränderbarkeit des räumlichen Milieus und sozialen Geschehens (Modell der Stetigkeit oder Ritualisierung) (Lind 2011: 100). Hier können Demenzkranke das Empfinden von Sicherheit auf der Grundlage der Vorhersehbarkeit allen Handelns entwickeln (dieses Modell wird in weiteren Blogelementen eingehend erläutert werden).
- Das Konzept der räumlichen und sozialen Nähe: wenn vertraute Personen im Wohnbereich ständig präsent sind. Man sieht sie, man hört sie und gegebenenfalls kann man sie auch anfassen. Das ist das ideale Präsenzmilieu für Demenzkranke (Lind 2011: 143).
Sicherheit, Geborgenheit, Schutz und Vertrautheit sind die Konstanten der Lebenswelt Demenzkranker. Diese Wirkfaktoren können das Ausmaß an Stresserleben deutlich senken.
Literatur
- Cohen-Mansfield, J. et al. (1990) Screaming in nursing home residents. Journal of the American Geriatrics Society, 38: 785 -792.
- Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber.
- Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
- Sachweh, S. (2000) „Schätzle hinsitze!“. Kommunikation in der Altenpflege (2., durchgesehene Auflage), Frankfurt am Main: Peter Lang.
- Siegler, R. et al. (2016) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer.
Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Kontaktformular). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.
Dr. phil., Diplom-Psychologe, geboren am 21.09.1947 in Marburg/Lahn.
Dieser Blog dient dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren.
Genau so habe ich das in der Praxis erlebt. Wichtig ist bei der Feststellung von Unruhe und Furcht sofort zu reagieren!! Mit Beruhigung von wenig Sprache, gezielte Berührung, und etwas warmes zum Trinken anbieten, durchaus auch Kakao( Kindheit – Langzeit Gedächtnis) . Weil der Mensch sich auf eins konzentriert, aufs Trinken und Furcht in den Hintergrund geraet.