Pflegeprinzipien anstelle der Pflegeverweigerung

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Pflegeprinzipien als Rahmenmodelle der Demenzpflege sind die Inhalte des 26. Blogs. Hierbei handelt es sich um die Konzepte Konditionierung und biographische Stetigkeit.

In vielen Blogelementen wurde bereits auf die extreme Belastung bei der Körperpflege Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium hingewiesen. In diesem äußerst sensiblen Handlungsgefüge des unmittelbaren Körperkontaktes treten recht häufig Symptome der situationsbezogenen Überforderung auf, die sich teils in Pflegeverweigerung bzw. Ablehnung der Pflege äußern (Lind 2007). Dass dieses Problem recht weit verbreitet ist, zeigt eine Erhebung in Heimen in Baden-Württemberg. Bei über einem Drittel der Demenzkranken hatte es in den letzten vier Wochen Probleme in der Zusammenarbeit mit den Pflegenden gegeben (Schäufele et al. 2008: 141).

Um den Belastungsgrad in der Pflege Demenzkranker deutlich zu senken und um die Pflege überhaupt erst zu ermöglichen, haben Pflegende im Rahmen ihrer alltäglichen Tätigkeit meist spontan und damit auch intuitiv Strategien des Umgangs in der unmittelbaren Pflege entwickelt. Diese Vorgehensweisen werden im Folgenden bezugnehmend auf die bereits veröffentlichten Blogelemente zusammenfassend als Pflegeprinzipien und als Konzepte der Pflegeermöglichung und Pflegeerleichterung nochmals vorgestellt.

Pflegeprinzipien und Strategien der Pflegeermöglichung und der Pflegeerleichterung

Bei Pflegeprinzipien und Strategien der Pflegeermöglichung und der Pflegeerleichterung handelt es sich um vielschichtige Handlungssegmente der unmittelbaren Pflege verbunden mit Maßnahmen der Ablenkung und Beruhigung und zusätzlich auch Elementen einer angemessenen Milieugestaltung mit dem Ziel, Pflege überhaupt durchführen zu können. All dieses Geschehen orientiert sich letztlich an der geistigen und körperlichen Verfassung mitsamt der Persönlichkeitsstruktur in der Verarbeitung der inneren und äußeren Reizkonfigurationen der zu pflegenden Person. Der Demenzkranke ist somit die unabhängige Variable, an die es sich vielschichtig bei allem Handeln anzupassen gilt. Demenzpflege ist somit Anpassungspflege. Die Pflege ist jedoch kein Selbstzweck, sondern nur notwendiges Geschehen mit der Maßgabe, die körperliche Unversehrtheit zu gewährleisten. Jenseits dieser Grenze gilt die Regel: Wohlbefinden hat Vorrang vor Pflege (Lind 2011: 224). Folgende Umgangsformen der Demenzpflege als Anpassungspflege sind bereits thematisiert worden.

Konditionierung (Stetigkeit, Ritualisierung)

In Blog 3 wurde bereits auf die Verallgemeinerungsunfähigkeit Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium hingewiesen. Die Anpassung an dieses kognitive Wahrnehmungs- und Verarbeitungsdefizit besteht aus Konditionierung aller Reizgefüge nach den Regeln des Gewohnheitslernens. Die Beständigkeit bestimmter Reizkonfigurationen ist ein Vereinfachungsschema, das zu unbewussten Lernprozessen führt. Lernen beschränkt sich hierbei auf das ständige Wahrnehmen derselben Reize im Sinne einer Konditionierung. Es werden hierbei konkrete Handlungsabfolgen nach dem Schema «Wenn – Dann» abgespeichert. Nur so lässt sich ein Empfinden von Vorhersehbarkeit herstellen; dies ist ein Grundpfeiler für die Person-Umwelt-Passung bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium (Lind 2011). Die Konditionierung in der Gestalt der Ritualisierung ist somit ein Kernelement der Demenzpflege und damit auch ein Pflichtprogramm. Stetigkeit bedeutet somit Pflegeermöglichung und vermindert daher das Entstehen einer Pflegeverweigerung (Sachweh 2008: 227).

Wie bereits in Blog 3 angeführt, erfordert die Wahrnehmungsstörung, neue Reizgefüge in die bestehenden Langzeitgedächtnisstrukturen zu integrieren (Verallgemeinerungsunfähigkeit), Anpassungsleistungen. Diese bestehen aus der strikten Unveränderlichkeit aller äußeren Reizgefüge:

  • Personale Stetigkeit: Vertrautheit mit den Mitarbeitern (Bezugs- oder Gruppenpflege) und mit deren Unveränderlichkeit ihres Äußeren (u. a. Frisur, Kleidung).
  • Handlungsstetigkeit bei der Pflege und Betreuung und Stetigkeit in der Tagesstruktur: Ritualisierung allen Geschehens.
  • Milieustetigkeit: Unveränderlichkeit der räumlichen Umwelt.

Konditionierung und damit Stetigkeit bedeutet zusätzlich auch Eingewöhnung in den Heimalltag, vertraut werden mit den sozialen und räumlichen Gegebenheiten, die für Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium lebensnotwendig ist. Andernfalls droht frühzeitiger Tod durch permanenten Überstress (Fremdheitssyndrom).

Biographische Stetigkeit

Welche Wirkkraft die Erinnerungen bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium auf ihr Erleben der Gegenwart und damit der Realwelt besitzt, konnte bereits in vielen Blogs aufgezeigt werden. Vor allem bei den Realitätsverlusten und den Realitätsverzerrungen, aber auch im alltäglichen Umgang kann man die Macht dieser inneren Reizgefüge erleben:

  • Beeinflussbare spontane Desorientierung (Blog 8)
  • Demenzspezifische Eingebungen (Blog 11)
  • Belastende Erinnerungen (Blog 11)
  • Zwangsähnliches Desorientierungsverhalten (Blog 12)
  • Biographie orientierte Schlüsselreize (Blog 13)
  • Biographie orientierte Umgangsformen (Blog 16)
  • Vertraute Gegenstände

Bekannt ist die These, dass Demenzkranke ihre eigene Welt hätten und regelrecht in dieser Welt aus Erinnerungen leben würden. Die Vergangenheit in der Gegenwart, das ist auch eine Strategie der Pflege und Betreuung. So gilt es also, all diese bekannten Erinnerungen in die konkrete Pflege und Betreuung einzuflechten, so kann man biographische Stetigkeit bezeichnen.

Pflegende und Betreuende sollten möglichst viel über die lebensgeschichtlichen Ereignisse einschließlich der Gewohnheiten, Vorlieben und auch Eigenheiten ihrer Schützlinge wissen. Dieses biographische Wissen ist letztlich ein entscheidender Schlüssel zur Gestaltung eines belastungsarmen Umganges mit den Betroffenen. Diese Kenntnisse bilden somit zugleich auch den Analyse-, Interpretations- und Interventionsrahmen für alle Handlungen. Biographisches Wissen ist damit zugleich ein entscheidendes Element für die Handlungssicherheit im Umgang mit den Demenzkranken (siehe Blog 22).

Konsequenzen für die Praxis

Der Handlungs- und auch Orientierungsrahmen der Demenzpflege wird von zwei Dimensionen oder Scharnieren gehalten: der Stetigkeit der Gegenwart (Konditionierung und Ritualisierung) und der Stetigkeit der Vergangenheit, die manchmal auch nur einige Wochen zurückliegen kann. Diese zweifache Stetigkeit ist ein wesentliches Kernelement der Demenzwelt und damit auch Demenzlebensweltgestaltung. Sie sind somit für jede stationäre Pflegeeinrichtung, die Demenzkranke zu ihrer Bewohnerschaft zählt, Pflicht und Standard zugleich.

Literatur

  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Sachweh, S. (2008) Spurenlesen im Sprachdschungel. Kommunikation und Verständigung mit demenzkranken Menschen. Bern: Verlag Hans Huber.
  • Schäufele, M. et al. (2008) Demenzkranke in der stationären Altenhilfe. Aktuelle Inanspruchnahme, Versorgungskonzepte und Trends am Beispiel Baden-Württembergs. Stuttgart: Kohlhammer Verlag.

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Kontaktformular). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

3 Gedanken zu “Pflegeprinzipien anstelle der Pflegeverweigerung”

  1. Herr Pagel dem stimme ich unbedingt zu. Es wäre schon gut wenn Empathie mit ein Einstellungskriterium wäre, das vorhanden sein muss. Alles Andere können wir den Kollegen/innen vermitteln.Auch kommt mir das ausprobieren und „forschen“ zu kurz. Einiges geht auch in kurzer Zeit. Die Frage ist ob es der Pflegekraft bzw. der Leitung wichtig ist. Ich habe auch im Schichtdienst und als Leitung Vieles mit den Kollegen/innen herausgefunden.

  2. Die Antwort von Herrn Pagel sollte im Fernsehen gesendet werden. Damit es alle wissen!!!
    Auch wird in den Teamsitzungen und Übergaben an die nächste Schicht viel zu wenig darüber berichtet was dem Einzelnen hilft. Sei es biographisch, vom Ritual her, bei besonderen Vorkommnissen ect. Auch Fallbesprechungen sind zu selten. Da auch Demenzkranke verschieden sind müssen wir uns die Mühe schon machen, damit die Pflegeermöglichung immer Wirklichkeit ist.
    Viele Grüße
    Annelie Gilles

  3. Sehr gute Ansätze,
    Leider können diese Ansätze aber im Pflegealltag nicht immer umgesetzt werden, da z.B. die Rahmenbedingungen der Personalbesetzung ebenfalls eine Rolle spielt. Ich gebe Ihnen recht, dass es unumgänglich ist, die Biographie von Demenzerkrankten Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, nur so lässt sich mit ihnen gut arbeiten – aufgrund von Zeitmangel und den verschiedenen Ressourcen der Pflegekräfte kommt dies aber häufig zu kurz. So ist es leider kaum möglich, einer rumänischen Pflegekraft mit stark mangelnden Deutschkenntnissen die Biographie so näher zu bringen, dass sie biographieorientiert und ritualisiert auf den Bewohner eingehen kann. In diesem Fall kann man schon froh sein, wenn sie sich den deutschen Qualitätsstandard einer Körperpflege abschauen und merken konnte und dann die Pflege so durchführt, wie es ihr gezeigt wurde. Biographieorientierte und Ritualisierte Pflege setzt voraus, dass ausreichend auf Demenz geschultes Personal die Bewohner nach ihren Bedürfnissen versorgt und Tag für Tag neu auf den Bewohner in seiner Welt eingehen kann. Sowohl aus Kosten- als auch aus Zeitgründen ist dies in deutschen Pflegeheimen jedoch nur schwer möglich. Sicherlich ist es wertvoll, wenn einzelne Pflegekräfte dies bei einzelnen Bewohnern an einzelnen Tagen umsetzen können, wünschenswert wäre es aber, wenn es zum Alltag gehören würde. Als erstes benötigen wir einen angemessenen Personalschlüssel von Pflegekräften so dass eine 1:4 Betreuung möglich wird – zumindest zu den Kernzeiten. Eine Organisierung der Pflegekräfte (eine einzige Pflegekammer) wäre notwendig, um langfristig Veränderungen in der Altenpflege herbei führen zu können. Zu Bedenken gilt auch, dass nicht jeder eine Altenpflegefachkraft ist, wenn er im Ausland einen 6-Wochen Kurs absolviert hat. Pflegen heißt schließlich mehr, als waschen, Essen anreichen und Betreuen. Pflege sollte ein hochprofessioneller Beruf sein mit vielen einzelnen Facetten.

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