Demenzweltgestaltung Tagesstrukturierung

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Betreuungsangebote im Rahmen der Tagesstrukturierung sind die Inhalte des 25. Blogs. Es werden Hinweise bezüglich der Inhalte und der Aufgaben der Betreuungsangebote gegeben.

In Blog 23 wurden die verschiedenen Dimensionen des Demenzmilieus kurz beschrieben, in Blog 24 wurde das Zusammenwirken dieser Milieuelemente für die Gestaltung einer angemessenen Demenzwelt übersichtsartig erläutert. In diesem Blog werden knapp einige Hinweise über die Durchführung und Inhalte der Betreuungsangebote des sozialen Milieus gegeben. Des Weiteren wird auf die Bedeutung dieser Maßnahmen für das psychosoziale Gleichgewicht der Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium verwiesen.

Die Tagesstrukturierung und Betreuungsangebote

Die durch die Hirnleistungseinbußen hervorgerufenen Orientierungsstörungen bezüglich Raum, Zeit, Personen und Situationen erschweren eine für die Bewohner sinnvolle und befriedigende Eigenbeschäftigung und Gestaltung der zur Verfügung stehenden Zeit. Eine gezielte und eigenständige Stimulierung und Aktivierung kann aufgrund der verminderten geistigen Kapazitäten, vor allem der Kurzzeitgedächtnisstörungen, nur schwerlich gelingen. Zeit und Raum können daher häufig nicht genutzt oder gestaltet werden. Sie werden oft zu diffusen Belastungen oder gar Bedrohungen (Lind 2007).

Diese Bewohner benötigen somit ein Tagesprogramm, eine Struktur oder ein Gerüst an Anregungs- und Beruhigungsangeboten für das tägliche Leben. Konkret bedeutet dies, dass der Demenzkranke im Milieu des Wohnbereiches nicht allein gelassen werden sollte. Es sollten ihm Möglichkeiten zur Beschäftigung und Teilnahme an die Hand gegeben werden, die im Wesentlichen darauf abzielen, Phasen der Über- aber auch Unterstimulierung zu vermeiden. Denn diese Phasen führen aufgrund der damit verbundenen Überforderung meist zu Unruhe (Wandern, Schreien u. a.) (Cohen-Mansfield et al. 1992, Cohen-Mansfield et al. 1995, Lind 2007).

Folgende Erkenntnisse und Erfahrungen sind bei der Gestaltung eines demenzgerechten Tagesprogramms zu berücksichtigen (Lind 2007):

Dauer der Betreuungsangebote

Die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsspanne nimmt zunehmend ab. Bei mittelgradig bis schwer Erkrankten beträgt die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne etwa 15 – 20 Minuten (Namazi et al. 1992). In diesem Zeitraum wurden sowohl vertraute Handlungen (Abwasch, Wäsche legen etc.) als auch relativ unvertraute Aktivitäten (Bleistifte sortieren u. a.) von den Demenzkranken vollzogen (siehe Blog 15).

Inhalte der Betreuungs- und Aktivierungsangebote

Die Inhalte der Aktivierungsangebote sollten dem Kompetenzvermögen der Adressaten angepasst sein: Da die emotionalen und affektiven Persönlichkeitsmerkmale gegenüber dem geistigen Vermögen auch im fortgeschrittenen Krankheitsstadium noch recht gut erhalten sind, sollten gefühlsbetonte Gruppenangebote wie z. B. gemeinsames Singen, Musikhören und aufheiternde Beschäftigungen im Vordergrund stehen (Lind 2007).

Der Vergleich einer Singegruppe mit einem Gesprächskreis bezogen auf das Wohlbefinden zeigte, dass die Aufmerksamkeit und das soziale Verhalten in der Singegruppe deutlich besser war (Millard et al. 1989).

Des Weiteren sollten möglichst lebensgeschichtlich vertraute Handlungsroutinen (Alltagsaktivitäten wie z. B. Putzen, Aufräumen, Essenvorbereitung) angeboten werden. Das heißt, neben vertrauten Handlungen werden vertraute Gegenstände (Kochutensilien aus der Jugend- und Erwachsenenzeit der Betroffenen), vertraute Gerüche (z. B. Putzutensilien, Essensgerüche) und eine vertraute Ambiente (Küchenmöbel aus den letzten Jahrzehnten) eingesetzt (Minde et al. 1990).

Stellenwert der Mitarbeiter bei den Betreuungsangeboten

Für die demenzgerechte Tagesstrukturierung sind der Gruppenbezug und die Mitwirkung der Mitarbeiter von Bedeutung. Der Demenzkranke verfügt auch im fortgeschrittenen Stadium noch über gut erhaltene soziale Kompetenzen und hat dementsprechend das Bedürfnis nach sozialen Kontakten. Spontane Gruppenbildungen sind bei Demenzkranken häufig wie z. B. beim Wandern im Wohnbereich zu beobachten. Strukturierte oder geplante Gruppenangebote bieten Möglichkeiten für gegenseitige Bestätigung und Respekt, für Geborgenheit und Schutz. Körperliche Nähe in einem organisierten Kontext lässt auch bei Demenzkranken ein Wir-Bewusstsein entstehen, das sich in gemeinsamen Handlungen (Singen, Alltagserledigungen etc.), einer erhöhten Aufmerksamkeitsspanne und in erhöhter Zufriedenheit äußert (Millard et al. 1989) (siehe Blog 24).

Die Gegenwart und das Mitwirken des Pflege- und Betreuungspersonals in diesen Gruppenaktivitäten stellen einen zusätzlichen Schutz- und Sicherheitsfaktor dar. Das Erleben der Präsenz der vertrauten Personen vermittelt das Gefühl der Geborgenheit und des Schutzes (Lind 2007, Kihlgren et al. 1994).

Ziele einer demenzgerechten Tagesstrukturierung

Die Demenzwelt mitsamt der damit verbundenen Demenzweltgestaltung kann als ein Schutzschild oder sogar wie eine zweite Haut für die Betroffenen aufgefasst werden. Die unterschiedlichen Milieuelemente wirken hierbei als Ausgleichskräfte für die verlorengegangen Kompetenzen in der eigenständigen Gestaltung des Alltags. Dabei geht es unter anderem um die Regulierung der Reizgestaltung und um die psychosoziale Befindlichkeit.

Vermeidung von Über- und Unterstimulierung

Der vorrangige und zentrale Aspekt der Tagesstrukturierung besteht aus der Vermeidung der Über- aber auch Unterstimulierung der Demenzkranken. Die dargebotenen sensorischen und sozialen Reize müssen im Rahmen des Stressbewältigungsvermögens liegen. Überforderungen durch ein nicht konfliktfrei zu bewältigendes Maß an Reizen unterschiedlicher Qualität führen zu Unruhe, aber auch Apathie und Rückzug. Ebenso wirkt langfristige soziale und sensorische Deprivation negativ auf das psychophysische Gleichgewicht der Betroffenen.

Da die Betroffenen in der Regel nicht mehr über die Fähigkeit verfügen, die Menge an Reizen zu beeinflussen und zu kontrollieren, bedarf es eines Modus, die verschiedenen Umwelteinflüsse zu regulieren. In der Praxis hat sich das Intervallkonzept – Aktivierungsphase mit anschließender Beruhigungsphase – als sehr effektiv und Milieu fördernd herausgestellt (Schwab et al. 1985). Das bedeutet, dass über den Tag verteilt Aktivierungsangebote mit Beruhigungsphasen sich abwechseln sollten. Bildlich kann man sich diese Intervalle als eine Hügellandschaft vorstellen, wo sich abgeflachte Höhen mit Niederungen abwechseln (Lind 2011: 156f) (siehe Blog 15).

Dieses an den Belastungsgrenzen ausgerichtete Phasenmodell verhindert nicht nur Überreizungs- und Überforderungssituationen psychischer Art mit anschließenden Verhaltensstörungen, sondern es vermeidet in der Regel auch physische Erschöpfungszustände, die u. a. auch zu Tagschlafperioden führen können. Wenn z. B. ein Klient stundenlang bis zur Leistungsgrenze auf dem Wohnbereich hin- und herwandert, folgt hierauf oft eine Schlafperiode, die wiederum ungünstige Auswirkungen auf den Tag-Nacht-Schlafrhythmus hat (Lind 2007).

Emotionale Stabilisierung

Ein weiteres Ziel der Tagesstrukturierung besteht aus der Vermittlung des Gefühls der Bestätigung, der Anerkennung und der Steigerung des Selbstwertgefühles und damit auch des Wohlbefindens.

Es sollten Angebote und Aktivitäten gestaltet werden, die einen Bezug zum bisherigen Lebensstil und -rhythmus besitzen, die Möglichkeiten zur Selbstbestätigung im Vollzug alltagsbezogener Aktivitäten bieten und die mit Freude, Unterhaltung und Spaß verbunden sind (Cleary et al. 1988).

Tagesstrukturierende Angebote sollten der Freiwilligkeit hinsichtlich der Teilnahme unterliegen und somit kein Zwangs- oder Pflichtprogramm für die Bewohner darstellen. Vermag der Demenzkranke sich ohne Gefahr der physischen oder psychischen Überforderung selbst zu beschäftigen, so benötigt er die Anregung und Anleitung durch Gruppenangebote nicht (Lind 2007).

Hinweise für die Praxis

In Blog 2 und Blog 8 wurde ja bereits darauf hingewiesen, dass es gilt, die Pflegenden und Betreuenden verstärkt in das soziale und räumliche Milieu einzubinden. Sie sollen von den Demenzkranken ständig wahrgenommen werden u. a. gemäß der Regel des Präsenzmilieus „Bewohnerferne Tätigkeiten bewohnernah ausführen“. Wenn dann die Mitarbeiter auch noch das erforderliche Maß an Handlungssicherheit in u. a. in Form von Ruhe und Gelassenheit zeigen, dann fühlen sich die Bewohner sicher und geborgen (siehe Blog 22). Und natürlich darf hierbei auch nicht die Stetigkeit mitsamt der Ritualisierung des Alltags in allen drei Dimensionen des Demenzmilieus vergessen werden. Nur so können sich Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium selbst orientieren in dem Sinne, dass sie genau wissen, was konkret im Zeitablauf auf sie zukommen wird. Denn ein Gefühl von Sicherheit kann nur im Rahmen der Vorhersehbarkeit allen Geschehens entstehen (siehe Blog 3). Die so genannte „Zeitschleife“ wie im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ veranschaulicht, zeigt bezogen auf das Wesensmerkmal Vorhersehbarkeit das Grundprinzip eines idealen Demenzmilieus.

Literatur

  • Cohen-Mansfield, J. et al. (1992) The social environment of the agitated nursing home resident. International Journal of Geriatric Psychiatry, 7 (11): 789–798.
  • Cohen-Mansfield, J. et al. (1995) Environmental influences on agitation: An integrative summary of an observational study. The American Journal of Alzheimer’s Care and Related Disorders and Research, 10 (1): 32-39.
  • Kihlgren, M. et al. (1994) Auswirkungen der Schulung in integrationsfördernder Pflege auf die zwischenmenschlichen Beziehungsabläufe auf einer Langzeitabteilung. Pflege, 7 (3): 228–236.
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Millard, K. et al. (1989) The influence of group singing therapy on the behavior of Alzheimer’s diesease patients. Journal of Music Therapy, 26 (2): 58–70.
  • Minde, R. et al. (1990) The ward milieu and its effects on the behaviors of psychogeriatric patient. Canadian Journal of Psychiatry, 35: 133–138.
  • Namazi, K. et al. (1992) How familiar task enhance concentration in Alzheimer’s disease patients. The American Journal of Alzheimer’s Disease and Related Disorders & Research, 7 (1): 35–40.
  • Schwab, M. et al. (1985) Relieving the anxiety and fear in dementia. Journal of Gerontological Nursing, 11 (5): 8–12.

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