Demenzweltgestaltung im Pflegeheim

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Die Demenzweltgestaltung im Pflegeheim ist der Inhalt des 23. Blogs. Es werden die verschiedenen Dimensionen des Milieus dargestellt.

Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium benötigen eine Vielzahl an Unterstützungsleistungen bei der Pflege, Betreuung und Milieugestaltung zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung ihres psychosozialen Gleichgewichtes. Die Zunahme von Fehl- und Minderleistungen in der Erfassung der äußeren und auch der inneren Welt mit den damit verbundenen Einbußen an Handlungs- und Reaktionsmöglichkeiten erfordert ein komplexes Strukturgefüge an personalen Dienstleistungen einschließlich von Milieufaktoren, damit ein ausreichendes Maß an psychophysischer Bewältigung des Alltags erreicht werden kann.

Die drei Dimensionen des Demenzmilieus

Die Lebenswelt demenzkranker Heimbewohner lässt sich grob in drei Milieu-Faktoren untergliedern, die zugleich in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen (Lind 2011: 253ff):

  • das Pflegemilieu
  • das soziale Milieu
  • das räumlich-physikalische Milieu

Das Demenzmilieu umfasst alle sozialen und räumlichen Reizgefüge, die in ihrer Gesamtheit die Lebenswelt in ihrer Ganzheitlichkeit ausmacht. Alle diese Reize sind auf das Verarbeitungs- und Bewältigungsvermögen der Bewohner auszurichten, andernfalls drohen Überforderung und Stressverhalten. In einem Milieu der ständigen Überforderung kommt es bei den Demenzkranken zu geistigen und verhaltensbezogenen Minderleistungen, die als Reaktionen auf eine nicht zu bewältigende Umwelt aufgefasst werden können. Ähnliche Verhaltensweisen zeigen nicht dementiell Erkrankte in starken Stresssituationen wie Prüfungen oder Bedrohungen. Auch bei Depressionen sind diese Verhaltensweisen zu beobachten.

Das Pflegemilieu

Das Pflegemilieu umfasst alle organisatorischen, personalen und räumlichen Aspekte der unmittelbaren Körper- oder Grundpflege. Da die Körperpflege für die Demenzkranken mit bedeutsamen Anpassungs- und Bewältigungsleistungen verbunden ist, werden die Phasen dieser Pflege als die Kernphasen im Rahmen der Tagesstrukturierung bezeichnet. Da diese Pflege ein recht hohes Stresspotential aufweist, gilt es vor allem, alle möglichen Stressoren zu vermeiden oder doch zumindest deutlich zu mindern.

Das soziale Milieu

Das soziale Milieu bezeichnet das Miteinander von Mitarbeitern und Demenzkranken in den Zeiträumen zwischen den Kernphasen der Körperpflege. Deshalb werden sie in diesem Konzept der Demenzweltgestaltung auch Zwischenphasen im Rahmen der Tagesstrukturierung genannt. Hierbei handelt es sich um aktive und passive Formen der Anregung und Einbindung der Bewohner. Das Kernprinzip besteht aus allen Formen der sozialen Nähe. Das Alleinsein und das entsprechende Empfinden des Verlassenseins sind somit über den Tag hinweg zu verhindern.

Zwei für das Wohlbefinden der Demenzkranken äußerst wichtige Aufgaben sind für die Gestaltung des sozialen Milieus von großer Bedeutung:

  • Das soziale Milieu soll den Demenzkranken vor allem Empfindungen von Sicherheit und Geborgenheit vermitteln, denn Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium sind meist verunsichert und verängstigt. Somit soll das soziale Milieu vor allem das Fehlen eigener Stärke und Sicherheit ausgleichen. Es bildet somit regelrecht ein Schutzschild gegen das Auftreten von Unsicherheit und Furcht.
  • Zugleich gilt es, mittels des sozialen Milieus die Aufmerksamkeit der Demenzkranken zu binden. Hierdurch sollen die Realitätsverzerrungen und Realitätsverluste vermieden werden, die leicht auftreten können, wenn die Aufmerksamkeit der Betroffenen nicht durch äußere Reizgefüge aktiver oder passiver Stimulierung gefesselt wird.

Das räumlich-physikalische Milieu

Das räumlich-physikalische Milieu als ein Bestandteil der Demenzlebenswelt ist ebenso von äußerst wichtiger Bedeutung für das Wohlbefinden der Bewohner. Um auf das Verhalten und die Bedürfnisse der Demenzkranken räumlich angemessen eingehen zu können, hat sich in den letzten Jahrzehnten international eine Demenz-Architektur herausgebildet (Heeg et al. 2008).

Folgende Kriterien für dieses Milieuelement sollen nur kurz angeführt werden, da sie für das physische und psychische Befinden der Demenzkranken von großer Wichtigkeit sind (Lind 2011: 254f).

  • Die Wegeführung im Wohnbereich darf nicht kompliziert sein, sonst verlaufen sich die Bewohner ständig. Sie finden nicht ihr Zimmer, die Toilette oder die Gemeinschaftsräumlichkeiten und geraten dadurch leicht in Stress.
  • Der Wohnbereich sollte über ausreichende Bewegungs- und auch Gemeinschaftsflächen verfügen, denn in diesen Bereichen findet überwiegend das Alltagsleben statt.
  • Die Möblierung sollte vertraut sein im Sinne einer Biografieorientierung, andernfalls fühlen sich die Bewohner oft nicht zuhause und zeigen Empfindungen der Verunsicherung (Elmstahl et al. 1987, Minde et al. 1990).
  • Helligkeit, möglichst natürliche Helligkeit, ist von großer Bedeutung. Dunkle Räumlichkeiten oder Bereiche führen zu Verängstigungen. Hier besteht wieder eine Parallele zum Verhalten von Kleinkindern (Siegler et al. 2016).
  • Die Geräuschkulisse im Wohnbereich sollte strikt auf das Verarbeitungsvermögen der Betroffenen ausgerichtet sein. Akustische Überstimulierungen führen zu psychophysischem Belastungserleben (siehe Blog 2).
  • Auch die Raumtemperatur im Wohnbereich ist auf das Verarbeitungsvermögen der Demenzkranken auszurichten, andernfalls droht Stressverhalten (Lind 2011: 310).
  • Außenbereiche wie z. B. Garten, Hof oder Terrassen in demenzsicherer Ausgestaltung sind auch hinsichtlich des psychosozialen Gleichgewichts von großer Bedeutung (Heeg et al. 2004, Mather et al. 1997, McMinn et al. 2000).

Zusammenfassung

Die Demenzlebenswelt und damit auch die Demenzweltgestaltung sind übergreifende Funktionsbereiche der Demenzpflege dahingehend, da hierbei alle wesentlichen Wirkmechanismen der Pflege, Betreuung und Milieugestaltung miteinander verbunden und zugleich auch miteinander abgestimmt werden. In den bisherigen Blogelementen sind viele Faktoren dieser Demenzweltgestaltung bereits dargestellt worden, die hier nochmals kurz angeführt werden:

  • Ritualisierung oder Stetigkeit (Blog 2, Blog 3)
  • Verstärkungsstrategien als Konditionierung (Blog 17)
  • Stadienbezogene Umgangsformen zur Stressregulation (Blog 20)
  • Biografieorientierung im Umgang (Blog 16)
  • Biografieorientierung in der Milieugestaltung (Blog 23)
  • Ablenkungs- und Beruhigungsstrategien („Löschungen“) bei beeinflussbaren spontanen Desorientierungsstrategien (Blog 8)
  • Mitgehen und Mitmachen bei wahnhaften Halluzinationen (Blog 9)
  • Entfernung von Belastungsreizen (Blog 10)
  • Schlüsselreize zur Initiierung und Beendigung von Handlungen (Blog 13)
  • Nachahmungsstrategien zur Ermöglichung von Handlungen (Blog 18)
  • Reizregulationskonzepte zur Vermeidung von Überstimulierung (Blog 15)
  • Verkleinerungsstrategien (Blog 5)
  • Ermöglichungsstrategien bei zwangsähnlichem Desorientierungsverhalten (Blog 12).

Diese Vielzahl an Beeinflussungs- und Lenkungsstrategien zur Herstellung einer größtmöglichen Person-Umwelt-Passung bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium können in ihrer Gesamtheit und Verflechtung als verhaltensbezogene Interventionen (so genannte „nicht-medikamentöse Therapien“) klassifiziert werden. Es gilt hierbei wiederholt zu betonen, dass diese therapeutischen Vorgehensweisen überwiegend intuitiv und damit spontan aufgrund von entsprechenden angeborenen Verhaltensweisen entwickelt wurden. Auf die Parallele zum Verhalten von Müttern im Umgang mit Kleinkindern als Orientierungsrahmen kann diesbezüglich verwiesen werden (siehe u. a. Blog 20).

Literatur

  • Elmstahl, S. et al. (1987) Hospital nutrition in geriatric long-term care medicine. 1. Effects of a changed meal environment. Comprehensive Gerontology, 1: 28–33.
  • Heeg, S. et al. (2004) Freiräume – Gärten für Menschen mit Demenz. Stuttgart: Demenz Support Stuttgart.
  • Heeg, S. et al. (2008) Heimat für Menschen mit Demenz. Internationale Entwicklungen im Pflegeheimbau. Frankfurt: Mabuse.
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Mather, J. A. et al.. (1997) The effect of a walled garden on behavior of individuals with Alzheimer’s. American Journal of Alzheimer’s Disease, 12 (6): 253–257.
  • McMinn, B. G. et al. (2000) Confined to barracks: The effects of indoor confinement on aggressive behavior among inpatients of an acute psychogeriatric unit. American Journal of Alzheimer’s Disease, 15 (1): 36–41.
  • Minde, R. et al. (1990) The ward milieu and its effects on the behaviors of psychogeriatric patient. Canadian Journal of Psychiatry, 35: 133–138.
  • Siegler, R. et al. (2016) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer.

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Kontaktformular). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

2 Gedanken zu “Demenzweltgestaltung im Pflegeheim”

  1. Die vorliegende Kommentierung enthält bezüglich der Demenzpflege neue Impulse und Anregungen, die merklich zur Erleichterung der Pflege und Betreuung beitragen können:

    • Der Hinweis, ein Stofftier (Katze) als Beruhigungs- und Ablenkungsmedium zu verwenden, um kurz das Zimmer verlassen zu können. Hierdurch werden Überstress und eventuell auch wahnhafte Verkennungen vermieden. Diese Erfahrung ist somit eine Ergänzung zu Blog 19 (tätliche Angriffe und wahnhafte Verkennungen).

    • Die Erfahrung, einer sehr aufgeregten Demenzkranken bei der Grundpflege die Hand zum Festhalten anzubieten, ist ein weiterer wirksamer Beruhigungsfaktor. Dies kann zugleich auch als ein Schutzelement für die Pflegende dienen.

    • Der Faktor, bei einem nicht wirksamen Beruhigungs- und Ablenkungsmedium (hier das Spielzeuglämmchen) anschließend ein neues Medium (das Summen) anzuwenden, das in diesem Fall eine positive Wirkung zeigte. Die Erkenntnis: man sollte also immer eine weitere Strategie zur Ablenkung und Beruhigung haben. Und des Weiteren: Summen ist auch ein Beruhigungs- und Ablenkungsmedium. Das ist dahingehend wichtig, weil einige Pflegende es nicht gewohnt sind und es sich vielleicht auch nicht zutrauen, bei der Pflege zu singen. Aber sich vielleicht das Summen zutrauen. Diese Erfahrungen sind Ergänzungen zu Blog 14 („Doppelstrategien“).

  2. Danke für den Blog und die schöne Zusammenfassung. Ich kann noch hinzufügen das es sich als positiv erwiesen hat wenn ich während der Grundpflege den Raum verlassen musste, ich ein Tier z. B. eine Katze aus Plüsch in die Obhut der Bewohnerin gegeben habe mit dem Hinweis:“ Können sie das Kätzchen kurz halten? ich muss grad was holen.“ Eine Verneinung habe ich nicht erlebt. Die Katze brachte ich immer mit zur Grundpflege. Setzte sie dort auf einen Stuhl. Begann dann mit der Waschung.

    Am Freitag habe ich was Anderes probiert. Ich begleitete eine Pflegerin bei der morgendlichen Grundpflege-Tour. Die Kundin wohnte mit ihrem Mann im Bergischen Land (NRW) am Waldrand. Sie hatten früher einen Bauernhof und jetzt noch Schafe. Beide weit über 80 und gehörten zu den Zeugen Jehovas.Er war oft überfordert, ließ aber keine weiteren Hilfen zu.Sie war stark dement und immobil. Sie kratzte und schrie beim Einsetzen der Zahnprothese und bei der Intimpflege. Der Gatte wendete beim Einsetzen auch schon mal Gewalt ein. Mit der Pflegenden hatte ich besprochen, ein Schäfchen mitzubringen und das Summen von Kinderliedern zu probieren.Die Pflegende hat ihr immer die linke Hand zum Festhalten gegeben und mit der rechten Hand gewaschen. Alle Schritte hat sie mit leiser Stimme erklärt. Damit ging auch die Intimpflege. Das Lämmchen wollte sie nicht da hat sie rein gebissen und es weggeschmissen. Ich habe gesummt summ summ summ Bienchen summ herum…..mehrmals. Auf einmal konnte ich deutlich sehen, wie sie den Kopf hob, um mich zu sehen. Ich stand am Fußende. Bei den Zähnen schrie sie erst. Als sie mein Summen vernahm, konnten die Zähne eingesetzt werden. Auch hieß es, man kann sie nicht einreiben. Sie hatte stark ausgeprägte Kontrakturen in den Füssen. Pflanzliches akzeptierte der Ehemann. Ich hatte Arnikasalbe dabei. Die konnte ich problemlos auftragen. Dann habe ich mit der Pflegenden besprochen, täglich nur einen kleinen Bereich mit Hautlotion zusätzlich zu versorgen, da die Haut völlig trocken war und juckte. Das hat sie akzeptiert. Ich hatte nur den Unterschenkel eingecremt, summend. Das wurde akzeptiert.

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