Umgang in der Pflege

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Stadienbezogene Umgangsformen (vorläufiger Arbeitstitel) bei der Körperpflege sind die Inhalte des 20. Blogs. Verschiedene beruhigungsfördernde Strategien der Ansprache und des Umgangs werden angeführt und neurowissenschaftlich erklärt.

Die Kommunikation zur Beruhigung bei der Pflege Demenzkranker wirkt wie ein psychischer Puffer zur Vermeidung von Überstressreaktionen und den damit verbundenen Abstürzen in Realitätsverluste. Die Kommunikation in verbaler und nonverbaler Form mit beruhigenden Elementen besitzt darüber hinaus auch bei Demenzkranken den Effekt, Wohlbefinden und Behagen herbeizuführen bzw. zu steigern.

Hierbei steht der Beziehungsaspekt der verbalen und taktilen Impulse im Zentrum. Die Demenzkranken sollen die Zugewandtheit, Freundlichkeit und die emotionale Wärme der Worte und Berührungen spüren. Es steht hier die Mütterlichkeit („Mama-Prinzip“ oder auch „stadienbezogenes Anpassungsverhalten“) im Vordergrund, denn die Angesprochenen sind im fortgeschrittenen Stadium für diese Zuwendungsformen sehr empfänglich.

Je stabiler und sicherer nun die Pflegenden auftreten und auch wirken, umso sicherer und geschützter empfinden sich die Demenzkranken. An folgenden Beispielen aus der Pflege soll diese beruhigende Kommunikation im Zusammenhang des „stadienbezogenen Anpassungsverhaltens“ verdeutlicht werden (Lind 2011). Hervorgehoben wird an dieser Stelle, dass vor allem die Untersuchung der Sprachwissenschaftlerin Svenja Sachweh neue Impulse und Perspektiven erbrachten. Sie hat in einem Pflegeheim ca. 40 Stunden unmittelbare Kommunikation von Pflegenden und Demenzkranken bei der Morgenpflege per Tonbandgerät aufgezeichnet und anschließend ausgewertet.

Die folgenden Beispiele aus der Praxis zeigen, wie empfänglich Demenzkranke auf die verschiedenen Vorgehensweisen der Stärkung ihrer Persönlichkeit reagieren.

Gespielte Dialoge

Wenn Demenzkranke auf die Ansprache von Pflegenden nicht reagieren, übernehmen die Pflegenden beide Gesprächsrollen. Sie spielen oder täuschen eine Kommunikation vor, die bei den Betroffenen wiederum Beruhigung und Geborgenheit hervorruft (Sachweh 2000: 94).

Ammensprache

Bei Anzeichen von Traurigkeit, Schmerz oder Frustration fallen Pflegende intuitiv in die Ammensprache, die von Müttern meist bei Säuglingen und Kleinstkindern verwendet wird (Sachweh 2000: 168, Sachweh 2002: 111 – siehe auch Blog 16).

Flüstern

Bei Erregung und Unruhe reagieren die Pflegenden mit leiser und ruhiger Ansprache, oft auch Flüstern in der Ammensprache (Sachweh 2002: 246). Diese beruhigende Wirkung des Flüsterns konnte auch von Wojnar beobachtet werden (Wojnar 2007: 91).

Ständige Wiederholungen

Pflegende stellen fest, dass sie sowohl die Pflegehandlungen als auch die begleitende Kommunikation im Sinne eines Rituals ständig wiederholen (persönliche Mitteilung, Sachweh 2000: 120 – siehe auch Blog 3).

Schunkeln und Kraulen

Ebenso wird bei Unruhe und Erregung auf nonverbale Vorgehensweisen der Beruhigung wie Schunkeln und Hin-und Herwiegen seitens der Pflegenden zurückgegriffen (Sachweh 2008: 130). Oft werden auch die Schulter oder der Rücken gekrault.

Zustimmung erbeten

Beiläufig und als zustimmungserheischende Suggestivfrage formuliert sollten die Demenzkranken um ihr Einverständnis für Pflegehandlungen gebeten werden (Sachweh 2000: 105, Sachweh 2008: 172).

Loben

Bei unkonzentrierten und unruhigen Bewohnern beim Waschen und Ankleiden ist das u. a. eine angemessene Vorgehensweise, um die äußerst begrenzte Aufmerksamkeit und das wenige Interesse an diesen Vorgängen zu wecken (Sachweh 2002: 246 – siehe auch Blog 17).

Komplimente

Ständig Komplimente machen bei allen Verrichtungen: Dieses Vorgehen zeigt den Betroffenen, dass sie noch einiges beherrschen. Egal ob es sich hierbei um das Waschen oder das Ankleiden handelt, Komplimente wirken fast immer. Auch Komplimente über das Äußere (Haut, Frisur, Kleidung u. a.) werden von den Demenzkranken aufmerksam registriert und führen zum Wohlbefinden der Angesprochenen (Bowlby Sifton 2007: 315, Lind 2007: 138 – siehe auch Blog 14).

„Krankenschwester-Wir“

Verwendung des „Krankenschwester-Wir“. Besonders bei Pflegehandlungen in den Intimbereichen benutzen Pflegende das „Wir“. Damit wollen sie ausdrücken, dass hier ein gemeinsames Vorgehen von Pflegenden und Bewohnern im Mittelpunkt steht und keine unkontrollierte Fremdeinwirkung (Sachweh 2000: 152).

Neurowissenschaftliche Erkläung

Diese verschiedenen Umgangsformen, die nicht nur in der Pflege, sondern auch in der Betreuung und Begleitung meist intuitiv praktiziert werden, sind ein Indiz für einen relativ unbewussten Anpassungsprozess an das Wahrnehmungs- und Verhaltensvermögen Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium (Reisberg-Skalen – Stadium 6). Die Demenzkranken haben sich in dieser Phase aufgrund des neuropathologischen Abbauprozesses auf das geistige Niveau von 2 – 4jährigen Kleinkindern krankhaft zurückentwickelt (Reisberg et al. 1999). Und die Pflegenden und Betreuenden verhalten sich unbewusst wie Mütter im Umgang mit ihren Kindern: liebevoll zugewandt und gleichzeitig auch sensibel leitend und lenkend (Helleberg et al. 2014, Siegler et al. 2016).

Konsequenzen für die Praxis

Gegenwärtig werden Umgangsformen des „stadienbezogenen Anpassungsverhaltens“ in der Demenzpflege in Fachkreisen teils noch kontrovers beurteilt. Ammensprache, Puppen und Umarmungen u. a. werden als Gegebenheiten einer persönlichkeitsherabmindernden Infantilisierung betrachtet, die aus ethischen Gründen nicht zu billigen seien. Tom Kitwood z. B. lehnt Verhaltensweisen der Infantilisierung als Elemente einer so genannten „malignen bösartigen Sozialpsychologie“ strikt ab (Kitwood 2000: 75).

Berücksichtigt wird von den Vertretern dieser Position hingegen nicht der Sachverhalt, dass es sich bei den stadienbezogenen Verhaltensweisen keinesfalls um Formen der Infantilisierung handelt. Die Infantilisierung besteht aus einer pauschalisierenden und abwertenden Haltung im Sinne einer Altersdiskriminierung mit den entsprechenden Umgangsformen. Stadienbezogene Umgangsformen hingegen sind persönlichkeitsstabilisierende Vorgehensweisen gemäß dem Welterleben und Welterfassen der Betroffenen. Sie können als therapeutische Interventionen zur Stabilisierung des psychosozialen Gleichgewichts klassifiziert werden.

Des Weiteren muss auf den Umstand hingewiesen werden, dass Infantilisieren ein bewusstes abwertendes Verkindlichen bedeutet. Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium hingegen kann man gemäß dieser Definition gar nicht verkindlichen, denn sie sind bereits krankhaft verkindlicht. Es gilt hier nur, sich bei der Pflege und Betreuung an diesen geistigen Erfassungszustand zum Wohle der Betroffenen anzupassen.

Stadienbezogene Umgangsformen sind psychosoziale Kompensationsformen entsprechend der Bedürfnisstruktur Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium. Dieser Personengruppe diese Zuwendung bewusst vorzuenthalten, bedeutet zugleich Entzug von Lebensqualität und Wohlbefinden.

Literatur

  • Helleberg, K. M. et al.(2014) ‘‘Like a Dance’’: Performing Good Care for Persons with Dementia Living in Institutions. Nursing Research and Practice. Volume 2014, Article ID 905972, 7 pages http://dx.doi.org/10.1155/2014/905972
  • Bowlby Sifton, C. (2007) Das Demenz-Buch. Ein „Wegbegleiter“ für Angehörige, Pflegende und Aktivierungstherapeuten. Bern: Verlag Hans Huber
  • Kitwood, T. (2000) Demenz. Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen. Grundlagen, Strategien und Konzepte. Bern: Verlag Hans Huber 2007
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Reisberg, B. et al. (1999) Toward a science of Alzheimer’s disease management: a model based upon current knowledge of retrogenesis. International Psychogeriatrics, 11 (1): 7-23
  • Sachweh, S. (2000) «Schätzle hinsitze!». Kommunikation in der Altenpflege (2., durchgesehene Auflage), Frankfurt am Main: Peter Lang.
  • Sachweh, S. (2002) «Noch ein Löffelchen?». Effektive Kommunikation in der Altenpflege. Bern: Verlag Hans Huber.
  • Sachweh, S. (2008) Spurenlesen im Sprachdschungel. Kommunikation und Verständigung mit demenzkranken Menschen. Bern: Verlag Hans Huber.
  • Siegler, R. et al. (2016) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer
  • Wojnar, J. (2007) Die Welt der Demenzkranken – Leben im Augenblick. Hannover: Vincentz Verlag.

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Kontaktformular). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

3 Gedanken zu “Umgang in der Pflege”

  1. Ich interessiere mich momentan sehr für die Pflege. Meine Großmutter ist nun pflegebedürftig. Das „Krankenschwester-Wir“ finde ich sehr interessant, da es sicher beruhigend auf zu Pflegende wirkt.

  2. Zu dem angeführten Fall lässt sich Folgendes vermutlich annehmen:
    Der Impuls zur Ablenkung von der belastend empfundenen Körperpflege, das Singen von vertrauten Kinderliedern, zeigt nicht immer die erhoffte Wirkung.
    Erklärt werden könnte dieser Tatbestand mit der Annahme, dass die Patientin unterschiedliche Tagesformen dahingehend zeigt, dass zum Beispiel bei einer guten Tagesform der Reiz Singen zur Ablenkung ausreichend ist, während bei einer schlechten Tagesform, die sich in einem höheren Stresszustand zeigen könnte, dieser Reiz Singen keine Wirkkraft im Sinne einer Ablenkung mehr besitzt (siehe hierzu Blog 8 und 9).
    Zu empfehlen ist hier, einen stärkeren Reiz zur Ablenkung zu verwenden. Zum Beispiel ein Reizgefüge, das mehrere Sinnesorgane fesselt: eine Puppe, die man sieht, die man fühlt und an der man hantieren kann. Die Darbietung der Puppe sollte verbal durch die Pflegende begleitet werden durch Aufforderungen wie, sich die Puppe anzuschauen etc.
    Sollten Sie diese Ablenkungsreize erproben wollen, wäre von Interesse, wenn Sie ihre Erfahrungen diesbezüglich mitteilen könnten.
    Zur Ergänzung: In Blog 8 werden Außenreize wie z. B. Sprechen oder Singen als „Löschungsreize“ bei belastenden Desorientierungsphänomenen erläutert. In dem vorliegenden Fall haben Außenreize wie das Singen die Funktion zur Ablenkung bei belastenden Gegebenheiten wie die Körperpflege. Dies wird eingehend in Blog 16 beschrieben (Doppelstrategien zur Ablenkung von der Pflege).

  3. Ich bin sehr interessiert an aggressivem Verhalten (Schreien, Personal boxen, kratzen, mit Dingen werfen, notwendige pflegerische Massnahmen nicht zulassen) im fortgeschrittenen Stadium.
    Wie sind Ihre Erfahrungen hier?
    Ich spreche den Patienten dann nur beim Vornamen und + Sie-Form an.
    Bestätige seine Ablehnung und bedauere, dass wir das machen müssen mit dem Versprechen, ganz schnell zu sein.
    Bleibt der Patient gereizt und abweisend, habe ich gute Erfahrung mit einer plötzlichen Veränderung der emotionalen Atmosphäre gemacht: eine 2. Pflegekraft dazurufen und ich fange an, ein Kinderlied zu singen ( „Alle Vögel sind schon da“ oder „Auf einem Baum ein Kuckuck sass“) Während Kollegin und ich rasch pflegerisch das Nötigste machen, wirkt Pat. erstmal verblüfft, ist still, lässt machen… und dann teilen wir mit ihm unsere Freude des Vorbeiseins.
    Sie werden Beruhigunsmittel, ein halbes Benzo vorab vielleicht im Hinterkopf haben, aber bei manchen Persönchen geht das nicht, weil sie darauf überreagieren.
    Auch funktioniert og.Vorgehensweise nicht immer, deshalb erbitte ich Ihren Rat.
    Ich arbeite in einem Krankenhaus, psychiatrische Abteilung.
    So wie oben beschrieben ist zwar im einstelligen Bereich pro Jahr, doch maximale Herausforderung der Professionalität.
    Vielen Dank und
    freundliche Grüsse
    Andrea Rodner

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