Biografisches als Stütze in der Kommunikation

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Biografisches als Stütze bei der Kommunikation in der Pflege und Betreuung ist der Inhalt des 16. Blogs. Biografische Elemente im Umgang ermöglichen als Schlüsselreize oft erst die Zusammenarbeit bei der Pflege. Es werden verschiedene Kommunikationsformen dargestellt und neurowissenschaftlich erklärt.

Biografische Elemente in der Kommunikation mit Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium bedeutet der Rückgriff auf episodische und teils auch prozedurale Langzeitgedächtnisinhalte zur Ermöglichung der Kommunikation und damit zugleich auch der Ermöglichung der Pflege und Betreuung. Der neurowissenschaftliche Erklärungszusammenhang hierbei besteht aus dem Modell des Schlüsselreizes oder des Schalterprinzips (siehe Blog 13). So werden im Umgang mit den Erkrankten durch lebensgeschichtlich geprägte Reizmuster Erkenntnisprozesse dergestalt herbeigeführt, dass die Betroffenen sich angesprochen fühlen und dann meist auch bereit für eine Zusammenarbeit bei der Pflege oder Betreuung sind. Im Folgenden werden einige biografisch geprägte Kommunikationsstrategien angeführt.

Vertraute Sprüche und Lieder

Beispiel 1: Eine Bewohnerin hatte einen Lieblingsspruch: „Das ist ja wunderbar, die Kuh mit dem Pferdehaar.“ Wenn die Pflegende dies sagte, lachte die Angesprochene und war sofort mit der Pflegenden und der Situation vertraut, so dass es keine Schwierigkeiten bei der Pflege gab (Lind 2007: 145).

Beispiel 2: Wenn eine Bewohnerin ihren Lieblingsspruch „Man sitzt hier wie Butter an der Sonne“ vernahm, war sie direkt zugänglich (Lind 2011: 129).

Beispiel 3: Bei einer morgens zum Aufstehen nicht bereiten Bewohnerin wirkte das aus ihrer Kindheit vertraute Lied „Meine Lieben, es ist halb sieben, aufstehen“. Nach einiger Zeit entwickelte sich folgende Interaktion gemäß dem Schlüssel-Schloss-Prinzip: Wenn die Pflegende ins Zimmer trat und mit dem Lied anfing „Meine Lieben ..“, begannen die Bewohnerinnen ihrerseits in den Gesang einzustimmen (Lind 2006).

Jargon

Beispiel 4: Eine Demenzkranke, die früher in einer „verruchten Kneipe“ tätig war, verweigerte meist recht aggressiv sowohl die Grund- als auch die Behandlungspflege (Verbandswechsel). Als die Pflegende jedoch auch in den rauen zotigen Jargon der Betroffenen wechselte und dazu noch schlüpfrige Witze erzählte, hellte sich das Gesicht der Angesprochenen auf und sie fing an zu lachen. Sie berichtete dann von ihrer Arbeit und wehrte sich nicht mehr gegen die Pflege (Lind 2011: 129).

Beispiel 5: Ein ehemaliger Stahlarbeiter reagierte im Heim nie auf die Anrede „Herr Schmidt“. Er fühlte sich einfach nicht angesprochen. Und ließ sich daraufhin auch nicht zur Mitarbeit bei der Pflege anregen. Erst als der Bewohner durch Hinweise der Angehörigen recht rau und im knappen Befehlston eines Vorarbeiters angesprochen wurde, war ihm bewusst, dass er gemeint war. Aus „Herrn Schmidt“ wurde der „Jupp“, der von den Pflegenden geduzt wurde, denn das „Sie“ war ihm derart fremd, dass er es nie auf sich bezogen hat (Lind 2011: 129).

Vertraute Namen

Beispiel 6: Eine oft aggressive Bewohnerin wurde umgehend ruhig, wenn der Name ihrer Enkelin oder ihres Hundes erwähnt wurde (Lind 2011: 129).

Duzen und Ammensprache

Beispiel 7: Eine Bewohnerin bestand darauf, geduzt und mit ihrem Vornamen „Anne“ angesprochen zu werden. Sie war früher als Hausmädchen tätig gewesen und daher keine andere Anrede gewohnt (Lind 2007: 145).

Beispiel 8: Eine Demenzkranke wurde bisher immer mit „Sie“ angesprochen, bis Pflegende bei der Körperpflege feststellten, dass die Betroffene sich plötzlich nicht mehr angesprochen fühlte und mit Verunsicherung reagierte. Als die Pflegende dann zum „Du“ wechselte, war das vertraute Verhältnis wiederhergestellt (persönliche Mitteilung).

In einer empirischen Erhebung über die Kommunikation mit Demenzkranken bei der Pflege wurde festgestellt, dass oft zur Beruhigung neben dem „Du“ auch intuitiv die Ammensprache („Baby-Talk“) verwendet wird (Sachweh 2000 und 2002).

Neurowissenschaftliche Erklärung

Vergangenheit wird Gegenwart – das ist Erfahrungswissen und zugleich eine Erkenntnis in der Demenzpflege und der Demenzbetreuung. Der immense jahrzehntelang erworbene Schatz an episodischen Langzeitgedächtnisinhalten bestimmt den Alltag in der Pflege und Betreuung, denn er kann nicht mehr situationsspezifisch kontrolliert werden, fehlt doch der dafür erforderliche Realitätsfilter (siehe Blog 8). Pflegenden und Betreuenden bleibt dann bei diesem verwirrenden Gemenge von verschiedenen Zeitebenen nichts anderes übrig, als hier mitzumachen, gilt es doch die extrem Hilflosen zu erreichen und sie in die Pflege und Betreuung einzubinden. Und konkret heißt das u. a. den Sprachstil der Demenzkranken zu übernehmen. Hierzu gibt es keine Alternative.

Bei dem Umgang und damit auch bei der Kommunikation mit Demenzkranken gilt es, die Regel zu berücksichtigen, dass für Demenzkranke ein deutlicher Zusammenhang zwischen den Komponenten Vertrautheit, Vorhersehbarkeit und Sicherheit besteht, um ein relativ stabiles psychosoziales Gleichgewicht zu gewährleisten. Und ein Kernelement der Vertrautheit ist neben der Konditionierung das biografische und damit das episodische Langzeitgedächtnis.

Konsequenzen für die Praxis

Es darf im Bereich der Kommunikation mit Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium keine Verbote und Einschränkungen hinsichtlich des Duzens und der Ammensprache geben. Es muss leider darauf hingewiesen werden, dass es gegenwärtig noch viele stationäre Einrichtungen der Altenhilfe in Deutschland gibt, in denen diese Verbote gelten.

Die hier angeführten Kommunikationsweisen auf der Grundlage der Lebensgeschichte der Betroffenen sind essentielle Bestandteile ihrer Biografie und damit zugleich auch Bestandteil ihrer Identität. Verzichtet man nun gezielt auf diese vertrauten Umgangsformen, dann verzichtet man auf wesentliche Strategien, den Demenzkranken Empfindungen der Vertrautheit, Sicherheit und auch Geborgenheit vermitteln zu können. Und lässt sie damit zwangsläufig in einem Zustand der Verunsicherung und Entfremdung. Das sind gravierende Fehler in der Demenzpflege, die auf der Grundlage der Gewährleistung der seelischen Unversehrtheit nicht geduldet werden können.

Allen Mitarbeitern in der Demenzpflege (Pflege, Betreuung und Hauswirtschaft) wird zur eigenen rechtlichen Absicherung geraten, diese Kommunikationsformen zu dokumentieren und mit den Vorgesetzten abzusprechen.

Literatur

  • Lind, S. (2006) Die biografische Orientierung in der Pflege bei Demenz: Den Zugang zum Menschen öffnen. Pflegezeitschrift, 59 (8): 474–477
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Sachweh, S. (2000) „Schätzle hinsitze!“. Kommunikation in der Altenpflege (2., durchgesehene Auflage), Frankfurt am Main: Peter Lang
  • Sachweh, S. (2002) „Noch ein Löffelchen?“. Effektive Kommunikation in der Altenpflege. Bern: Verlag Hans Huber

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Ein Gedanke zu “Biografisches als Stütze in der Kommunikation”

  1. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass es von Außenstehenden, aber auch vom Personal selbst, oft als Respektlosigkeit empfunden wird, wenn Menschen mit Demenz vom Pflegepersonal geduzt werden. Das würde ich so sehen, wenn jemand neu auf die Station kommt und vornherein alle Bewohner duzt. Das geht natürlich nicht. Wenn man aber den Bewohner kennt, mit ihm in täglichem Kontakt ist und ihm das Gefühl von Zuhause sein, Vertrautheit und Geborgenheit geben will, dann ist das „Du“ unerlässlich. Wer könnte sich in seinem privaten Umfeld wohl fühlen, wenn er von allen mit „Sie“ und seinem Nachnamen angesprochen wird?? Zumal Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium oft mit ihrem angeheirateten Namen gar nichts mehr anfangen können. Eine Bewohnerin bat darum, sie „Lissi“ zu nennen, so habe ihre Mutter sie immer genannt und als das so befolgt wurde, freute sie sich jedes Mal über die vertraute Anrede.
    Herr Lind, meiner Meinung nach müssten Ihre Erkenntnisse in Fortbildungen ihren festen Platz finden. Es macht den Umgang mit demenzkranken Bewohnern um einiges leichter, wenn man versteht, warum die Personen sich so verhalten, wie sie es gerade tun.

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