Doppelstrategien in der Pflege

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Doppelstrategien“ (Arbeitsbegriff) in der Demenzpflege sind der Inhalt des 14. Blogs. Hierbei handelt es sich um Ablenkungsstrategien, um das Belastungserleben in der Pflege zu vermeiden. Diese Umgangsformen basieren auf Aufmerksamkeitsdefiziten, die neurowissenschaftlich erklärt werden.

Die Körperpflege Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium ist eine extreme Belastung für die Beteiligten, die Demenzkranken und oft nicht minder für die Pflegenden. In diesem äußerst sensiblen Handlungsgefüge des unmittelbaren Körperkontaktes treten recht häufig Symptome der situationsbezogenen Überforderung auf, die sich teils sind in Pflegeverweigerung bzw. Ablehnung der Pflege (Schäufele et al. 2008: 141) und auch in Handlungen verbaler und auch tätlicher Aggression gegenüber den Pflegenden äußern (Aström et al. 2002).

Um den Belastungsgrad in der Pflege Demenzkranker deutlich zu senken und um die Pflege überhaupt oft erst zu ermöglichen, haben Pflegende im Rahmen ihrer alltäglichen Tätigkeit meist spontan und damit auch intuitiv Modelle des Umgangs in der unmittelbaren Pflege entwickelt. Hierbei handelt es sich überwiegend um Vorgehensweisen der Ablenkung und gleichzeitig auch Beruhigung, wie die folgenden Beispiele zeigen. „Doppelstrategien“ werden sie deshalb bezeichnet, weil hier die konkreten Pflegehandlungen immer zugleich auch mit spezifischen Ablenkungs- und Beruhigungshandlungen verbunden sind.

Strategie „fiktive Selbstpflege“

Demenzkranke sind oft mit einem Pflegeprozess dergestalt überfordert, dass sie bereits nach wenigen Minuten unruhig werden und Anzeichen von Unwillen und beginnendem Stress zeigen. Um sie nun von der belastenden Pflegeprozedur abzulenken, wird ihnen die „fiktive Selbstpflege“ eingeredet bzw. weisgemacht. Es handelt sich hierbei um eine suggestive Beeinflussung, wie folgendes Beispiel zeigt:

Beispiel 1: Einer Bewohnerin wurde am Waschbecken ein nasser Waschlappen mit der Aufforderung, sich das Gesicht zu waschen, in die Hand gedrückt. Die Pflegende teilte ihr dabei mit, dass sie ihr bei der Pflege etwas helfen würde. Während nun die Demenzkranke mit ständiger verbaler positiver Unterstützung der Pflegenden („Das machen Sie aber prima, weiter so!“) mit dem Waschlappen im Gesicht zugange war, wurde parallel die restliche Körperpflege vollzogen, ohne dass die Demenzkranke dies bemerkte (persönliche Mitteilung).

Strategie „In die Vergangenheit zurückführen“

Pflegende sind oft mit der Lebensgeschichte der Demenzkranken vertraut und wissen somit um die emotional bedeutsamen Ereignisse bzw. Perioden ihrer Biografie. Dieses Wissen nutzen sie meist intuitiv, um die Bewohner von den sie überfordernden Gegebenheiten der Pflegehandlungen abzulenken. Es handelt sich hierbei um die Aktivierung positiver episodischer Gedächtnisinhalte, wie das folgende Beispiel zeigt:

Beispiel 2: Eine Pflegende wusste um den früheren beruflichen Kontext einer demenzkranken Bewohnerin (Hutmacherin mit eigenem Geschäft), die aus Furcht vor der Pflege immer in den Zustand einer Schockstarre geriet. Bevor die Pflegende mit der Pflege begann, wurde die Betroffene mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, indem die Mitarbeiterin ihr fast schon ritualisiert immer dieselben Fragen über ihre Tätigkeit und ihr Geschäft (Hutmoden, Kunden, Umsatz etc.) stellte. Während die Bewohnerin enthusiastisch über ihr Leben berichtete, wurde sie gleichzeitig ausgezogen, gewaschen und wieder angezogen, ohne dass sie sich dagegen sträubte (Lind 2007: 147).

Ähnliche Erfahrungen wurden bei pflegeresistenten Bewohnern gemacht, die zum Beispiel auf ihre erfolgreiche Sportkarriere angesprochen wurden, um sie damit von der Pflege abzulenken. Entscheidend hier ist die subjektive Bedeutsamkeit des lebensgeschichtlichen Geschehens. Nur dann besitzen die Langzeitgedächtnisinhalte das erforderliche Potential für eine Ablenkungsmaßnahme.

Strategien „Positive Impulse“

Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium zeigen u. a. auch bei der Pflege Symptome von Furcht, Unruhe und mangelnder Selbstgewissheit, denn sie spüren oft ihre Unzulänglichkeit hinsichtlich einer selbständigen Lebensgestaltung. Damit die Pflegehandlungen nun nicht zu Empfindungen der Überforderung und Verunsicherung führen, werden Handlungen sowohl zur Ablenkung als auch zugleich zur Aufmunterung und Bestätigung praktiziert:

Beispiel 3: Gemeinsam Singen, Reden, Scherzen und vor allem Komplimente bei der Pflege lenken ab und schaffen zugleich eine Atmosphäre des Wohlbefindens. Wenn dann auch noch Perspektiven wie das bevorstehende Frühstück mit Kaffee und Brötchen gegeben werden, dann nehmen die Demenzkranken die Pflegehandlungen meist kaum wahr (Lind 2011: 229).

Strategie „Ablenkungsgegenstände“

Pflegende verwenden in belastenden Pflegesituationen bestimmte Gegenstände als Ablenkungsimpulse, wie die folgenden Beispiele zeigen:

Beispiel 4: Ein Bewohner, der sich nur recht unwillig bei der Pflege helfen ließ, konnte durch Gespräche über seine Lieblingsbeschäftigung, die Gärtnerei, oft beruhigt und abgelenkt werden. Doch an manchen Tagen half auch dies nicht. Dann drückte man ihm zur Ablenkung und Beruhigung einen Katalog für Gartengeräte in die Hand (Lind 2011: 128).

Beispiel 5: Eine Demenzkranke zeigte beim Transfer zur Toilette immer Empfindungen der Unruhe und Furcht. Daraufhin wurde ihr vorher immer eine Tüte Chips angeboten, die sie während des Transfers aß und zugleich von der Pflegehandlung ablenkte (Camp 2015: 90f).

Neurowissenschaftliche Erklärungen

Wie bereits im 8. Blog festgestellt wurde, kann bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium und bei Kleinkindern davon ausgegangen werden, dass Aufmerksamkeit und Bewusstsein aufgrund der pathologisch veränderten bzw. unausgereiften Neurophysiologie quasi identisch sind (Lind 2011: 79f). Die Aufmerksamkeit wiederum wird in den Neurowissenschaften untergliedert in „Daueraufmerksamkeit“, „selektive Aufmerksamkeit“ und „geteilte Aufmerksamkeit“ (Markowitsch et al. 2005: 64). Diese kognitiven Fähigkeiten sind bei Demenzkranken bereits in frühen Stadien aufgrund des Abbauprozesses im Bereich des Hippocampus stark beeinträchtigt (Namazi et al. 1992, Perry et al. 1999, Johannsen et al. 1999).

Der entscheidende Faktor hinsichtlich der Wirksamkeit der „Doppelstrategien“ besteht aus dem Unvermögen Demenzkranker, mehrere Impulse oder Reize gleichzeitig im Kurzzeitgedächtnis und damit zugleich auch im Bewusstsein halten zu können. Sie sind somit nicht mehr zur geteilten Aufmerksamkeit fähig. Konkret bedeutet dies im Umgang mit Demenzkranken, dass gezielt und sehr einprägsam und deutlich ein bestimmtes Reizgefüge, wie in den obigen Beispielen gezeigt, mit dem Ziel offeriert wird, hierdurch von den belastenden Gegebenheiten der Pflegehandlungen abzulenken. Bei den „Doppelstrategien“ in der Demenzpflege handelt es sich somit um sehr wirksame Lenkungs- und Beeinflussungsstrategien zur Bewältigung des Alltags und zugleich auch zur Steigerung des Wohlbefindens aller Beteiligten.

Literatur

  • Aström, S. et al. (2002) Incidence of violence towards staff caring for the elderly. Scandinavian Journal of Caring Sciences 16, 66–72
  • Camp, C. J. (2015)Tatort Demenz – Menschen mit Demenz verstehen. Bern: Hogrefe Verlag
  • Johannsen, P. et al. (1999) Cortical responses to sustained and divided attention in Alzheimer’s disease. NeuroImage 10: 269-281
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Markowitsch, H.J. et al. (2006) Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta (2. Auflage)
  • Namazi, K. et al. (1992) How familiar task enhance concentration in Alzheimer’s disease patients. The American Journal of Alzheimer’s Disease and Related Disorders & Research, 7 (1): 35–40
  • Perry, R.J. et al. (1999) Attention and executive deficits in Alzheimer’s disease. A critic review. Brain, 122: 383-404
  • Schäufele, M. et al. (2008) Demenzkranke in der stationären Altenhilfe. Aktuelle Inanspruchnahme, Versorgungskonzepte und Trends am Beispiel Baden-Württembergs. Stuttgart: Kohlhammer Verlag.

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2 Gedanken zu “Doppelstrategien in der Pflege”

  1. Wie gut so ein Ablenkungsmanöver funktionieren kann, zeigen folgende Beispiele: Eine Bewohnerin wehrte sich regelmäßig gegen pflegerische Handlungen, indem sie die Pflegekraft mit den Händen weg schob und mehrfach „Nein, nein“ sagte. Als wir herausgefunden hatten, dass sie alte Schlager liebte, legten wir ihr vor der Pflege eine CD ein und während sie mit Hingabe „Liebeskummer lohnt sich nicht, my darling“ sang und im Takt die Hüften schwang, konnte man sie leiten, waschen und anziehen, ohne dass sie es registrierte.
    Eine andere Bewohnerin ekelte sich vor dem Essen, wenn es vor ihr stand und stocherte nur angewidert darin herum, ohne etwas zu sich zu nehmen. Natürlich boten wir ihr unterschiedliche Dinge an, aber es war immer dasselbe. Was sie liebte, war, aus dem Fenster zu schauen und draußen die Leute, Autos und alles, was sich sonst dort bewegte, zu beobachten. Daraufhin zogen wir uns zu den Mahlzeiten mit ihr in ihr Zimmer zurück, setzten sie in ihren Sessel vor das große Fenster und während sie mit großem Interesse alles verfolgte, was draußen vor sich ging, konnte man ihr nach und nach die Mahlzeiten anreichen.

    1. Diese Ablenkungsmanöver sind m. E. äußerst interessant und innovativ zugleich aus zweierlei Gründen:
      Im ersten Beispiel wird ein Medium (Musik per CD) eingesetzt. Bei bisherigen Ablenkungsmaßnahmen haben die Pflegenden entweder geredet oder ein bekanntes Lied teils zusammen mit der Demenzkranken gesungen. Wenn nun vertraute Musik wie hier die alten Schlager per CD ebenso als Ablenkung wirksam sein sollte, dann sollte dies vertieft und zugleich auch propagiert werden, denn manchmal sind Pflegende zum Singen nicht in der Lage oder vielleicht nicht in der Stimmung. Oder sie trauen sich das Singen einfach nicht zu.
      Beim zweiten Beispiel ist von Interesse, dass hier zwei Tätigkeiten gleichzeitig geschehen: Beobachten und Essen. Geht man von der Annahme aus, dass Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium nicht mehr zur geteilten Aufmerksamkeit fähig sind, dann ist bie diesem Beispiel die Aufmerksamkeit durch das Beobachten „gefesselt“, während die Nahrungsaufnahme eher unbewusst und damit automatisiert geschieht. Theoretisch könnte hier bei unwilligen Essern ebenso wie im ersten Fall mit Medien (z. B. Musik per CD oder Lieblingsfilm per Video) als wirksame Ablenkungsimpulse gearbeitet werden, um die Nahrungsaufnahme zu gewährleisten.

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