Stress in der Demenzpflege: Empfehlungen

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Empfehlungen für die Rahmenbedingungen der Demenzpflege sind der Inhalt des 22. Blogs. Es werden verschiedene Facetten dieser Belastungen angeführt.

Demenzpflege als „Abenteuer- und Überraschungspflege“ (Lind 2011) muss ständig den Spagat zwischen Sicherheit vermittelnder Stetigkeit und durch Bewohnerverhalten verursachte Flexibilität herstellen (siehe Blog 21). Drei Faktoren beeinflussen das Ausmaß einer angemessenen Demenzpflege besonders:

  • Zeitreserven
  • Selbständigkeit
  • Handlungssicherheit.

Wenn diese Faktoren umgesetzt werden, dann sind wesentliche Voraussetzungen für ein demenzspezifisches und zugleich auch anregendes Arbeitsmilieu in den Wohnbereichen geschaffen.

Zeitreserven

Demenzpflege besteht im Gegensatz zur reinen körperlichen Pflege oder Grundpflege bei Bewohnern ohne demenzielle Erkrankungen zusätzlich aus der Betreuung in den Zeiträumen ohne unmittelbare Pflegehandlungen. Der Grund hierfür liegt in dem Sachverhalt, dass Demenzkranke extrem hilfelose Personen sind. Sie benötigen nicht nur Zuwendungen bei den Alltagsverrichtungen wie z. B. Waschen, Ankleiden und Essen, sondern auch Zuwendung und Hilfestellung in den Phasen ohne pflegerische Versorgung, den so genannten „Zwischenphasen“. Es muss hierbei immer wieder ins Bewusstsein gebracht werden, dass Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium sich im Rückentwicklungsstadium eines 2- bis 4-jährigen Kindes hinsichtlich ihres geistigen und körperlichen Verhaltens befinden (Reisberg et al. 1999, Siegler et al. 2016). Entsprechend besteht ein Bedarf an Aufsicht und persönlicher Zuwendung. Es kann somit eine direkte Parallele zur Kinderkrippe und zum Kindergarten hinsichtlich der Aufsicht- und Fürsorgepflicht gezogen werden (Lind 2011).

In folgenden Feldern der Pflege und Betreuung Demenzkranker sind Zeitreserven oder Zeitpuffer unabdingbar. Ohne dieses Bewusstsein, über eine zusätzliche Menge Zeit zu verfügen, würde bei den Pflegenden unbewusst Überforderungsstress und Hektik entstehen:

Unvorbereitete Mehrarbeit

Besonders hierbei sind die Folgen der starken Inkontinenz (besonders Kotschmierereien) hervorzuheben. Doch auch das Suchen nach verlegten Dingen wie Gebiss, Brillen, Hörgeräte kostet Zeit. Auch das Sortieren fremder Kleidung und anderer Utensilien aufgrund des Horte- und Sammeltriebes nimmt Zeit in Anspruch.

Unterschiedliches Bewohnerverhalten (Schwankungen in der Tagesform, Verwirrtheitszustände, Realitätsverluste u. a.)

Durch unterschiedliche Tagesformen kann sich der Zeitaufwand in der Pflege manchmal deutlich verlängern. Auch wahnhafte Halluzinationen können zur Ausdehnung der Pflegezeit führen, wenn z. B. vor der Pflege erst einmal „Tiere“ verscheucht oder gefüttert werden müssen, oder „fremde Männer“ mit Aufwand vertrieben werden müssen (siehe Blog 10).

Regulierung und Stabilisierung des sozialen Milieus

Wenn kollektive Unruhe und Unsicherheit bei den Demenzkranken festzustellen ist, dann gilt es spontan, gemeinschaftliche Beruhigungsimpulse wie gemeinsames Singen oder die Bildung eines Stuhlkreises mit dem Vorlesen von Märchen zu gestalten. Es kann auch erforderlich sein, mit mehreren Bewohnern im Garten spazieren zu gehen, damit sie sich beruhigen können.

Zeitreserven in der Pflege lassen sich u. a. durch folgende Rahmenbedingungen in der Arbeitsorganisation in den Wohnbereichen absichern:

  • Selbstbestimmung in der Einteilung der Arbeit (flexible Dienstplangestaltung)
  • Integration des sozialen Dienstes und der Hauswirtschaftsmitarbeiter in die Pflegegruppe mit dem Effekt, dass mehr Mitarbeiter für Ausgleichs- und Ergänzungstätigkeiten bei deutlichen Zeitverzögerungen zur Verfügung stehen

Zeitreserven realisieren sich somit nicht nur in dem Faktor, über etwas mehr Zeit bei der Pflege zu verfügen. Sie realisieren sich darüber hinaus auch in dem Faktum, dass eine größere Gruppe von Personen zur Unterstützung und Hilfe bei der übergreifenden Aufgabe der Milieugestaltung zur Verfügung steht (Lind 2011).

Selbständigkeit

Wenn die Demenzpflege, wie bereits mehrfach angeführt, mit ständigen Unabwägbarkeiten verbunden ist, dann bedarf es nicht nur ein Plus an Zeit, um Ruhe, Ordnung und Bewohnerzufriedenheit nach Phasen eines Durcheinanders wieder herzustellen. Es bedarf ergänzend auch der Entscheidungs- und Handlungsfreiheit bei der Pflege und Betreuung, um situationsgerecht die nötigen Schritte hin zu einer Normalisierung der aus dem Gleichgewicht geratenen Lage herbeizuführen.

Diese erforderliche Selbstbestimmung der Pflegenden in einem Demenzwohnbereich und allgemein bei der Pflege Demenzkranker umfasst u. a. folgende Faktoren, über die die Pflegenden selbst entscheiden sollten (Lind 2011):

Was und was nicht gemacht wird

Wenn z. B. eine Pflegende feststellt, dass eine Demenzkranke in ihrer augenblicklichen Verfassung zu unruhig und zu verunsichert für die Pflege ist, dann kann sie entscheiden, auf die Körperpflege zu verzichten, um die Bewohnerin nicht noch mehr in Aufregung zu versetzen. Vielleicht wird sie die Pflege nachholen, wenn die Betroffene im Laufe des Tages sicherer und ausgeglichener werden sollte.

Wann etwas gemacht wird

Wenn eine Pflegende bemerkt, dass mehrere Bewohner in dem Wohnbereich verängstigt und verschüchtert sind, dann wird sie z. B. auf die gerade anstehenden Tätigkeiten wie Betten machen oder Wäsche einräumen verzichten und sich den Bewohnern zur Beruhigung zuwenden.

Wie intensiv etwas gemacht wird

Wenn sich bei der morgendlichen Pflege herausstellen sollte, dass die Bewohnerin aufgrund ihrer einschränkten Tagesform mit einer „Ganzwäsche“ überfordert ist, dann kann sie sich zum Wohle der Betroffenen mit einer „Teilwäsche“ begnügen.

Konkret heißt Selbständigkeit in der Pflege Demenzkranker, folgende Entscheidungen bezüglich einer bestimmten Aufgabe vornehmen zu können:

  • Weglassen
  • Kürzen
  • Ausweiten
  • Verschieben
  • Delegieren.

Pflegende beklagen, dass ihnen nicht ausreichend Gestaltungsmöglichkeiten bei der alltäglichen Pflegepraxis eingeräumt werden. Die durch die Bewohner hervorgerufene Flexibilität in der Lebenswelt erfordert jedoch schnelles und selbständiges Handeln. Pflegende möchten überwiegend in die Lage versetzt sein, ihre Arbeitszeit selbst einzuteilen, um die teilweise unvorhersehbaren Ereignissen bewältigen zu können (Zimber et al. 1999:178, Berger et al. 2006, Band I: 24, Reggentin et al. 2006: 113).

Es bedarf an dieser Stelle des ausdrücklichen Hinweises, dass nicht jede Pflegende die Bereitschaft zur Handlungs- und Entscheidungsfreiheit besitzt. Ein nicht unbeträchtlicher Anteil der Pflegenden fühlt sich schnell überfordert, wenn von ihnen selbständige Entscheidungen und Handlungen erwartet werden. Diese Mitarbeiter fühlen sich sicherer, wenn sie gemäß Vorgaben der Vorgesetzten ihre Arbeit durchführen können. Dies sollte bei der Organisierung der Handlungen und der Milieugestaltung Berücksichtigung finden (Lind 2011).

Handlungssicherheit

Mit Sicherheit in der Demenzpflege unter Berücksichtigung der Gestaltung eines anregenden Arbeitsmilieus ist vorrangig die Verhaltenssicherheit der Pflegenden gemeint. Das Idealbild der Pflegenden in der Demenzpflege ist eine Mitarbeiterin, die Ruhe und Gelassenheit und zugleich auch Wärme und Geborgenheit ausstrahlt. Sie vereinigt dann in saloppen Worten das „Moses-Prinzip“ (ihre ruhigen und sicheren Anordnungen sind „Gesetz“) (Helleberg et al. 2014, Lind 2011), das „Mama-Prinzip“ (Zuwendung und Schutz) und auch das Prinzip Geduld („Engelsgeduld“) (Lind 2011).

Wie bereits mehrfach erwähnt, befinden sich Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium im so genannten Rückentwicklungsalter eines zwei- bis vierjährigen Kindes, das ständiger Zuwendung und auch Orientierung bedarf. Somit stehen folgende Aufgabenfelder im Mittelpunkt der Pflege und Betreuung dieser Demenzkranken (Lind 2011):

  • Lenken und Ablenken
  • Beruhigen und soziale Nähe vermitteln
  • Anregungen geben.

Wenn Pflegende für Demenzkranke eine positive Leitfigur darstellen wollen, benötigen sie ein bestimmtes Maß an Selbstsicherheit und Selbstvertrauen. Das Ideal ist ein souveränes Auftreten, also sich als Pflegende in der Demenzpflege den Anforderungen gewachsen zu fühlen.

Wie verschiedene Erhebungen zeigen, ist diese Handlungssicherheit bei den Pflegenden im Umgang mit Demenzkranken gegenwärtig in den Heimen in Deutschland noch nicht die Regel (Reggentin et al. 2006: 116, Zimber et al. 1999: 177).

Ein entscheidendes Element zur Förderung der Verhaltenssicherheit in der Demenzpflege besteht aus einem mitarbeiterorientierten Führungsstil. Dieser Führungsstil lässt sich u. a. an folgenden Merkmalen festmachen:

  • ein Minimum an Vorgaben, Richtlinien und Kontrollen (nur die gesetzlich vorgeschriebenen Regelungen)
  • Mitarbeitern größtmögliche Handlungs- und Entscheidungsspielräume und Selbstkontrollen einräumen
  • Transparenz hinsichtlich aller wichtigen Informationen und Entscheidungen
  • Rückhalt und Unterstützung durch die Leitung (u. a. bei Konflikten mit Angehörigen)
  • konkrete Arbeitserleichterungen
  • Möglichkeiten zum gemeinsamen Überdenken des Geschehens geben.

Ein weiteres Element für die Handlungssicherheit im Umgang mit Demenzkranken besteht aus der Berufserfahrung. Jahrelanger Umgang mit Demenzkranken führt zu einem reichhaltigen Erfahrungsschatz, der die Grundlage für sicheres und demenzspezifisches Verhalten bei der Pflege und Betreuung bildet.

Diese Berufserfahrung kann eine Schutzfunktion im Sinne eines Stresspuffers enthalten, wenn routinierte und verhaltenssichere Handlungen die Lebenswelt Demenzkranker gestalten (Lind 2011).

Literatur

  • Helleberg, K. M. et al.(2014) ‘‘Like a Dance’’: Performing Good Care for Persons with Dementia Living in Institutions. Nursing Research and Practice. Volume 2014, Article ID 905972, 7 pages http://dx.doi.org/10.1155/2014/905972
  • Berger,G. et al. (Hrsg.) (2006) Erfolgsfaktor Gesundheit. Handbuch zum betrieblichen Gesundheitsmanagment. Teil 1: Mitarbeiterorientierte Führung und Organisation. Hannover: Vincentz Network.
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Reggentin, H. et al. (2006) Demenzkranke in Wohngruppen betreuen und fördern. Ein Praxisleitfaden. Stuttgart: Kohlhammer Verlag.
  • Reisberg, B. et al. (1999) Toward a science of Alzheimer’s disease management: a model based upon current knowledge of retrogenesis. International Psychogeriatrics, 11 (1): 7-23
  • Siegler, R. et al. (2016) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer
  • Zimber, A. et al. (Hrsg.) (1999) Arbeitsbelastung in der Altenpflege. Göttingen: Hogrefe

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Ein Gedanke zu “Stress in der Demenzpflege: Empfehlungen”

  1. Gut finde ich dass sie genau beschreiben in welchem Stadium der Mensch mit Demenz sich befindet. Dann ist auch verständlich dass die Zwischenphasen gefüllt werden um Angst, Aggression und Lethargie zu minimieren.Wichtig ist auch die Hauswirtschaft gut einzubinden, da sie die Menschen oft sehr gut kennen und Liebe geht ja durch den Magen.
    Ich überlege noch am Begriff Kotschmieren. Die Medaille hat ja 2 Seiten. Einmal das Spiele mit den Exkrementen und das “ Wegwischen“. Da es nicht mehr überlegt werden kann versuchen die Menschen das mit ihren Mitteln. Oft habe ich gesehen nehmen sie irgendeinen Gegenstand z. B. einen Schuh und führen damit eine Wischbewegung aus. Derjenige will es entfernen kann aber nicht. Kann man das so beschreiben?
    Viele Grüße
    Annelie Gilles

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