Vorhersehbarkeit als eine Grundlage der Pflegeermöglichung

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Pflegeermöglichung mittels des Empfindens der Vorhersehbarkeit ist der Inhalt des 28. Blogs. Anhand von Fallbeispielen wird dieser Sachverhalt dargestellt.

In Blog 27 wurden Vorgehensweisen der Ablenkung von der Pflege als Pflegeermöglichungsstrategien auf der Grundlage der Unfähigkeit zur geteilten Aufmerksamkeit vorgestellt. In diesem Blog werden nun gegenteilig unterschiedliche Strategien der Hinführung zum Pflegeprozess in Gestalt einer auf Konditionierung beruhenden Vorbereitungsphase mit dem Ziel aufgezeigt, die Grund- oder Körperpflege als ein harmonisches Miteinander zu gestalten (Helleberge et al. 2014: „Wie ein Tanz“ – siehe Blog 22).

Die Notwendigkeit der Konditionierung liegt im Unvermögen Demenzkranker begründet, neue Außenreize mit den Langzeitgedächtnisinhalten angemessen im Sinne einer Verallgemeinerung zu verknüpfen. Durch den neurodegenerativen Abbauprozess fehlen die hierzu erforderlichen neuronalen Netzwerke in bestimmten Großhirnarealen. Jede neue Reizkonstellation bedeutet somit Überforderung und damit zugleich auch Stress und Belastung. Die Verallgemeinerungsunfähigkeit ist somit ein Krankheitssymptom im fortgeschrittenen Stadium (siehe Blog 3 und Blog 26). Im Folgenden werden anhand von Beispielen verschiedene Dimensionen der Stetigkeit hinsichtlich ihres Potentials zur Pflegeermöglichung vorgestellt.

Pflegeermöglichung aufgrund der Handlungsstetigkeit (Ritual)

Beispiel 1: Eine Pflegende berichtete, dass sie vor der Morgenpflege immer dieselben Handlungsschritte vollführt: Begrüßung der Bewohnerin, ans Fenster gehen und die Vorhänge öffnen, anschließend in die Nasszelle und für die zu Pflegende sichtbar und hörbar die Waschutensilien zusammenstellen, mit der Waschschüssel plus Waschlappen etc. ans Bett treten, um anschließend mit dem Entkleiden zu beginnen. Bei einer guten Tagesform beobachtet sie, dass die Demenzkranke sich bereits in Erwartung der Pflegehandlung aufgerichtet und auf die Bettkante gesetzt hat (Persönliche Mitteilung).

Beispiel 2: Damit die Demenzkranken sich den Beginn der morgendlichen Pflege leichter vergegenwärtigen können, haben Pflegende Rituale bzw. Schlüssel- und Auslösereize entwickelt: u. a. demonstratives Händeschütteln bei der Begrüßung vor der Pflege oder eine Tasse Kaffee anbieten (Lind 2011: 126f).

Der Sachverhalt, dass durch die Ritualisierung der Pflegehandlung das Zusammenarbeiten von Pflegenden und Demenzkranken bei diesem Geschehen deutlich verbessert werden kann, konnte bereits empirisch nachgewiesen werden (Sachweh 2008: 227). Ebenso haben Untersuchungen gezeigt, dass bei Abweichungen von vertrauten Handlungsroutinen die Demenzkranken verunsichert und verstört reagierten (Skovdahl et al. 2003).

Pflegeermöglichung aufgrund der Kommunikationsstetigkeit

Beispiel 3: Bei einer verunsicherten und pflegeabweisenden Bewohnerin trat die Pflegende immer das vertraute Lieblingslied singend ans Bett. Die Demenzkranke fiel in den Gesang ein und wurde dabei gepflegt (Persönliche Mitteilung).

Dieses Beispiel zeigt, dass vertraute Handlungen nicht nur gemäß der Vorhersehbarkeit des Geschehens den Beginn der folgenden Handlungen ankündigen, sondern zugleich auch wieder von dieser als belastend erlebten Prozedur ablenken. Der hier angeführte ritualisierte Gesang fungiert somit nicht nur als Vorbereitungsphase, sondern wirkt zugleich auch als Ablenkungs- und Entspannungsfaktor (siehe Blog 14 und Blog 17).

Pflegeermöglichung aufgrund vertrauter Gegenstände

Beispiel 4: Pflegende berichten wiederholt, dass seltenere Pflegeprozeduren wie das Baden oft den Einsatz von zusätzlichen Verstärkungsstrategien bedarf, um den Demenzkranken das Erfassen der Handlungssituation zu ermöglichen. Meist werden hierbei lebensgeschichtlich vertraute Utensilien wie der alte Bademantel, der bekannte stark riechende Badezusatz und auch der eigene Waschlappen verwendet (Lind 2011: 154).

Die Darbietung vertrauter Gegenstände aus dem Bereich der Körperhygiene als Auslöseimpuls zu nutzen, ist in der Demenzpflege geläufiges Alltagsgeschäft, wie verschiedene Untersuchungen belegen (Miller 1994, Cohen-Mansfield et al. 2006, Camp 2015:87).

Beispiel 5: Einer Demenzkranken, die ständig eine Puppe in der Hand hielt und sich vehement mit Gewalt dem Toilettengang widersetzte, wurde daraufhin stets eine zweite Puppe in die Hand gedrückt, damit sie nicht schlagen konnte. Mit der Zeit verinnerlichte die Betroffene diesen Zusammenhang und wusste, dass mit der zweiten Puppe der bevorstehende Toilettengang anstand (Camp 2015: 87).

Dieses fünfte Beispiel, bereits in Blog 13 veröffentlicht, weist auf den Sachverhalt hin, dass nicht nur Gegenstände mit lebensgeschichtlicher Bedeutung als Auslösereize zur Ermöglichung der Pflege beitragen können. Es können auch alltägliche Dinge sein, die wie hier vermittels eines Konditionierungsprozesses nach einiger Zeit verinnerlicht werden. Dieser Umstand ist von besonderer Bedeutung für die Pflege, weil auch mit alltagsvertrauten Gegenständen als Konditionierungsinstrumenten gearbeitet werden kann, die allseits zugänglich sind. Denn Gegenstände aus der Vergangenheit der Demenzkranke, die oft als Auslösereize für beginnende Pflegehandlungen dienen, sind oft nicht vorhanden.

Empfehlungen für die Praxis

Bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium erodiert Schritt für Schritt die Person-Umwelt-Passung dergestalt, dass die Vielzahl an Außenreizen nicht mehr angemessen geistig verarbeitet werden kann. Furcht und Unruhe sind die Folge. Die Körper- und Grundpflege ist dann nur noch erschwert durchzuführen. Es gilt dann, die noch vorhandene Fähigkeit zum Gewohnheitslernen bei allen Gegebenheiten der Pflege, Betreuung und Milieugestaltung zu nutzen (siehe Blog 3 und Blog 26).

Konditionierung als Gewohnheitslernen heißt, ein bestimmtes Quantum an Reizgefügen ständig darzubieten. So vollzieht sich allmählich ein Verinnerlichungsprozess, der zur Vertrautheit mit dem Gegebenen führt. Und auf dieser Basis kann das Empfinden von Vorhersehbarkeit des weiteren Geschehens entstehen.

Literatur

  • Camp, C. J. (2015) Tatort Demenz – Menschen mit Demenz verstehen. Bern: Hogrefe Verlag
  • Cohen-Mansfield. J. et al. (2006) Do interventions bringing current self-care practices into greater correspondence with those performed premorbidly benefit the person with dementia? A pilot study. American Journal of Alzheimer`s Disease & Other Dementias. 21 (5): 312-317
  • Helleberg, K. M. et al. (2014) ‘‘Like a Dance’’: Performing Good Care for Persons with Dementia Living in Institutions. Nursing Research and Practice. Volume 2014, Article ID 905972, 7 pages http://dx.doi.org/10.1155/2014/905972
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Miller, R. I. (1994) Managing disruptive responses to bathing by elderly residents. Journal of Gerontological Nursing, 20 (11): 35–39.
  • Sachweh, S. (2008) Spurenlesen im Sprachdschungel. Kommunikation und Verständigung mit demenzkranken Menschen. Bern: Verlag Hans Huber.
  • Skovdahl, K. et al. (2003) Different attitudes when handling aggressive behaviour in dementia – narratives from two caregiver groups. Aging and Mental Health, 7 (4): 277-286

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