Die Furcht der Demenzkranken (Teil 2)

Geschätzte Lesedauer: 4 Minuten

Die Furcht der Demenzkranken (Teil 2) ist der Inhalt des 92. Blogs. Es werden Strategien der Furchtregulierung bei Desorientierungssymptomen angeführt.

Vorbemerkung

In Blog 91 wurde neurophysiologisch und zugleich neuropathologisch erläutert, dass Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium regelrecht Angstpatienten sind, denn sie können ihre Belastungsempfindungen nicht mehr selbst regulieren. Und dementsprechend können sie auch ihre Emotionen nicht mehr angemessen kontrollieren. Es droht in vielen Situationen oft gleich der Panikmodus. Wenn eine Demenzkranke ihren Kaffee trinkt, dann kann ihr z. B. plötzlich in den Sinn kommen, dass sie den Kaffee doch gar nicht bezahlen kann, habe sie doch kein Geld. Dann gilt es möglichst zeitnah einzugreifen, indem der Betroffenen glaubhaft versichert wird, dass die Tochter die Rechnung schon beglichen hätte (Lind 2007: 189).

Dieses Beispiel zeigt das intuitive Verhalten einer Mitarbeiterin, die spontan das Belastungsempfinden mittels einer kurzen Bemerkung aufzulösen vermag. Des Weiteren enthält diese Gegebenheit auch den Umstand, dass eine helfende Person im Nahbereich sich befindet und dadurch umgehend eingreifen kann. Räumliche Nähe und Beobachten sind somit strukturell zwei wesentliche Faktoren der Demenzpflege, ohne die es leicht zu Furchtzuständen kommen kann. Auch hier ist wieder die Parallele zum Umgang mit Kleinkindern zu ziehen, die auch zur Erhaltung ihrer Unversehrtheit der Obacht bedürfen.

Ablenken und Beruhigen

Um Unruhe und Furcht positiv zu beeinflussen, bedarf es des möglichst zeitnahen Eingreifens, um das psychosoziale Gleichgewicht wieder ins Lot bringen zu können. Die gängigste Umgangsform hierbei ist das Ablenken und Beruhigen. Es handelt sich dabei um eine angeborene empathische Verhaltensdisposition, die in der Regel spontan und intuitiv praktiziert wird.

In Blog 8 wird anhand von spontanen Desorientierungsphänomenen das Eingreifen mittels Ablenken und Beruhigen beschrieben. Wenn z. B. eine Demenzkranke auf dem Wohnbereich herumirrt auf der Suche nach den Hühnern, die sie noch füttern müsse, dann gilt es, diesen Realitätsverlust möglichst umgehend wieder aufzulösen. Das heißt konkret, den Betroffenen aus dieser belastenden Realitätsverzerrung wieder heraus zu geleiten. Der Wirkmechanismus hierbei ist die „Löschung“ (Begrifflichkeit aus der Verhaltenstherapie bzw. Lernpsychologie). Löschung bedeutet hier konkret, einen negativen Impuls wie das Verlangen, Hühner füttern zu müssen, andernfalls drohe Strafe, durch einen positiven Impuls zu ersetzen und somit zugleich zu löschen. In diesem Beispiel wäre der positive Löschungsimpuls die Aussage einer Pflegenden oder Betreuenden: „Frau Mayer, ich habe die Hühner doch schon gefüttert!“

Bei den Ablenkungs- und Beruhigungsstrategien gilt es jedoch zu beachten, dass die Intensität der Unruhe oder Aufgeregtheit des Desorientierten die Grundlage für die Form des Eingreifens darstellt. Wenn z. B. die Verwirrte sich erst wenige Minuten auf der Suche nach den imaginären Hühnern befindet und somit noch relativ unaufgeregt ist, dann reicht in der Regel eine verbale Lösung wie eben angeführt. Ist sie hingegen vielleicht schon fast eine halbe Stunde auf der Suche und bereits voller Furcht vor der drohenden Strafe des Vaters, dann bedarf es intensiverer Löschungsimpulse, um sie aus dieser verzweifelten Lage zu befreien. Bloße Worte reichen hier nicht mehr. Löschungsimpulse wären z. B. eine Ortsveränderung (in die Küche führen), einen Gegenstand in die Hand drücken (nasse Tasse) und die Betroffene zu bitten, diese Tasse abzutrocknen (Lind 2011: 116). Diese drei neuen Reizgefüge würden in der Regel ausreichen, den negativen Reiz „Furcht vor der drohenden Strafe“ zu verdrängen. Untersuchungen haben ergeben, dass diese intuitiven und spontanen Ablenkungsformen von fast allen Pflegenden und Betreuenden in der Demenzpflege praktiziert werden (James 2011: 187).

Beobachten

Ebenfalls ist in Blog 8 nachgewiesen worden, dass das ständige Beobachten der Demenzkranken eine zentrale Aufgabe der Pflegenden und Betreuenden darstellt, um Realitätsverluste optimal zu regulieren. Denn es gilt bei sich anbahnenden spontanen Desorientierungsphänomenen möglichst frühzeitig mittels eines Ablenkungsimpulses zu intervenieren, denn nur so lassen sich die Belastungsempfindungen vermeiden. Hierzu ein Beispiel:

Bei einer Bewohnerin verändert sich am Tisch auf einmal deutlich die Mimik. Die anwesende Pflegende weiß aus Erfahrung, dass bei diesem Gesichtsausdruck die Demenzkranke stets nach Hause muss. Um dies zu verhindern, besorgt sie sich schnell zwei nasse Gabeln und ein Geschirrtuch, die sie der Demenzkranken mit der Bitte in die Hand drückt, sie abzutrocknen. Die Angesprochene kommt dieser Aufforderung freundlich lächelnd nach und vergisst dabei den Wunsch, nach Hause gehen zu wollen. (Lind 2011: 117)

Wie bereits im Blog 2 angeführt, bedarf es beim Überforderungs- und Stresserleben Demenzkranker ein unmittelbares Eingreifen u. a. in Form der Ablenkung und Beruhigung , denn die Betroffenen sind zur Selbstberuhigung nicht mehr fähig und geraten somit leicht in Panikreaktionen.

Soziale Verdichtung des Milieus

Die hier angeführten Verhaltensweisen verdeutlichen, dass Demenzkranken bei Realitätsverlusten wie z. B. Desorientierungsphänomenen überfordert sind. Bedingt durch den neurodegenerativen Abbauprozess verfügen sie nicht mehr über die hierfür erforderlichen Kompetenzen zur Selbstregulierung der auftretenden Spannungen. Dieses Unvermögen und zugleich auch das Bedürfnis der Betroffenen nach Zuwendung und Schutz durch die Pflegenden und Betreuenden erfordern entsprechende Strategien des Umganges und der Milieugestaltung wie im Folgenden gezeigt wird.

Das Präsenzmilieu

In Blog 60 wird aufgezeigt, dass das Präsenzmilieu den Anforderungen an eine ständige Verdichtung des sozialen Milieus entspricht. Das Präsenzmilieu basiert auf dem Konzept einer Verstetigung sozialer Nähe durch möglichst weitgehende Überschneidung von Gemeinschaftsflächen mit den Arbeitsbereichen der Mitarbeiter. Das heißt, die Arbeitsfelder liegen in den Wohnbereichen oder grenzen direkt daran an. So kann ein Präsenzmilieu geschaffen werden, das auf dem Prinzip „bewohnerferne Tätigkeiten bewohnernah ausführen“ beruht (Lind 2011: 143). Durch dieses Prinzip gelangt Lebendigkeit in das Wohnmilieu. Bewohner können ihre vertrauten Bezugspersonen beobachten und sind dadurch zugleich beruhigt und psychosozial eingebunden. Folgende Formen des Präsenzmilieus haben sich zwischenzeitlich herausgebildet:

  • das Tresen-Modell: der Pflegestützpunkt ist in Form einer Rezeption in das Gemeinschaftsmilieu integriert
  • Verlegung der Tätigkeiten wie Pausen, Übergaben, Pflegedokumentation u. a. in die Gemeinschaftsflächen der Bewohner
  • Bewohner in die Mitarbeiterbereiche zulassen (Teilnahme an Pausen, Übergaben und Besprechungen).

Das Präsenzmilieu ist eine Form sozialer Verdichtung durch das enge Nebeneinander von Bewohnern und Mitarbeitern in einem räumlichen Bereich. Räumliche Nähe entfaltet soziale Nähe und führt damit zu Empfindungen von Gemeinschaftlichkeit (Lind 2011: 143).

Zusammenfassung

Symptome von Unruhe und auch Furcht können bei Demenzkranken plötzlich und damit unvorhersehbar auftreten, wie die angeführten Beispiele zeigen. Daher ist es erforderlich, diese Personengruppe im Blickfeld zu haben, um bei Belastungssymptomen möglichst umgehend eingreifen zu können. Durch dieses sofortige Eingreifen meist als Ablenkung und Beruhigung kann oft vermieden werden, dass aus einem anfänglich nur leichtem Unruhezustand eine äußerst belastende Furchtsymptomatik entsteht. Denn diese geistig gebrechlichen Menschen sind im fortgeschrittenen Stadium ähnlich wie Kleinkinder äußerst hilflos und damit zugleich auch betreuungs- und schutzbedürftig. Damit ihre seelische und auch körperliche Unversehrtheit gewährleistet werden kann, bedarf es somit der ständigen Nähe von Personen, die zu entlastenden Interventionen in der Lage sind.

Literatur

  • James, I. A. (2011) Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Demenz, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber

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