Biografische Faktoren

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Pflegeverweigerung aufgrund biografischer Faktoren ist der Inhalt des 36. Blogs. Die Problemlagen belastende Erinnerungen und Verhaltensroutinen werden mitsamt den Lösungsansätzen erörtert.

„Biografische Faktoren“ ist eine sehr weitläufige Begrifflichkeit, die vieles bedeuten kann: Lebensgeschichte, Gewohnheiten und Prägungen, einschneidende Erlebnisse, Traumata, aber auch das Erleben von Erfüllung, Glück und Freude. Es sind überwiegend vergangenheitsbezogene Aspekte, die zwar die Gegenwart und auch die Zukunft des einzelnen mitbeeinflussen, doch im Zeitraster meist recht weit zurückliegen. Bei der Demenz hingegen hat sich dieses chronologische Gefüge aufgrund neuropathologischer Abbauprozesse teils extrem verkehrt. Die Vergangenheit wird sehr oft Gegenwart für Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium. Das führt zu Verwirrung und teils auch zu Verzweiflung, denn nun bestimmen oft Realitätsverluste und Realitätsverzerrungen den Alltag der Betroffenen. Und die verwirrten Personen sind extrem hilflos in dieser Situation, denn sie können diese Gegebenheiten nicht selbst bewältigen und geraten hierdurch in Stress und Überforderung. Die Demenzpflege kommt dann hier zum Einsatz, gilt es doch die belastenden inneren und teils auch äußeren Reizgefüge zum Wohle der Betroffenen zu regulieren. Regulieren heißt in der Demenzpflege, Strategien der Ablenkung und Beruhigung, des Mitgehens und Mitmachens einzusetzen (siehe Blog 8 – 12). All dies wird tagtäglich überwiegend spontan und intuitiv von Pflegenden, Betreuenden und auch pflegenden Angehörigen äußerst wirksam und auch effizient praktiziert.

Das Wissen über die lebensgeschichtlichen Gegebenheiten der Demenzkranken ist oft unabdingbar, um eine angemessene Pflege und Betreuung zu gewährleisten. Dieser Tatbestand wurde in Blog 31 anhand mehrerer Beispiele aus dem Themenbereich Lebensgewohnheiten und Prägungen dargestellt. In diesem Blog werden die Auswirkungen von biografischen Faktoren auf die Pflegeverweigerung bzw. Pflegeerschwernis nebst Lösungsansätzen beschrieben.

Belastende Erinnerungen

Belastende Erinnerungen können bei Demenzkranken in verschiedener Form das Denken und Handeln beeinflussen. Belastende Erinnerungen können z. B. oft ins Bewusstsein treten und dabei aufgrund des Unvermögens, Erinnerungen als Elemente der Vergangenheit zu erleben, die Realität massiv verzerren. Diese Symptomatik wurde in Blog 11 u. a. anhand eines Beispiels (Angst vor dem Einberufungsbefehl zur Wehrmacht) beschrieben. In diesem Fall konnte dem Betroffenen die Angst genommen werden, indem durch einen manipulierten Bescheid die Erinnerung positiv verändert wurde (Lind 2011: 215).

Es gibt aber auch belastende Erinnerungen, die nicht im Bewusstsein präsent sind, die aber durch Auslösereize während der Pflege aktiviert werden können und zu Furcht und Schrecken führen, wie die folgenden Beispiele zeigen:

Beispiel 1: Eine Demenzkranke hatte Angst vor dem Duschen, da das Wasserrauschen die Erinnerung an den erlebten Schiffsuntergang im 2. Weltkrieg wach werden ließ. Um dieses Leiden zu vermeiden, wurde die Körperpflege mit dem Schwamm und damit ohne fließendes Wasser durchgeführt (Bowlby Sifton 2007: 109).

Beispiel 2: Ein Bewohner lehnte vehement das Baden ab. Als Grund für dieses Ablehnungsverhalten wurde das Ertrinken der Ehefrau festgestellt. Daraufhin wurde der Betroffene nur noch geduscht (persönliche Mitteilung).

Schlüsselreize oder Auslösereize haben im Rahmen relativ neutraler episodischer Langzeitgedächtnisinhalte ein Aktivierungspotential, um eine bestimmte Wahrnehmung oder ein bestimmtes Verhalten in Gang zu setzen und es dadurch zu ermöglichen (siehe Blog 16). Diese Reizgefüge besitzen somit eine positive Funktion bezüglich der Alltagsgestaltung. Bei belastenden episodischen Langzeitgedächtnisinhalten oder Erinnerungen hingegen haben Auslösereize negative Auswirkungen dergestalt, dass bei den Betroffenen das schmerzhafte Leiden, das mit diesen Erinnerungen verbunden ist, wiedererlebt wird. Wie die Beispiele gezeigt haben, gelten bei belastenden Erinnerungen vor allem Vermeidungsstrategien: Reizgefüge mit dem Potential der Auslösung eines Belastungserlebens werden größtmöglich aus dem Wahrnehmungsfeld und damit zugleich auch aus der Bewusstwerdungsebene der Betroffenen entfernt.

Verhaltensroutinen

Neben episodischen Langzeitgedächtnisinhalten verfügen Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium auch noch über das „Bewegungsgedächtnis“ oder prozedurale Langzeitgedächtnis. Handlungsmuster wie Routinen in der Alltagsgestaltung (z. B. Körperpflege, Mahlzeiteneinnahme oder Ankleiden) werden mit der Zeit im Sinne einer Prägung verinnerlicht und dadurch im prozeduralen Gedächtnis abgespeichert (siehe Blog 30). Das Krankhafte an diesen verinnerlichten Handlungen ist nun der Tatbestand, dass die Demenzkranken sich von diesen Handlungsmustern in der Regel kaum mehr lösen können, denn es fehlt aufgrund des Abbauprozesses die kognitive Kapazität zur Anpassung und damit Flexibilität an veränderte oder neue Bewegungsstrukturen. Dieser Umstand der Erstarrung in einem bestimmten Handlungsgefüge erschwert massiv die Pflege, wie die folgenden Beispiele zeigen:

Falsche Reihenfolge

Beispiel 1: Ein Demenzkranker war es gewohnt, sich zuerst zu rasieren und erst dann zu waschen. Als nun im Pflegeheim mit dem Waschen begonnen wurde, konnte er dieses Geschehen geistig nicht erfassen und reagierte dementsprechend mit einem Ablehnungsverhalten (Lind 2007: 124).

Dieses Pflegeproblem ist recht alltäglich und lässt sich in der Regel meist leicht mittels der Strategie „Versuch und Irrtum“ dergestalt lösen, dass man die Reihenfolge der einzelnen Handlungssegmente solange variiert, bis man sich dem verinnerlichten Handlungsmuster angepasst hat.

Unvollständige Pflege

Demenzkranke verinnerlichen im prozeduralen Gedächtnis auch den komplexen Handlungsprozess, also das Geschehen von Anfang bis Ende. Wenn nun aus irgendeinem Grund ein Handlungsabschnitt fehlen sollte, führt das unweigerlich zu Verwirrung und Überforderung bei den Betroffenen. Dieser Sachverhalt wurde u. a. unter dem Aspekt der Funktion der Schlüsselreize (Auslöse- und Beendigungsreize) bereits in Blog 13 dargestellt. Hier nochmals zwei Beispiele zur Veranschaulichung:

Beispiel 1: Die Pflegende eines ambulanten Pflegedienstes musste aufgrund eines Anrufs (Notfalleinsatz bei einer anderen Patientin) die Körperpflege dergestalt abkürzen, dass sie das Abschlussritual (Umarmung, Wangenkuss und Abschiedsworte) ausfallen ließ. Die zwei Stunden später eintreffende Tochter berichtete, dass ihre Mutter völlig aufgelöst und verwirrt gewesen wäre (persönliche Mitteilung).

Beispiel 2: Eine demenzkranke Heimbewohnerin wurde vormals im häuslichen Bereich von ihrem Ehemann gepflegt. Der Abschluss der Pflegeprozedur abends bestand aus dem Einreiben der Unterarme mit Franzbranntwein. Dieses Ritual wurde später auch im Heim praktiziert. Aus irgendeinem Anlass wurde einmal dieser Beendigungsreiz nicht ausgeführt. Die Folge war, dass die Betroffene stundenlang fast regungslos in ihrem Zimmer stand und auf die Abschlusshandlung wartete. Erst der Nachtwache fiel diese Gegebenheit auf (persönliche Mitteilung).

Falscher Zeitpunkt

Neben der Verinnerlichung der Reihenfolge und Vollständigkeit von Alltagshandlungen tritt noch die Abspeicherung der zeitlichen Einordnung dieses Geschehens in den Tagesablauf hinzu. Das heißt, dass auch der Zeitpunkt bzw. der Zeitraum der Handlungen im Langzeitgedächtnis als Prägungselement verfestigt wurde. An Abweichungen von diesem Zeitgefüge z. B. bei der Körperpflege können sich die Betroffenen krankheitsbedingt dann nicht mehr anpassen. Aufgrund der fehlenden Flexibilität sind sie mit zeitlichen Abweichungen überfordert und reagieren entsprechend mit Pflegeverweigerung, wie folgende Beispiele zeigen:

Beispiel 1: Eine Heimbewohnerin wollte immer um 8 Uhr gekämmt werden, andernfalls weigerte sie sich. Um diese Problemlage bei zeitlichen Verzögerungen zu lösen, wurde der Demenzkranken eine Uhr mit veränderbaren Zeigern ins Zimmer gestellt. Bei einer späteren Pflege wurde dann vorab unauffällig die Uhr auf 8 Uhr gestellt, um die Pflege zu ermöglichen (persönliche Mitteilung).

Beispiel 2: Ein Heimbewohner verweigerte ständig das morgendliche Waschen, abends hingegen traten hierbei keinerlei Probleme auf. Es stellte sich heraus, dass der Demenzkranke sich früher immer nur abends gewaschen hatte (Lind 2007: 124).

Im Zusammenhang „falscher Zeitpunkt“ muss ergänzend darauf hingewiesen werden, dass Pflegenden auch Pflegefehler unterlaufen können, wenn sie die starre Zeitgebundenheit der Demenzkranken bei der Pflege nicht angemessen berücksichtigen, wie folgendes Negativbeispiel zeigt:

Negativbeispiel: Da im Heim die Frühschicht stark unterbesetzt war, wurde auf die Rasur eines Demenzkranken verzichtet. Die Spätschicht hingegen war relativ gut besetzt, so dass die Pflegenden entschieden, die fehlende Rasur nachzuholen. Die Folge war, dass der Bewohner anschließend wie gewohnt nach seinem Frühstück verlangte. Man konnte ihm nicht verständlich machen, dass es bereits nachmittags wäre. Der Mann war durch die Rasur geradezu aus der Zeit gefallen (persönliche Mitteilung).

Konsequenzen für die Praxis

„Vergangenheit wird Gegenwart“ drückt sich in der Macht oder auch der Herrschaft der episodisch-prozeduralen Gedächtnisinhalte über die Wahrnehmungen und das Verhalten der Betroffenen aus, wie die angeführten Fälle verdeutlichen. Pflegeverweigerung und auch Pflegeerschwernis ist oft die Folge der fehlenden Synchronisierung dieser beiden Zeitebenen: die vergangenheitsbezogene Innenwelt der Demenzkranken und die äußere Realwelt der Gegenwart, die geistig nicht mehr angemessen erfasst werden kann.

In Blog 31 wurde bereits aufgezeigt, wie Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart zur Herstellung der Person-Umwelt-Passung hergestellt werden können, damit u. a. auch die Pflege ermöglicht werden kann. Hier nochmals einige Vorgehensweisen:

  • Biografisches Wissen (Biografiebogen, Fotos, Ansichtskarten, Bewohner- und Angehörigenbefragung, zeitgeschichtliches Wissen etc.)
  • Befragung der Kollegen und anderer Mitarbeiter bezüglich ihrer Erfahrungen
  • Erfassung der für die Pflege bedeutsamen lebensgeschichtlichen Verhaltensweisen (Gewohnheiten u. a.) in der Pflegedokumentation

Zur Demenzpflege als Anpassungspflege und zugleich damit auch zur Demenzweltgestaltung gehört bei Unruhe, Stress und auch bei der Pflegeverweigerung immer der Rückgriff auf die wesentlichen Aspekte der Lebensgeschichte, die diese Verhaltensweisen teils erklären können. Denn meist nur auf dem Hintergrund dieser episodischen und prozeduralen Gedächtnisinhalte lassen sich angemessene Lösungs- und Hilfestrategien zum Wohle der Betroffenen entwickeln.

Literatur

  • Bowlby Sifton, C. (2007) Das Demenz-Buch. Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber

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