Das Demenzmodell von Tom Kitwood (Teil 2)

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Das Demenzmodell von Tom Kitwood (Teil 2) ist der Inhalt des 78. Blogs. Es werden Fehler dieses Ansatzes aufgezeigt.

Fehler des Demenzmodells von Kitwood

In Blog 77 wurden Fehlentwicklungen in der Demenzpflege anhand des Demenzmodells von Tom Kitwood aufgezeigt. Die Unwissenschaftlichkeit seines Modells zeigt sich jedoch nicht nur in den falschen Annahmen oder Thesen, sie zeigt sich zugleich auch in seinem unwissenschaftlichen Vorgehen. Sein Argumentieren wird u. a. durch das Ausblenden wesentlicher Tatbestände und fehlender Stringenz bestimmt, wie im Folgenden gezeigt wird (Lind 2007: 22f).

Das Ausblenden wesentlicher Fakten

Das Demenzmodell von Kitwood basiert auf verschiedenen wissenschaftsfremden Annahmen, die in Blog 77 bereits kurz angeführt wurden. Das Modell wird darüber hinaus durch das Ausblenden oder Ignorieren bereits wissenschaftlich anerkannter Erkenntnisse fundiert, die im Widerspruch zu seinen Annahmen bezüglich der Demenz stehen. Die „Entpathologisierungsthese“ der Demenz, demnach es sich bei der Demenz nicht um eine Krankheit im engeren Sinn handelt, sondern eher um eine besondere Form der Hirnalterung, kann er formallogisch nur aufrechterhalten, wenn er sowohl die Klassifikation der Demenzen als auch die Erkenntnisse über das Konzept der kognitiven Reservekapazität als Grundelemente eines Demenzmodells nicht zur Kenntnis nimmt.

Das Fehlen der Klassifikation der Demenzen

Demenzen werden gemäß ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) wie folgt klassifiziert: 1. Störungen des Gedächtnisses: Aufnahme und Wiedergabe neuerer Informationen – Verlust früher erlernter und vertrauter Inhalte. 2. Störungen des Denkvermögens: Störung der Fähigkeit zu vernünftigen Urteilen – Verminderung des Ideenflusses – Beeinträchtigung der Informationsverarbeitung. 3. Störungen der emotionalen Kontrolle – Störung des Sozialverhaltens – Störung der Motivation. Die Störungen von 1. und 2. müssen schwer genug sein, um eine wesentliche Beeinträchtigung der Aktivitäten des täglichen Lebens nach sich zu ziehen. Mindestens 6 Monate sollten diese Symptome bereits vorliegen. Darüber hinaus darf keine Bewusstseinsstörung bestehen (Gutzmann et al. 2005).

Ein weiteres klinisches Kriterium für die Demenz ist der Verlauf der Erkrankung, die fortlaufende Verschlechterung (Gutzmann et al. 2005: 41). Auch dieser Aspekt wird von Kitwood nicht erwähnt. Andernfalls könnte er die Ablehnung der Stadienkonzepte der Demenzen aufgrund der Unvermeidlichkeit einer „globalen Verschlechterung“ nicht aufrechterhalten (Kitwood 2000: 201).

Diese Klassifikationsfaktoren bezüglich der klinischen Manifestation der Demenz, die den Krankheitscharakter der Demenz belegen, werden von Kitwood nicht angeführt. Der bloße Verweis auf die teils abweichende Neuropathologie bei Demenzen ist somit kein hinreichender Beleg für die „Entpathologisierung“ der Demenz (Kitwood 2000: 47f).

Das Fehlen der kognitiven Reservekapazität

Kitwood fundiert seine „Entpathologisierungs“-These der Demenz mit dem Faktum, dass die Neuropathologie der Demenz oft nicht mit der kognitiven Leistungsfähigkeit der Erkrankten übereinstimmt (siehe Blog 77). Dieser Sachverhalt einer fehlenden Übereinstimmung wird seit einigen Jahrzehnten eingehend sowohl neuropsychologisch als auch neuropathologisch unter dem Aspekt einer kognitiven Reservekapazität untersucht. Bei der kognitiven Reservekapazität zeigen Personen mit einer ausgeprägten Neuropathologie (senile Plaques und Neurofibrillen) bis zu ihrem Tod keine demenzspezifische klinische Symptomatik. Erklärt wird diese Resilienz gegenüber dem massiven neuropathologischen Abbauprozess gegenwärtig mit vielerlei Verursachungselemente wie z. B. Genetik und Lebensweise, die teils noch kontrovers hinsichtlich ihrer Gewichtung diskutiert werden (Perneczky et al. 2011). Die Thematik kognitive Reservekapazität wird in einem späteren Blog eingehender dargestellt werden.

Dieses Modell einer kognitiven Reservekapazität wird von Kitwood in seinen Ausführungen nicht erwähnt und damit auch nicht berücksichtigt. Auch in diesem Fall kann von einem bewussten Ausblenden wissenschaftlicher Erkenntnisse ausgegangen werden. Bei angemessener Berücksichtigung dieses Forschungsgegenstandes wäre er nicht mehr in der Lage gewesen, die These einer Widerlegung des „Standardmodells der Neuropathologie“ („neuropathische Ideologie“) aufrechtzuerhalten (Kitwood 2000: 60ff).

Fehlende Stringenz

Mit fehlender Stringenz ist der Sachverhalt gemeint, dass beim Erklären, Ableiten oder Verallgemeinern u. a. die Regeln der logischen Folgerichtigkeit und damit die Schlüssigkeit in der Argumentation nicht eingehalten werden. Kitwood zeigt in seinen Ausführungen diesbezüglich deutliche Mängel, wie im Folgenden gezeigt wird.

Zur „Einzigartigkeit“ der Person

Mit der These, die „Einzigartigkeit“ der Person widerspräche dem Stadienkonzept des Abbaus bei der Demenz, zeigt Kitwood wissenschaftliches Fehlverhalten (Kitwood 2000: 191). Das Faktum, dass Menschen und nicht nur Menschen aufgrund ihrer DNA einzigartig sind, ist Allgemeinwissen. Diesen mikrobiologischen Sachverhalt jedoch als Widerlegung für einen makrobiologischen Abbauprozess (artspezifischer neuropathologischer Krankheitsverlauf) anzuführen, widerspricht dem Standard wissenschaftlicher Erklärung einer medizinischen und damit zugleich auch biologischen Gegebenheit. Denn hier werden unterschiedliche hierarchisch strukturierte Ebenen der Biologie unstatthaft miteinander verknüpft. Es wird in diesem Fall ein falscher Kausalzusammenhang zwecks Widerlegung eines klinisch belegten fortschreitenden Abbaus konstruiert.

Der Zusammenhang von Sozialpsychologie und Nervenregeneration

Den wissenschaftlichen und logischen Fehler der Vermengung verschiedener hierarchisch geordneter biologischer Sachverhalte macht Kitwood auch im Zusammenhang mit der Wirkung bestimmter Pflege- und Betreuungsleistungen auf die Neurophysiologie bzw. Neuropathologie. So vermutet er, dass durch angemessene Interventionen eventuell eine „Nervenregeneration“ erzielt werden könnte. Und kommt diesbezüglich zu der Aussage: „Gegenwärtig sind wir also gerade dabei, den Verlauf der Alzheimer-Krankheit und anderer neurodegenerativer Erkrankungen zu ändern.“ (Kitwood 2000: 150).

Wie bereits in Blog 77 angeführt wurde, lässt sich diese Aussage dahingehend interpretieren, dass durch eine angemessene Pflege und Betreuung Prozesse einer „Remenz“ oder „Remittierung“ ausgelöst werden, die zur Wiederherstellung der kognitiven Fähigkeiten führen. Konkret bedeutet dies, dass bereits abgestorbene Nervenzellen reaktiviert bzw. wiederbelebt werden. Wie sich die „Wiederbelebung“ („Nervenregeneration“) bereits toter Materie (Neurofibrillen u. a.) neurophysiologisch vollziehen könnte, wird im Einzelne nicht thematisiert.

Literatur

  • Gutzmann, H. et al. (2005) Demenzielle Erkrankungen. Medizinische und psychosoziale Interventionen. Stuttgart: Kohlhammer Verlag
  • Kitwood, T. (2000) Demenz. Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Perneczky, R. et al. (2011) Kognitive Reservekapazität und ihre Bedeutung für Auftreten und Verlauf der Demenz. Der Nervenarzt, 823, 325–335

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