Das Demenzmodell von Tom Kitwood

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Das Demenzmodell von Tom Kitwood ist der Inhalt des 77. Blogs. Es werden wesentliche Aspekte dieses Ansatzes beschrieben.

Vorbemerkung

Es wird verwundern, warum in einem Blog Demenzpflege eingehend auf die Neuropathologie der Alzheimer-Demenz eingegangen wird. Der Grund hierfür liegt in dem Sachverhalt, dass sich in der einschlägigen Fachdiskussion in den letzten Jahrzehnten eine neue Sichtweise etabliert hat, nach der die Neurowissenschaften nicht der alleinige Bezugsrahmen für die Demenzen sind. Des Weiteren wird die Demenz nicht mehr vorrangig als Krankheit eingeschätzt, sondern als eine besondere Form der Hirnalterung. Diese Fehlentwicklungen oder auch „Halbwahrheiten“ (Deutsche Alzheimer Gesellschaft 2017) bilden gegenwärtig in verschiedenen Pflegekonzepten und auch in Fachpublikationen den dominierenden Orientierungsrahmen, wie im Folgenden anhand der Ideen und Vorstellungen von Tom Kitwood bezüglich der Demenz angeführt wird.

Das Demenzkonzept von Tom Kitwood

Bei Tom Kitwood handelt es sich um einen promovierten Sozialpsychologen. „1985 begann sein Interesse an der Verbesserung des Umgangs mit dementen Menschen und die Zusammenarbeit mit Kathleen Bredin, durch die Kitwood Zugang zur humanistischen Position Carl R. Rogers bekam. 1998 wurde er Professor für Demenzpflege und Psychogerontologie an der Bradford Universität. Er hielt Vorträge in den USA und erweiterte den Forschungsbereich der Demenzpflege an der Universität Bradford zu einer eigenen Abteilung mit grundständigen und postgradualen Studienmöglichkeiten.“ (Wikepedia) Die folgenden Abschnitte enthalten die wesentlichen Gedanken von Kitwood zur Demenz.

Die Relativierung der neurologischen Erkenntnisse

Vor einigen Jahrzehnten wurden in mehreren Untersuchungen ermittelt, dass neurodegenerative Abbauprozesse auch bei Nichtdemenzkranken obduziert wurden. Diese Abweichung veranlasste Kitwood zu der Einschätzung, der Demenz den Status einer „klassischen Krankheit“ abzuerkennen. Bestärkt wurde er diesbezüglich zusätzlich von dem konträren Faktum, dass bei Patienten mit den demenztypischen Symptomen nach dem Tod keine pathologischen Hirnveränderungen festgestellt wurden (Kitwood 2000: 47f). Kitwood folgert aus diesen Sachverhalten das Auflösen des herkömmlichen Paradigmas des Standardmodells (Neuropathologie), die er als „neuropathische Ideologie“ bezeichnet (Kitwood 2000: 60ff). Er hat sich auch mit der Stadienkonzeption und den Reisbergskalen auseinandergesetzt. Die Konzeption des Abbaus gemäß dem Stadienkonzept lehnt er aus folgenden Gründen ab:

  • Das Stadienkonzept des Abbaus basiert auf einem „simplen neurologischen Determinismus“ und berücksichtigt nicht angemessen die Sozialpsychologie (Kitwood 2000: 43)
  • Das Stadienkonzept thematisiert den geistigen Verfall, während die „neue Kultur“ die „Einzigartigkeit“ jeder Person in den Mittelpunkt stellt (Kitwood 2000: 191)
  • Stadienkonzepte betonen die Unvermeidlichkeit einer „globalen Verschlechterung“ (Kitwood 2000: 201).

Aus der Perspektive einer Entpathologisierung der Demenz, so wie sie von Kitwood vertreten wird, darf es keinen Abbau und auch keine Verschlechterungen wie in dem Stadienkonzept geben. Andernfalls könnte er seine These von der Demenz als einer nichtpathologischen Hirnalterung nicht aufrechterhalten.

Das ergänzende Konzept einer Sozialpsychologie der Demenz

Da für Kitwood die Neuropathologie ihre Funktion als alleinige Ursache und damit zugleich als Erklärungszusammenhang für demenzielle Krankheitssymptome verloren hat, entwickelt er das Konzept einer Sozialpsychologie mit dem zentralen Begriff des „Personseins“. Der Erhalt des „Personseins“ wird von ihm recht allgemein und damit auch nicht demenzspezifisch durch die Gewährleistung der psychischen Bedürfnisse (u. a. Liebe, Bindung, Trost und Identität) erklärt. Ebenso allgemein und damit demenzunspezifisch sind die von ihm vorgestellten Konzepte der „positiven Arbeit an der Person“: u. a. Anerkennen, Verhandeln, Zusammenarbeiten, Spielen und Entspannen (Kitwood 2000: 133ff). In diesem Zusammenhang entwickelt er das Konzept einer „neuen Kultur“ in der Demenzpflege, die den „Menschen mit Demenz nicht pathologisiert“. „Die neue Kultur stellt die Einzigartigkeit jeder Person in den Mittelpunkt.“ (Kitwood 2000: 193).

Darüber hinaus entwickelt er das Konzept des „Rementierens“, demnach bei guten Pflege- und Betreuungsgegebenheiten eine „bessere Nervenfunktion“ gefördert wird. Des Weiteren vermutet er, „möglicherweise schafft sie auch die Bedingungen, die einen gewissen Grad an Nervenregeneration ermöglichen.“ (Kitwood 2000: 149).

Es besteht Grund zur Annahme, dass es sich bei dem Konzept der „Remenz“ letztlich um das Modell der „excess disabilities“ (Brody et al. 1971) handelt, ein durch äußere Belastungsgegebenheiten verursachtes stressbezogenes Verhaltensdefizit. Konkret bedeutet dies, dass die Verhaltenskompetenz durch belastende Außenreize regelrecht blockiert wird. Es kann auch als eine moderate Schockstarre im Rahmen der Minussymptomatik klassifiziert werden (siehe Blog 64). Unstatthaft und damit zugleich unwissenschaftlich ist der Sachverhalt, dass Kitwood diese Verhaltenssymptomatik auf die Ebene der Neurogenese und zugleich Neurodegeneration ausweitet, wenn er u. a. ausführt: „Gegenwärtig sind wir also gerade dabei, den Verlauf der Alzheimer-Krankheit und anderer neurodegenerativer Erkrankungen zu ändern.“ (Kitwood 2000: 150).

Maligne bösartige Sozialpsychologie

Während sich Kitwood bei seiner „positiven Arbeit“ im Umgang mit Demenzkranken sehr allgemein hält, wird er hingegen hinsichtlich der „malignen, bösartigen Sozialpsychologie“ in der Demenzpflege sehr konkret, wenn er u. a. wirksame Ablenkungs- und Beruhigungsstrategien als Lug und Trug diskreditiert. Auch Strategien des „Mitgehens“ werden von ihm ebenso wie die fiktiven Beeinflussungsstrategien („kleine Notlüge“ und „Tricks“) als „Täuschungen“ bezeichnet, die es abzulehnen gilt (Kitwood 2000: 73ff).

Der universelle Charakter dieser Beeinflussungsstrategien wird von Kitwood nicht akzeptiert. Er zeigt sich u. a. auch darin, dass Demenzkranke für diese Formen der Kommunikation sehr empfänglich sind. Sie sind somit im fortgeschrittenen Stadium für diese Kommunikationsformen und Umgangsstile aufgeschlossen. Das heißt u. a., sie verstehen diese Impulse und können darauf noch angemessen reagieren. Der universelle Charakter dieser Umgangsformen zeigt sich auch darin, dass sie alltägliche und globale Praxis in der Demenzpflege sind (James 2011: 187, Lind 2011: 81) (siehe Blog 67).

Literatur

  • Brody, E. et al. (1971) Excess disabilities of mentally impaired aged: Impact of individualized treatment. Gerontologist, 25: 124-133
  • Deutsche Alzheimer Gesellschaft (2017) Stellungnahme der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Alzheimer – Halbwahrheiten und Heilsversprechen helfen nicht weiter. https://www.deutsche-alzheimer.de/unser-service/archiv-alzheimer-info/alzheimer-halbwahrheiten-und-heilsversprechen-helfen-nicht-weiter.html
  • James, I. A. (2011) Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Demenz, Bern: Verlag Hans Huber
  • Kitwood, T. (2000) Demenz. Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber

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