Die Milieusensibilität als Element des Vollständigkeitskonzepts ist der Inhalt des 63. Blogs. Anhand des Mahlzeitenmilieus werden verschiedene Aspekte dargestellt.
Vorbemerkungen
Das Vollständigkeitskonzept kann als ein mehrdimensionales Strukturgeflecht verschiedener Reizgefüge der Umwelt mit dem Ziel verstanden werden, die Person-Umwelt-Passung möglichst optimal zu gestalten. Die Demenzkranken sollen sich in ihrer näheren Umgebung vertraut und sicher fühlen. In Blog 61 und Blog 62 wurde gezeigt, welche Auswirkungen die räumlichen und physikalischen Gegebenheiten auf das Verhalten und damit auch auf das Empfinden der Betroffenen besitzen. Belastungselemente des Milieus können von ihnen nicht beeinflusst werden, sie können hierbei nur mit demenzspezifischen Krankheitssymptomen wie Unruhe, Furcht und Aggression reagieren. Dieses Verhalten wird in den Neurowissenschaften als Plussymptomatik bezeichnet. Es gibt bei Demenzkranken jedoch auch die Minussymptomatik. Das heißt Minderung des Verhaltens wie Rückzug, Apathie und im Extremfall eine Schockstarre. Auch hierbei ist die Person-Umwelt-Passung deutlich gestört, auch hier sind die Betroffenen überfordert. In diesem Blog wird u. a. auf diese Verhaltensweisen eingegangen werden, die Ausdruck einer Milieusensibilität sind. Die Milieusensibilität Demenzkranker unterscheidet sich von der Milieusensibilität Nicht-Demenzkranker u. a. durch die fehlende Bewusstwerdung des Zustandes. Der Demenzkranke spürt die Belastungsimpulse der Umgebung, vermag sie sich jedoch nicht zu erklären. Dementsprechend kann er darauf nur unbewusst physiologisch mit einem Plus- oder Minusverhalten reagieren. Es fehlt somit die geistige oder kognitive Verarbeitung dieses Zustandes. Im Folgenden werden Beispiele für die Milieusensibilität Demenzkranker anhand des Themenfeldes Mahlzeiten und Mahlzeitenmilieu aufgezeigt.
Milieusensibilität
Die Milieusensibilität zeigt sich in verschiedenen Bereichen der Lebenswelt Demenzkranker, wobei nicht nur die Gegebenheiten der gegenwärtigen Lebensumstände, sondern auch Faktoren der Vergangenheit (u. a. episodische Langzeitgedächtnisinhalte) Beeinflussungsfaktoren darstellen. Darüber hinaus zeigt sich Milieusensibilität auch bei demenzspezifischen und damit kleinkindähnlichen Verhaltensweisen.
Fehlende biografische Vertrautheit
Ein wesentlicher Faktor für das Auftreten stressbedingter Verhaltensweisen besteht aus der fehlenden Passung von Vergangenheit und Gegenwart im Bewusstsein der Demenzkranken. In Blog 16 und in Blog 31 wurde veranschaulicht, welchen Einfluss Prägungen und Gewohnheiten auf das Alltagsleben Demenzkranker besitzen. Bezogen auf die Milieusensibilität bedeutet dies, dass Reizimpulse der Gegenwart, die deutlich von den im Langzeitgedächtnis abgespeicherten Reizgefügen abweichen, zu unangenehmen Empfindungen führen.
Vertraute Mahlzeiten
Milieusensibilität zeigt sich auch in einem positiven Zusammenhang. So besitzt lebensgeschichtlich vertraute Nahrung z. B. Einfluss auf die Nahrungsaufnahme. Dies konnte in einem Heim in der Schweiz nachgewiesen werden. Dort wurden Demenzkranken selbstgemachte Ravioli mit frischen Zutaten angeboten, während der zweiten Gruppe einfache, aber von früher vertraute Büchsen-Ravioli angeboten wurden. Der Erfolg des einfachen Büchsengerichtes war beeindruckend: Es wurde nicht nur die dreifache Menge gegessen, sondern man erkundigte sich nach dem Koch und lobte ihn ausgiebig (Held et al. 2004: 75, Lind 2011: 281).
Mahlzeitenmilieu
Welchen Einfluss die Gestaltung des Essbereiches durch eine generationsspezifische Möblierung und durch generationsspezifische Mahlzeitenutensilien (Geschirr, Besteck, Tischtuch und Tischschmuck) auf die Nahrungsaufnahme bei Demenzkranken besitzt, konnte eine Verhaltensstudie in Schweden zeigen. Es wurde ein eher steril wirkender Essbereich („Kantinenatmosphäre“) in ein gutbürgerliches Esszimmer umgestaltet. Diese Veränderung des Mahlzeitenmilieus führte u. a. dazu, dass 25 – 50 Prozent mehr an Kalorien eingenommen wurde. Nach der Erprobungsphase wurde der Essbereich wieder in den ursprünglichen Zustand zurück gestaltet. Prompt verminderte sich auch wieder das Essverhalten (Elmstahl et al. 1987, Lind 2005, Lind 2011: 271).
Die Ergebnisse dieses Milieuexperiments lassen sich wie folgt interpretieren. Wie bereits weiter oben angeführt, liegt hier eine Minussymptomatik des Verhaltens aufgrund des Unwohlseins in der nicht vertraut wirkenden Umgebung vor. Dieses Unbehagen bezüglich dieser Milieufaktoren führt bei den Betroffenen zu einem verminderten Appetit. Wer Stress hat, hat in der Regel auch wenig Hunger.
Mahlzeiteneinnahme mit Bezugsperson
Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium befinden sich aufgrund des neurodegenerativen Abbauprozesses im Wahrnehmen, Empfinden und auch Verhalten auf einem krankhaften Rückentwicklungsstadium ähnlich einem Kleinkind (Reisberg et al. 1999). Sie zeigen daher oft kleinkindähnliche Verhaltensweisen (siehe Blog 60). Für die Gestaltung eines angemessenen Mahlzeitenmilieus ist somit dieser Faktor eines stadiensbezogenen Verhaltens die Richtschnur, die sich u. a. in der Mitwirkung und Präsenz der Mitarbeiter realisiert wird. Folgende Aspekte stehen dabei im Vordergrund.
Vorbildfunktion bei der Mahlzeiteneinnahme
In Blog 18 wurde aufgezeigt, dass Demenzkranke wie Kleinkinder ein stark ausgeprägtes Nachahmungsverhalten zeigen. In Heimen mit demenzspezifischem Mahlzeitenmilieu wird daher bei der Mahlzeiteneinnahme eine nichtdemenzkranke Person (Mitarbeiter, Angehörige, Ehrenamtliche u. a.) zum angeleiteten Mitessen eingesetzt. Es wird berichtet, dass durch dieses „therapeutische Mitessen“ die Fähigkeit zum selbständigen Essen stabilisiert worden konnte (Lind 2005, Lind 2011: 276).
Stabilisierungsfaktor
Neben den Aspekt einer verbesserten Nahrungsaufnahme gilt es noch den Aspekt einer psychosozialen Stabilisierung anzuführen. Wie in Blog 60 bereits beschrieben, haben Demenzkranke ähnlich Kleinkinder ein starkes Bedürfnis nach Nähe zu ihren Bezugspersonen. In deren Nähe fühlen sie sicher und geborgen. Die Gegenwart dieser Personen drückt sich bei den Mahlzeiten derart aus, dass mehr Ruhe einkehrt. Darüber hinaus ist eine längere Verweildauer am Tisch beobachtet worden (Lind 2005, Lind 2011: 145f).
Akustische und visuelle Ablenkung
In Blog 15 wurde der Sachverhalt dargestellt, dass Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium nicht mehr in der Lage sind, mehrere Reizimpulse zugleich angemessen zu verarbeiten. Die Fähigkeit zur „geteilten Aufmerksamkeit“ geht somit verloren. Für die Pflege, Betreuung und auch die Milieugestaltung gilt daher das „Ein-Reiz-Prinzip“ (so genanntes „Monotasking“). Dieses Wahrnehmungsdefizit sollte daher auch bei der Gestaltung des Mahlzeitenmilieus Berücksichtigung finden.
Akustische Ablenkungen
Akustische Beeinträchtigungen (höherer Geräuschpegel wie u. a. Radio, Telefon oder TV) sind Ablenkungsmöglichkeiten und zusätzlich Stress und Verunsicherung zugleich. Sie beeinträchtigen merklich die Nahrungsaufnahme der Demenzkranken (Lind 2011: 283, McDaniel et al. 2001). Aufgrund dieser Milieusensibilität der Demenzkranken wird empfohlen, die Räume zur Mahlzeitenaufnahme schalldämmend auszugestalten (z. B. Textilien, Vorhänge und schallschluckende Boden- und Deckenelemente). Des Weiteren sollten auch störende Geräusche durch Transportwagen vermieden werden (Lind 2011: 283, Heeg et al. 2008:120, Rückert et al. 2007: 97).
Visuelle Ablenkungen
In Blog 60 wird darauf verwiesen, dass Demenzkranke zu einem reflexartigen Nachahmungsverhalten neigen. Wenn z. B. jemand an einem sitzenden Demenzkranken vorbeigeht, so kann es vorkommen, dass der Demenzkranke reflexartig aufsteht und der Person folgt. Diesen Sachverhalt gilt es bei dem Mahlzeitenmilieu ausreichend zu berücksichtigen. So sollten z. B. möglichst keine Mitarbeiter während der Mahlzeiten durch den Speiseraum eilen. Demenzkranke könnten hierdurch regelrecht ihre Mahlzeit vergessen und aufstehen.
Lichtverhältnisse
Die Milieusensibilität Demenzkranker bei den Mahlzeiten drückt sich auch in der Beleuchtung und der Helligkeit bei den Mahlzeiten aus. Eine zu geringe Helligkeit wirkt sich negativ auf die Mahlzeiteneinnahme aus, wie eine Studie zeigte (McDaniel et al. 2001, Lind 2011: 284).
Soziale Stimulierung
Auch das soziale Milieu, das Miteinander beim Essen spielt eine Rolle hinsichtlich des Appetits. So konnte z. B. nachgewiesen werden, dass die Bildung von Tischgemeinschaften zu einer Verbesserung des Essverhaltens und zu einer Zunahme der Nahrungsaufnahme führt. Dies weist auf den Sachverhalt hin, dass die Mahlzeiteneinnahme eine gemeinschaftliche und soziale Verhaltensweise ist und dass Abweichungen hiervon sich negativ auf Appetit und Wohlbefinden auswirken (Lind 2011: 138f, Melin et al. 1981).
Literatur
- Elmstahl, S. et al. (1987) Hospital nutrition in geriatric long-term care medicine. 1. Effects of a changed meal environment. Comprehensive Gerontology, 1: 28–33.
- Heeg, S. et al. (2008) Heimat für Menschen mit Demenz. Internationale Entwicklungen im Pflegeheimbau. Frankfurt: Mabuse.
- Held, D. et al. (2004) Das demenzgerechte Heim. Basel: Karger.
- Lind, S. (2005) Mahlzeitenmilieu für an Demenz erkrankte Menschen im Heim: Gemeinsam schmeckt es besser. In: Pflegezeitschrift, 58 (12): 778–781.
- Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber.
- McDaniel, J. H. et al. (2001) Impact of dining room environment on nutritional intake of Alzheimer’s residents. A case study. American Journal of Alzheimer’s Disease and Other Dementias, 16 (5): 297–302.
- Melin, L. et al. (1981) The effects of rearranging ward routines on communication and eating behaviors of psychogeriatric patients. Journal of Applied Behavior Analysis, 14: 47-51.
- Reisberg, B. et al. (1999) Toward a science of Alzheimer’s disease management: a model based upon current knowledge of retrogenesis. International Psychogeriatrics, 11 (1): 7-23.
- Rückert, W. et al. (2007) Ernährung bei Demenz. In: Robert Bosch Stiftung (Hrsg.) Gemeinsam für ein besseres Leben mit Demenz. Bern: Verlag Hans Huber.
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Dr. phil., Diplom-Psychologe, geboren am 21.09.1947 in Marburg/Lahn.
Dieser Blog dient dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren.