Die Milieuabhängigkeit als Element des Vollständigkeitskonzepts

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Die Milieuabhängigkeit als Element des Vollständigkeitskonzepts ist der Inhalt des 62. Blogs. Es werden die verschiedenen Faktoren beschrieben.

Nachtrag und Ergänzung

In Blog 61 wurde auf die Auswirkungen einer nicht demenzspezifischen Raumstruktur in den Pflegeheimen auf das Verhalten Demenzkranker hingewiesen. Es liegen Untersuchungen vor, die den negativen Einfluss langer Flure auf das Verhalten belegen. So wurde ein erhöhter Grad an Unruhe, Angst und tätlichen Aggressionen unter den Bewohnern beobachtet (Marquardt et al. 2014, Elmstahl et al. 1997, Isaksson et al. 2009). Des Weiteren wurde in Studien festgestellt, dass eine demenzspezifische Raumstruktur (u. a. zentral gelegener Pflegestützpunkt, räumliche Nähe der Gemeinschaftsflächen) sich positiv auf das Sozialverhalten und die Orientierung auswirken (Marquardt et al. 2014, Emstahl et al. 1997, Netten 1989, Passini et al. 2000).

Milieuabhängigkeit

Im Rahmen des Vollständigkeitskonzepts der Demenzpflege gilt es alle Faktoren und Wirkelemente anzuführen, die sich sowohl positiv als auch negativ auf das Befinden Demenzkranker auswirken. Die Grundlage für dieses Vorgehen ist u. a. der Sachverhalt, dass die Demenzkranken aufgrund ihrer krankheitsbedingten Hilflosigkeit selbst nicht mehr in der Lage sind, diese Wirkfaktoren selbst zu beeinflussen bzw. zu regulieren.

Es besteht nicht nur das Unvermögen, die störenden Reizquellen zu regulieren, sondern darüber hinaus auch das Unvermögen, diesen Eindrücken einen Sinn oder eine Bedeutung zuzuordnen. Wenn das laute Telefonläuten nicht mehr als Telefonläuten verstanden werden kann, sondern nur noch als ein unangenehm lautes Geräusch, dessen Ursache man sich nicht zu erklären weiß, dann entstehen leicht Unsicherheit und Angst. Wenn akustische Reize wie das Telefonläuten nicht mehr zugeordnet werden können, bezeichnet man das als akustische Agnosie (siehe Blog 2).

Diese fehlende Umweltkompetenz macht Demenzkranke extrem hilflos und zugleich hilfebedürftig. Das heißt, sie sind bereits im mittelschweren Stadium auf Unterstützung und Begleitung angewiesen, will man Überforderung und Stress bei den Betroffenen vermeiden. Konkret bedeutet dies, das Milieu oder die Lebenswelt für Demenzkranke auf dieses Unvermögen einer selbständigen Umweltbeherrschung hin auszurichten, indem sichernde und begleitende Faktoren wie Beistand und Aufsicht Bestandteile dieser Lebenswelt werden. Diese Begleitung geschieht in der Regel dezent und hintergründig, die Betroffenen erleben kaum, dass sie sich im Blickfeld der Mitarbeiter befinden.

Demenzspezifische Reizanpassung bedeutet in diesem Zusammenhang, das Milieu zugleich mit für die Betroffenen nicht wahrnehmbaren Schutz- und Kontrollmechanismen zu versehen, die derart indirekt und versteckt wirken, dass die Demenzkranken sich im Vollbesitz einer selbst bestimmten Lebensgestaltung erleben (Lind 2011: 134).

Umweltfaktoren

Folgende Umweltfaktoren haben einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf das Wohlbefinden der demenzkranken Bewohner in ihrer Lebenswelt im Heim:

Lichtverhältnisse

Da Demenzkranke wie alle alten Menschen unter altersbedingten Sehproblemen leiden, gilt es auch im Bereich der Lichtverhältnisse kompensatorisch auf die Defizite der Betroffenen einzugehen (Brawley 1992). Es zeigte sich in Einrichtungen u. a. auch, dass das Helligkeitsempfinden nicht allein von einer hohen Beleuchtungsstärke abhängt, sondern das es auch von den umgebenden Reflektionsflächen (Decken, Wände, Bodenbeläge u. a.) beeinflusst wird. Besonders wichtig ist es, dunkle Bereiche z. B. in Ecken zu vermeiden, da dies bei den Bewohnern zu Furchtempfindungen und Fehldeutungen führen kann.

Raumtemperatur

Es ist wiederholt beobachtet worden, dass demenzkranke Bewohner sehr sensibel auf die Raumtemperatur reagieren. Auch Zugluft stellt eine Belastung dar. Als Richtwert kann daher eine Raumtemperatur empfohlen werden, die von den Bewohnern auch bei leichter Bekleidung (Nachthemd u. a.) als angenehm empfunden wird. Die Raumtemperatur wirkt sich somit auch auf das Verhalten und das Wohlbefinden der Demenzkranken aus. Bei einer angenehmen und damit auch angemessenen Raumtemperatur zeigen die Bewohner einen deutlichen geringeren Grad an Unruhe und störendem Verhalten. Auf der anderen Seite konnte bei einer unangemessenen Raumtemperatur ein niedriges Ausmaß an Wohlbefinden beobachtet werden (Marquardt et al. 2014).

Stumpfe Böden

Es wird empfohlen, nicht glänzenden Fußbodenbelag zu verwenden, um Spiegelungen zu vermeiden. Bei Demenzkranken ist die Tiefenwahrnehmung dergestalt gestört, dass sie flächiges für körperliches wahrnehmen. Ein Schatten auf dem Boden kann somit leicht für einen Abgrund gehalten werden (Martichuski et al. 1993) (siehe Blog 4).

Sensorische Über- und Unterstimulierung

Eine Reihe von Untersuchungen belegen, dass Demenzkranke äußerst sensibel auf sensorische Über- und Unterstimulierungen ihres Milieus reagieren (Hall et al. 1987). Es hat sich gezeigt, dass Demenzkranke auf bestimmte akustische und optische Stimulierungen wie z. B. Telefonklingeln, Rufen und laute Radio- und Fernsehbeschallung mit hektischen Verhaltensweisen reagieren. Diese Erfahrungen hat man in den USA zum Anlass genommen, die Reizzufuhr entsprechend dem Belastungsniveau zu regulieren. Ein Beispiel hierfür sind die so genannten „low stimulus units“ (Wohnbereiche mit geringeren akustischen und optischen Reizniveau): die Bewohner dieser Wohnbereiche reagieren auf die gezielte Reizminderung mit ruhigeren Verhaltensweisen (Cleary et al. 1988, Johnson 1989, Meyer et al. 1992).

Auf der anderen Seite ist festgestellt worden, dass auch Unterstimulierungen (ein Mangel an Reizen) bei den Demenzkranken Reaktionen mit teils agitierten Verhaltensweisen hervorrufen. In reizarmen Milieus wurde beobachtet, wie Bewohner hierauf mit Aktivitäten der Selbststimulierung reagierten: So produzierten Demenzkranke in äußerst stillen Wohnbereichen verschiedenartigste Geräusche, um die belastende Ruhe oder Totenstille zu beheben (Sloane et al. 1997). In einem Heim, in dem man die Bewohner an den Wochenenden oft aus Personalmangel in den Betten ließ, wurde an dem darauf folgenden Tag ein besonders intensives Bewegungsverhalten (Wandern auf Station) beobachtet. Dieses Verhalten kann so interpretiert werden, dass die Betroffenen den Entzug an Eigen- und Fremdstimulierung durch die längere Bettgebundenheit durch erhöhte Eigenaktivität auszugleichen versuchten (Lind 2007: 65, Lind 2011: 158f).

Literatur

  • Brawley, E. (1992) Alzheimer’s disease: Designing the physical environment. The American Journal of Alzheimer’s Care and Related Disorders and Research, 7 (1): 3-8.
  • Cleary, T. A. et al. (1988) A reduced stimulation unit: effects on patients with Alzheimer’s disease and related disorders. The Gerontologist, 28 (4): 511–514.
  • Elmstahl, S. et al. (1997) How should a group living unit for demented elderly be designed to decrease psychiatric symptoms? Alzheimer Disease and Associated Disorders, 11(1), 47–52.
  • Hall, G. R. et al. (1987) Progressively lowered stress threshold: a conceptual model for car of adults with Alzheimer’s disease. Archives of Psychiatric Nursing, 1 (6): 399–406.
  • Isaksson, U. et al. (2009). Factors associated with the prevalence of violent behaviour among residents living in nursing homes. Journal of Clinical Nursing, 18(7), 972–980.
  • Johnson, C. J. (1989) Sociological intervention through developing low stimulus Alzheimer’s wings in nursing homes. The American Journal of Alzheimer’s Care and Related Disorders and Research, 4 (2): 33–41.
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber.
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber.
  • Marquardt, G. et al. (2014) Impact of the design of the built environment on people with dementia: An evidence-based review. Health Environments Research & Design Journal, 8(1), 127–157.
  • Martichuski, D. et al. (1993) Treating excess disabilities in special care units: A review of interventions. . The American Journal of Alzheimer’s Care and Related Disorders and Research, 8 (5): 8-13.
  • Meyer, D. L. et al. (1992) Effects of a ‘quiet week’ intervention on behavior in an Alzheimer boarding home. The American Journal of Alzheimer’s Care and Related Disorders and Research, 7 (4): 2–7.
  • Netten, A. (1989) The effect of design of residental homes in creating dependancy among confused elderly residents. International Journal of Geriatric Psychiatry, 4: 143-153.
  • Passini R. et al. (2000) Wayfinding in a Nursing Home for Advanced Dementia of the Alzheimer’s Type. Environment & Behaviour, 32 (5): 684-710.
  • Sloane, P. D. et al. (1997) Management of patient with disruptive vocalization. The Gerontologist, 37 (5): 675–682.

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