Störungen im Bereich der Tiefenwahrnehmung und der Selbstwahrnehmung mit dem damit verbundenen Überforderungsverhalten bilden den Inhalt des vierten Blogs. Neben den neurowissenschaftlichen Erläuterungen werden auch Präventionsmaßnahmen und Interventionsformen angeführt.
Störung der Tiefenwahrnehmung
Anhand von drei Beispielen werden die Störung der Tiefenwahrnehmung und die fehlende Selbstwahrnehmung mitsamt den damit verbundenen Reaktionen beschrieben:
Beispiel 1: Der Schatten auf dem Boden eines fensterreichen Verbindungsganges wird von den Demenzkranken als Abgrund wahrgenommen mit der Folge, dass sie abrupt stehen bleiben, nach unten schauen und wieder umdrehen (Lind 2011: 99).
Beispiel 2: Eine rosafarbene Serviette wird von einer Bewohnerin für ein Stück Fleisch gehalten und entsprechend mit Messer und Gabel bearbeitet (Lind 2011: 99).
Beispiel 3: Eine Demenzkranke steht vor dem Spiegel und redet mit ihrem Spiegelbild (Lind 2011: 208).
Die Beispiele verdeutlichen eine gravierende Wahrnehmungsminderleistung dahingehend, dass alle Reizgefüge mit der Qualität Körperlichkeit verknüpft werden. Das Hirn vermag aufgrund des Abbauprozesses nicht mehr zwischen Körper und Fläche zu differenzieren. Somit ist alles körperlich und wird dementsprechend auch behandelt. Es liegt hier also eine gestörte Tiefenwahrnehmung vor, die als eine spezielle Form der geistigen Unterscheidungsunfähigkeit klassifiziert werden kann (siehe 1. Blog). Dieser Verlust an Wahrnehmungsfähigkeit als ein Krankheitssymptom besitzt auch hier wieder eine Parallele zur Hirnreifung. Bei Kleinkindern im Alter von ca. 9 Monaten wurde dieses Unvermögen, Flächiges von Körperlichem zu unterscheiden, ebenfalls beobachtet. Erst im Alter von 19 Monaten ist das Hirn gereift oder entwickelt, dass die Unterscheidung von Gegenständen und Abbildungen von Gegenständen geleistet werden kann (Siegler 2016: 166).
Im Beispiel mit dem Spiegelbild kann neben der gestörten Tiefenwahrnehmung zusätzlich noch das Krankheitssymptom einer gestörten Selbstwahrnehmung festgestellt werden. Die Demenzkranke vermag sich im Spiegel nicht mehr zu erkennen, sie hält ihr Spiegelbild für eine fremde Person, mit der sie zu kommunizieren versucht. Auch hier besteht wieder die Parallele zum Entwicklungsprozess des Hirns: erst im Alter von zwei Jahren erkennen sich Kinder im Spiegel, haben also ein Bild von ihrem äußeren Selbst verinnerlicht (Siegler 2016: 410).
Diese geistigen Minder- und Fehlleistungen in der Verarbeitung von Reizgefügen verursachen in der Regel Verwirrung und Stress bei den Betroffenen, denn die Umwelt wird als fremd und bedrohlich empfunden, die man nicht mehr angemessen zu beherrschen vermag.
Konsequenzen für die Praxis
Wenn Abbildungen für konkrete Gegenstände gehalten werden, die man greifen und bearbeiten kann, dann gilt es, diese zur Verwirrung führenden Reizgefüge aus der Lebenswelt der Demenzkranken aus dem Demenzwohnbereich und auch aus dem häuslichen Bereich zu verbannen. Folgende Faktoren sollten u. a. vor allem Berücksichtigung finden:
- Vermeidung von Spiegelungen und Schattenbildungen durch Tageslicht (Fenster) und Beleuchtung (u. a. Leuchtkörper an Wänden und Decken)
- Spiegel entfernen bzw. bedecken
- Bilder mit bedrohlichen Motiven (u. a. Wildtiere und Personen) vermeiden
- Keine Tischdecken, Servietten und Tapeten mit realistischen Abbildungen verwenden
- Kontrollierter und begleiteter Fernseh- und Videokonsum
- Kein Bodenbelag mit Musterung (Parkettfußboden u. a.) und Farbabstufungen
Es gilt somit bei Tiefenwahrnehmungsstörungen, Zweideutigkeiten in der Wahrnehmung äußerer Reizgefüge durch Verzicht der entsprechenden Utensilien gemäß der Regel „Jede Fehldeutung kann zu einer belastenden Fehlhandlung führen“ zu vermeiden.
Empfehlungen für die Praxis
Es darf in diesem Zusammenhang jedoch darauf hingewiesen werden, dass das Wissen um die gestörte Tiefenwahrnehmung auch als eine Interventionsform in der Lebensweltgestaltung eingesetzt wird. Die folgenden Beispiele aus dem Heimbereich zeigen das Potential und auch das Spektrum dieser Vorgehensweise:
Um das Betreten bestimmter Teile eines Demenzwohnbereiches zu verhindern, wurden auf dem Boden schwarze balkenartige Farbmarkierungen als Barrieren angebracht.
Beispiel 1: Einer Demenzkranken im Heimbereich, von der man wusste, dass sie lange und freudig mit ihrem Spiegelbild kommunizierte, stellte man zu diesem Zweck einen großen Spiegel in ihr Zimmer (Lind 2011: 208).
Beispiel 2: Eine demenzkranke Heimbewohnerin weigerte sich, ohne ihren verstorbenen Gatten die Mahlzeiten einzunehmen. Man stellte nun ein Foto des Verstorbenen auf den Esstisch. Die Betroffene war daraufhin bereit zu essen. Der Ehemann war ihr ja nun gegenwärtig (In diesem Beispiel finden neben der gestörten Tiefenwahrnehmung auch das Vollständigkeitsprinzip, das Verdinglichungskonzept und die Surrogat-Strategien Berücksichtigung, die in noch ausstehenden Blogs demnächst erläutert werden).
Diese Beispiele zeigen u. a. recht deutlich, dass die Lebenswelt Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium ihre eigenen Regeln und Wirkfaktoren besitzt. Das oberste Gebot bei diesen Strategien der sozialen und räumlichen Umweltbeeinflussung besteht aus der Optimierung der Person-Umwelt-Passung. Nur so lassen sich Überforderung und Stresserleben deutlich vermindern.
Literatur
- Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
- Siegler, R. et al. (2016) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer
Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Kontaktformular). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.
Dr. phil., Diplom-Psychologe, geboren am 21.09.1947 in Marburg/Lahn.
Dieser Blog dient dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren.
Hallo Herr Lind,
ich habe eine Anmerkung zu dem von Ihnen vorgeschlagenen „kontrollierten und begleiteten Fernsehkonsum“. Einige Mitarbeiter setzen Bewohner mit Demenz vor den Fernseher, um ihnen ein wenig Ablenkung zu bieten und der Langeweile entgegen zu wirken, so wie es Menschen ohne Demenz auch durchaus tun. Viele sind sich offenbar nicht klar darüber, dass sie Bewohner mit fortgeschrittener Demenz mit den Reizen überfordern und verwirren und damit selbst Stresssituationen auslösen.
Beispiel: Eine Bewohnerin sah im Fernsehen eine Tiersendung, in der kranke und verwahrloste Tiere gezeigt wurden. Sie glaubte sich real mitten in der Situation und fühlte sich persönlich dafür verantwortlich, den armen Tieren zu helfen. Das versetzte sie verständlicherweise in Stress und Angst, fast schon in Panik. Es war nur mit viel Geduld und Ablenkung möglich, sie wieder zu beruhigen.
Anders herum kann Fernsehkonsum gezielt und individuell eingesetzt, auch das Wohlbefinden der Demenzkranken fördern. So war es für eine Bewohnerin der höchste Genuss, eine Sportsendung zu schauen und dabei ein Gläschen Rotwein zu genießen. Manchmal ist es möglich, mit kleinen Mitteln und wenig Zeitaufwand das Wohlbefinden eines Bewohners zu steigern. Man muss es nur wissen!
Die Erfahrung habe ich früher, als ich noch als PDL in einer großen Senioreneinrichtung tätig war, auch gemacht. Manche dementen Bewohner fühlten sich real in die Situation versetzt, die sie gerade im Fernsehen sahen.
Einmal lief eine Sendung über den letzten Weltkrieg. Es ging um Kinder, die während Bombenangriffen und Evakuierung verloren gegangen waren und später über Suchanzeigen der Wohlfahrtsverbände wieder vermittelt wurden.
Wir hatten eine Bewohnerin, die betroffen war und die nie ihr Kind wiedergefunden hatte. Sie waren auf dem Weg von Köln nach Thüringen gewesen, als alle aus dem Zug mussten, weil es einen Bombenangriff gab. Das Kind wurde von den Eltern getrennt, als sie von einem Bunker wieder auf dem Weg zum Bahnhof waren. Die Eltern blieben zurück, aber das Kind wurde nicht gefunden, auch nach Kriegsende nicht.
Die Frau – mittlerweile Witwe ohne weitere Kinder – war bereits sehr verwirrt, wurde zusehends unruhiger und erzählte in der Folge die ganze Geschichte. Sie konnte sich nicht mehr an die einzelnen Orte erinnern, aber daran, dass sie auf dem Weg nach Thüringen waren. Sie erzählte von dem Angriff, dem Weg zum Bunker und über die Suche nach dem Kind, als sei es gestern gewesen. Sie weinte und litt, als sei das alles gerade erst geschehen.
In der Folge war sie von einer tiefen Traurigkeit befallen und musste medikamentös neu eingestellt werden. Der Mann war ein Jahr vorher verstorben, bevor sie zu uns kam. Er hatte sich um sie gekümmert mit Hilfe eines Pflegedienstes. Von ihm sprach sie nie. Aber sie sorgte sich um die kleine Tochter, die für sie immer noch so klein war wie am Tag, an dem sie von ihnen getrennt wurde. Sie lebte noch eineinhalb Jahre in unserer Einrichtung.
Vielen Dank für die interessanten Ausführungen. Ich habe eine gute Erfahrung gemacht bei einem traurigen dementen Gast der Tagespflege. Seine Frau war schon vier Jahre verstorben. Ich nahm ihm zwei laminierte Frauenbilder mit. Eine deutsche Frau mit lockigem Haar und eine japanische Frau in Landestracht. Auf meine Frage hin welche ihm am besten gefällt wählte er die Japanerin und strahlte mich an. Das tat er an diesem Tag noch häufig. Wie er ging fragte ich wo das Bild sei. Er lächelte mich an und zeigte auf die Brusttasche seines Sackos.
Wie war der weitere Verlauf? Hat der Demenzkranke in den folgenden Tagen auch wieder das Foto gezeigt? Hatte das Foto Auswirkungen auf seine Trauer um seine verstorbene Ehefrau?
Hallo, Herr Lind,
immer wieder erfrischend, diese praxis- und lebensweltnahen Artikel zu lesen.
Unsere Leitung Sozialer Dienst freut sich.
Herzlichen Gruß
Jörg Bodenberger