Furcht und Unruhe der Demenzkranken (Teil 4) ist der Inhalt des 94. Blogs. Es werden die Beeinflussungsstrategien der Eigenweltgestaltung bei Impulsen der Altbiografie angeführt.
Nachtrag Blog 93
Es ist in Blog 93 und auch bereits in Blog 8 darauf hingewiesen worden, dass bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium und auch bei Kleinkindern davon ausgegangen werden kann, dass Aufmerksamkeit und Bewusstsein aufgrund der pathologisch veränderten bzw. unausgereiften Neurophysiologie quasi identisch sind (Lind 2011: 79f).
In Blog 14 ist angeführt, dass die Aufmerksamkeit bei Demenzkranken starken Veränderungen ausgesetzt ist. Aufmerksamkeit wiederum lässt sich in „Daueraufmerksamkeit“, „selektive Aufmerksamkeit“ und „geteilte Aufmerksamkeit“ untergliedern (Markowitsch et al. 2005: 64). Diese kognitiven Fähigkeiten sind bei Demenzkranken bereits in frühen Stadien aufgrund des Abbauprozesses im Bereich des Hippocampus stark beeinträchtigt (Namazi et al. 1992, Perry et al. 1999, Johannsen et al. 1999).
Die Wirksamkeit der Löschungsstrategien lässt sich somit auch mit der Unfähigkeit zur geteilten Aufmerksamkeit bei Demenzkranken erklären. Die Areale des Hippocampus sind abbaugedingt nicht mehr in der Lage mehrere Reizimpulse parallel angemessen zu verarbeiten. In der Demenzpflege findet diese kognitive Minderleistung Berücksichtigung, indem Strategien des Ein-Reiz-Prinzips bei der Pflege und Betreuung angewendet werden (siehe Blog 15).
Vorbemerkung
In Blog 92 und Blog 93 ist anhand von Beispielen aufgezeigt worden, dass Furcht und Unruhe u. a. bei Desorientierungsphänomenen, wahnhaften Halluzinationen und belastenden Fehlwahrnehmungen mittels Strategien des Löschens (Ablenken und Beruhigen, Mitgehen und Mitmachen) wirksam therapeutisch behandelt werden kann. In diesem Blog geht es nun nicht um die Beseitigung belastender Impulse (Löschen). Im Gegenteil, es geht um den Aufbau einer Eigenwelt für Demenzkranke, die ohne diese Strategie des Mitgehens und Mitmachens in einem ständigen Unruhe- und auch Furchtzustand verbleiben würden. Die Eigenweltgestaltung ist eine Umgangsform oder Konzeption, die individuell auf den jeweiligen Bewohner zugeschnitten ist, um Belastungen aus der Altbiografie (Langzeitgedächtnisinhalte, siehe Blog 91) angemessen zum Wohle der Betroffenen beeinflussen zu können. Anhand der Krankheitssymptome Belastende Erinnerungen und zwangsähnliches Desorientierungsverhalten werden unterschiedliche Formen der Eigenweltgestaltung mittels Fallbeispiele beschrieben.
Belastende Erinnerungen
In Blog 11 ist erläutert, dass Erinnerungen im Sinne eines Lebensrückblickes im Alter ein bedeutsames Erklärungsmoment für das Wohlbefinden (Perrig-Chiello 1997) darstellen. Und die schönen Erinnerungen werden von den Hochbetagten teils mithilfe von Erinnerungsstücken oft aktiviert (Oswald 1996). Bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium hingegen bedarf es keiner Souvenirs, um in Erinnerungen zu schwelgen. Hier dringen ungefiltert und unkontrolliert Langzeitgedächtnisinhalte ins Bewusstsein und werden krankheitsbedingt als reale Gegebenheiten erlebt. Denn es fehlt bei ihnen der Realitätsfilter, der unbewusst die Unterscheidung zwischen Erinnerung und Gegenwart vollzieht (siehe Blog 8). Wenn nun extrem belastende Erinnerungen ins Bewusstsein dringen, dann wird gleichzeitig auch der damit verbundene starke Leidensprozess reaktiviert. Hier helfen keine beruhigenden Worte und auch keine Ablenkungsversuche, denn Angst und Furcht sind bei diesem Erleben bereits zu stark.
Eine nachweislich wirksame nicht-pharmakologische Intervention bei diesem Leidensprozess besteht aus der Veränderung der Erinnerung seitens der Pflegenden und Betreuenden mithilfe von entsprechenden Utensilien, wie das folgende Beispiel zeigt:
Beispiel: Ein Demenzkranker fragte immer wieder nach seinem Einberufungsbefehl zur Wehrmacht (2. Weltkrieg), den er voller Furcht erwartete. Erklärungen und beruhigende Worte erreichten ihn nicht, denn seine ganze Aufmerksamkeit war auf diese drohende Einberufung konzentriert. Um ihn von dieser tief greifenden Sorge zu befreien, setzten die Pflegenden ein Schreiben auf, das eine Freistellung von der Wehrpflicht durch die zuständige Militärbehörde zum Inhalt hatte. Durch diesen „Bescheid“ fühlte sich der Betroffene von seiner Belastung befreit. Jedem zeigte er freudig dieses Schreiben (Lind 2011: 215).
Ähnliche Fälle einer gezielten Vergangenheitsveränderung wurden bei Sachverhalten wie ein als ungerecht empfundenes Testament oder belastenden Schuldscheinen berichtet. Auch hier wurden „Testamente“ und „Schuldscheine“ zum Wohle der Betroffenen regelrecht „gefälscht“. Gleichzeitig wurden mittels dieser „Dokumente“ die Erinnerungen verändert. Ein Stück Lebensgeschichte wurde somit geschönt, indem die negativen Aspekte durch neue und zugleich positive Fakten ersetzt wurden. Diese Vergangenheitsmanipulationen mittels Erzeugung neuer „Erinnerungen“ teils mit der Zuhilfenahme entsprechender Hilfsmittel (verändertes Fotoalbum) konnte in psychologischen Experimenten auch bei Erwachsenen und Kindern nachgewiesen werden (Markowitsch 2013: 26).
Zwangsähnliches Desorientierungsverhalten
In Blog 12 wird auf die Krankheitssymptomatik zwangsähnliches Desorientierungsverhalten eingegangen. Hierbei handelt es sich um biografisch bedingte Verhaltensmuster verbunden mit einem zwanghaften Drangverhalten, das jedoch ohne Hilfestellung Dritter nicht stresslösend ausagiert werden kann. Diese Vorgehensweisen einer Hilfestellung oder Assistenz können auch als Ermöglichungsstrategien bezeichnet werden, denn ohne diese Interventionen wären die Betroffenen in einem Zustand der Dauerbelastung. Die folgenden Beispiele zeigen die Symptomatik einschließlich der kompensatorisch erforderlichen Lösungsstrategien.
Beispiel 1: Eine ehemalige Bäuerin hatte über 25 Jahre lang die Aufgabe, viermal am Tag die Pumpstation („Wasserhäusle“) des Dorfes zu kontrollieren. Dieser Kontrolltätigkeit wollte sie nun auch im Wohnbereich nachgehen. Für die Bewohnerin wurde nun das Stationsbad zum Wasserhäuschen deklariert, das eine Mitarbeiterin regelmäßig mit der Betroffenen zum Nachschauen aufsuchte. Zur Bestärkung hängt für diesen Zweck extra ein alter Schlüssel mit Schnur im Schwesternstützpunkt (Lind 2011: 119).
Beispiel 2: Eine Bewohnerin wurde immer nachts gegen 3:00 Uhr sehr unruhig und wanderte auf dem Wohnbereich umher. Vor ihrer Erkrankung hatte sie um diese Zeit mit dem Zeitungsaustragen begonnen. Man legte ihr daraufhin nachts einen Stapel Zeitungen vor Tür, den sie im Wohnbereich verteilte, um dann nach getaner Arbeit wieder schlafen zu gehen (Lind 2011: 120).
In diesen beiden Fällen wird den Betroffenen Gelegenheit zum Ausagieren ihres zwanghaften Handels gegeben. Der Wohnbereich wird entsprechend ihren Anliegen regelrecht umgestaltet: aus dem Stationsbad wird das „Wasserhäusle“ aus der Zeit vor der Erkrankung und ein Stapel alter Zeitungen reicht aus, das nächtliche Zeitungsaustragen initiieren zu können (siehe hierzu auch das Beispiel des „Bauern bei der Fütterung “ in Blog 5).
Literatur
- Johannsen, P. et al. (1999) Cortical responses to sustained and divided attention in Alzheimer’s disease. NeuroImage 10: 269-281
- Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
- Markowitsch, H.J. et al. (2006) Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta (2. Auflage)
- Namazi, K. et al. (1992) How familiar task enhance concentration in Alzheimer’s disease patients. The American Journal of Alzheimer’s Disease and Related Disorders & Research, 7 (1): 35–40
- Oswald, F. (1996) Hier bin ich zu Hause. Zur Bedeutung des Wohnens. Regensburg: S. Roderer Verlag
- Perrig-Chiello, P. (1997) Wohlbefinden im Alter. Körperliche, psychische und soziale Determinanten und Ressourcen. Weinheim: Juventa Verlag
- Perry, R.J. et al. (1999) Attention and executive deficits in Alzheimer’s disease. A critic review. Brain, 122: 383-404
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Dr. phil., Diplom-Psychologe, geboren am 21.09.1947 in Marburg/Lahn.
Dieser Blog dient dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren.