Vorarbeiten für die Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege (Teil 3)

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Vorarbeiten für die Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege (Teil 3) sind der Inhalt des 121. Blogs. Es werden Problembereiche der gegenwärtigen Demenzpflege in Theorie und Praxis dargestellt.

Vorbemerkung

Bei den Vorarbeiten zur Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege, die es durch Erfahrungswerte der konkreten Pflege und parallel dazu durch die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse quasi zweifach zu fundieren gilt, sind die Gegebenheiten der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit der Pflege in Theorie und Praxis im Bereich der Demenzpflege im deutschsprachigen Raum angemessen zu berücksichtigen.

Aus der Sicht des Bloggers gilt die Einschätzung, dass die Demenzpflege immer noch nicht flächendeckend den Sprung in das 21. Jahrhundert geschafft hat. Solange Pflegemodelle ohne Nachweis ihrer Wirksamkeit und Schadensfreiheit die Szene beherrschen, kann keine empirisch fundierte Demenzpflege entstehen, die wissenschaftlichen Kriterien gerecht zu werden vermag. Erst die Verknüpfung mit den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen kann die Lösung bringen und zur Überwindung nichtwissenschaftlicher Demenzkonzepte beitragen. Dann erst ist der Schritt getan, dass die Theorie mit der Praxis in der Demenzpflege im Sinne einer strikten Wissenschaftlichkeit verbunden werden kann (Lind 2007: 12). Aus diesem Grund ist es erforderlich, die verschiedenen Problembereiche, die der Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege entgegenstehen und sie damit deutlich hemmen, hinsichtlich ihrer Beeinträchtigungspotentiale angemessen darzustellen.

Problembereich 1- Der Mangel an Begriffen in der Demenzpflege

In den bisherigen Blogelementen sind vielfach Handlungsweisen und Umgangsstrategien beschrieben und auch erläutert worden, doch meist begrifflich erfasst in Wortschöpfungen des Bloggers (Sven Lind), die dann entsprechend als „vorläufige Arbeitsbegriffe“ klassifiziert werden. Der Grund für diese vielen neuen Begrifflichkeiten liegt in dem Sachverhalt, dass gegenwärtig zumindest in Deutschland keine allgemeinverbindliche Theorie einer Demenzpflege vorliegt. Es existiert also noch kein theoretischer Rahmen, der diese wirksamen Umgangs- und Beeinflussungsformen verallgemeinernd in Modellen und Begriffe abbildet. Die konkreten Handlungsmuster wie z. B. die fiktive Selbstpflege oder die Strategie in die Vergangenheit zurückführen (Blog 119) werden zwar tagtäglich praktiziert, sind jedoch nach dem Wissensstand des Bloggers noch nicht angemessen theoretisch erfasst worden. Begriffslosigkeit bestimmt somit den Alltag in der Pflege bezüglich der Anwendung dieser Vorgehensweisen. Unter diesen Bedingungen können dann auch Ablenkungs- und Beruhigungsstrategien in der Regel nicht angemessen kommuniziert werden.

Für die Demenzpflege ist der Tatbestand einer Begriffslosigkeit und damit zugleich auch Nichtvermittelbarkeit der Praxiserfahrung ein schweres Manko, denn die unmittelbare Körperpflege Demenzkranker im schweren Stadium (Stadium 6 der Reisbergskalen) ist in der Regel geradezu eine pflegerische Kunst in Anlehnung an den Begriff ärztliche Kunst. Es drohen ständig Gegebenheiten der Pflegeverweigerung (siehe Blog 33 und folgende) und auch der Pflegeerschwernis (siehe Blog 40 und folgende).

Problembereich 2 – Abwertung von Ablenkungs- und Beruhigungsstrategien

Gegenwärtig bestimmen einige Pflegekonzepte, die bisher keinen Wirksamkeitsnachweis ihrer Vorgehensweisen zeigten, den Diskurs in den einschlägigen Fachkreisen. Hierbei handelt es sich vor allem um so genannte „personenzentrierte Ansätze“ wie u. a. das Kitwood-Konzept und die verschiedenen Modelle der Validation.

In Blog 77 wird angeführt, dass im Rahmen der „malignen bösartigen Sozialpsychologie“ Kitwood wirksame Ablenkungs- und Beruhigungsstrategien als Lug und Trug diskreditiert. Auch Strategien des „Mitgehens“ werden von ihm ebenso wie die fiktiven Beeinflussungsstrategien („kleine Notlüge“ und „Tricks“) als „Täuschungen“ bezeichnet, die es abzulehnen gilt (Kitwood 2000: 73ff).

In Blog 30 und in Blog 45 wird angeführt, dass diese teils normativ-ideologischen Denkweisen gegenwärtig besonders bei leitenden Mitarbeitern in den Heimen teils noch die Richtschnur ihres Denkens und Handelns bilden. Es handelt sich hierbei somit um ein Überbauproblem und kein Problem der praktischen Demenzpflege. Doch Pflegende können durch diese Denkweisen in ihrem Handeln verunsichert werden, wird doch dieses Denken teilweise von ihren Vorgesetzten und Fort- und Weiterbildnern als Leitlinie propagiert.

In Blog 79 wird gezeigt, dass diese normativ-ideologischen Denkweisen zu Einschränkungen des Leistungsspektrums in den Heimen führen. Da in manchen Einrichtungen der Kitwood-Ansatz bereits Deutungs- und Disziplinierungsmacht u. a. in Gestalt von Pflegeleitbildern besitzt, werden viele Ablenkungs- und Beruhigungsstrategien gar nicht mehr oder nur noch heimlich praktiziert. Wiederholt wird aus den Heimen berichtet, dass die therapeutische Beeinflussung wahnhafter Realitätsverluste mittels Strategien des „Mitgehens und Mitmachens“ (z. B. „fremde Männer“ vertreiben) mit Abmahnungen und Ähnlichem geahndet werden (Lind 2011a).

Derartige Einstellungen widersprechen jedoch dem Prinzip des Internationalen Ethikkodexes der Pflege „das Leiden lindern“ und zugleich auch dem ehernen Prinzip des Gesundheitswesens „Wer heilt hat Recht“ (Hippokrates).

Zusammenfassend muss konstatiert werden, dass wenn Leitkonzepte und „Standards“ der Pflege nicht mit der konkreten Pflege deckungsgleich sind, sich sogar grundlegend widersprechen, kein verbindliches Konzept einer Demenzpflege entstehen kann.

Problembereich 3 – Fehlende Wertschätzung der eigenen Leistungen

Es kann vermutet werden, dass diese Geringschätzung und Abwertung der Ablenkungs- und Beruhigungsstrategien wie z. B. der Doppelstrategien bei der Körperpflege von den Pflegenden wahrgenommen wird. So berichtete z. B. eine Pflegende, dass sie eine Demenzkranke durch Singen eines bestimmten Liedes zum Duschen bewegen kann. Selbst bezeichnete jedoch die Pflegende diese äußerst wirksame Beeinflussungsstrategie (Konditionierung – siehe Blog 13) bei einer fachlichen Erörterung als bloße Trickserei (Tschainer-Zangl 2019: 208). Der hier offensichtlich manifeste Zweifel an dem eigenen Leistungsvermögen trotz erfolgreicher Leistungserbringung kann nachvollzogen werden, wenn in einer Pflegezeitschrift von einem Philosophen den Pflegenden bei der Anwendung derartiger Interventionen eine „Placebo-Ethik“ und „therapeutisches Lügen“ unterstellt wird (Schnell 2012).

Dieses Beispiel kann als ein Beleg für den Sachverhalt angeführt werden, dass tendenziell die teils angeborene Verhaltenssicherheit im Umgang mit hilfebedürftigen alten Menschen verloren geht angesichts kontroverser und abweichender Einstellungen und Sichtweisen in diesem Arbeitsfeld (Lind 2011: 53f, siehe Blog 22).

Problembereich 4 – Fehlende Anwendbarkeit des Validationsansatzes

Hiervon abweichend liegen aber auch Erfahrungen vor, die belegen, dass Pflegende ein bestimmtes Modell der Validation aufgrund der fehlenden Praktikabilität und Wirksamkeit bewusst ablehnen. Dieser Sachverhalt ist in Blog 68 beschrieben. So konnte z. B. die Anwendbarkeit der Integrativen Validation in einer umfänglichen Studie in mehreren Pflegeheimen nicht nachgewiesen werden. Im Gegenteil, diese Kommunikationsform wurde von den Pflegenden als bloße Schauspielerei eingeschätzt, die man nicht in Gegenwart Dritter anzuwenden wagt. Die Pflegenden kommen sich dabei „komisch“ und „dämlich“ vor. Demenzkranke können in Krisensituationen durch die integrative Validation nicht positiv im Sinne einer Beruhigung beeinflusst werden. Aus diesem Grund werden bei psychischen Belastungen der Demenzkranken von den Pflegenden meist intuitiv effektive Beruhigungs- und Ablenkungsstrategien praktiziert (Dammert et al. 2016). Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass diese hier angeführten Kommunikationsformen (u.a. Validation und Kitwood-Ansatz) bisher den Nachweis ihrer Wirksamkeit im Umgang mit Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium schuldig geblieben sind (Nocon et al. 2010).

Literatur

  • Dammert, M. et al. (2016) Person-Sein zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Weinheim und Basel: Beltz Juventa Verlag
  • Kitwood, T. (2000) Demenz. Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011a) Das Missverständnis. Pflegezeitschrift, 64, 3, 134-136
  • Müller-Hergl, C. (2009) Stress rechtfertigt keine Lügen. Pflegen: Demenz 4 (11) 30-32
  • Nocon, M. et al. (2010) Pflegerische Betreuungskonzepte bei Patienten mit Demenz. Ein systematischer Review. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 43 (3): 183-189
  • Schnell, M. (2012) Gibt es ein Recht auf Glück? Pflegen: Demenz 25: 18-21
  • Tschainer-Zangl, S. (2019) Demenz ohne Stress. Weinheim: Beltz Juventa

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Sven.Lind@web.de). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

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