Vorarbeiten für die Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege (Teil 1)

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Vorarbeiten für die Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege (Teil 1) sind der Inhalt des 119. Blogs. Es wird die Begrifflichkeit Doppelstrategie als eine Verallgemeinerung erläutert.

Theoriebildung im Rahmen der Demenzpflege

Wie in Blog 69 und Blog 72 angeführt, dient der Blog Demenzpflege u. a. dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren. Beabsichtigt ist hierbei die Erarbeitung einer Theorie der Demenzpflege, die gegenwärtig noch nicht existiert. Theorie bedeutet im Rahmen der Demenzpflege ein in sich stimmiges Gefüge von Aussagen, das sowohl durch Erfahrungen in der Pflege als auch durch neurowissenschaftliche Wissensstände begründet ist. Die Theorie der Demenzpflege hat bezüglich ihrer Praxisbezogenheit u. a. die Aufgabe, das Geschehen im Verhalten und Umgang mit Demenzkranken mittels der Erfahrungs- und Wissensstände zu erklären und zugleich Aussagen im Sinne von Vorhersagen über den weiteren Verlauf der Erkrankung zu machen.

Bei der Entwicklung einer erfahrungsbezogenen und damit empirischen Theorie sind vor allem die Vorgehensweisen Verallgemeinerung (Induktion) und Ableitung (Deduktion) von zentraler Bedeutung. Im Rahmen des Blogs Demenzpflege geht es diesbezüglich um die Aufgabe, die vielen Erfahrungen der Pflegenden und Betreuenden im Umgang mit Demenzkranken begrifflich zu erfassen und damit zugleich zu verallgemeinern. Parallel und damit ergänzend hierzu gilt es, diese Aussagen von den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen abzuleiten. Im Folgenden wird anhand der Begrifflichkeit „Doppelstrategie“ (vorläufiger Arbeitsbegriff) der Weg von vielen unterschiedlichen Verhaltensmustern hin zu einem zusammenfassenden Begriff im Sinne einer Verallgemeinerung veranschaulicht.

Doppelstrategien als Beispiel für eine Verallgemeinerung

In Blog 14 wird aufgezeigt, dass die Körperpflege Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium in der Regel eine extreme Belastung für die Beteiligten darstellt, die Demenzkranken und oft nicht minder für die Pflegenden. In diesem äußerst sensiblen Handlungsgefüge des unmittelbaren Körperkontaktes treten recht häufig Symptome der situationsbezogenen Überforderung auf, die sich teils sind in Pflegeverweigerung bzw. Ablehnung der Pflege (Schäufele et al. 2008: 141) und auch in Handlungen verbaler und auch tätlicher Aggression gegenüber den Pflegenden äußern (Aström et al. 2002).

Um den Belastungsgrad in der Pflege Demenzkranker deutlich zu senken und um die Pflege überhaupt oft erst zu ermöglichen, haben Pflegende im Rahmen ihrer alltäglichen Tätigkeit meist spontan und damit auch intuitiv Modelle des Umgangs in der unmittelbaren Pflege entwickelt. Hierbei handelt es sich überwiegend um Vorgehensweisen der Ablenkung und gleichzeitig auch Beruhigung, wie die folgenden Beispiele zeigen. „Doppelstrategien“ werden sie deshalb bezeichnet, weil hier die konkreten Pflegehandlungen immer zugleich auch mit spezifischen Ablenkungs- und Beruhigungshandlungen verbunden sind. Im Folgenden werden unterschiedliche Ablenkungs- und zugleich Beruhigungsstrategien bei der unmittelbaren Körperpflege dargestellt.

Strategie „fiktive Selbstpflege“

Demenzkranke sind oft mit einem Pflegeprozess dergestalt überfordert, dass sie bereits nach wenigen Minuten unruhig werden und Anzeichen von Unwillen und beginnendem Stress zeigen. Um sie nun von der belastenden Pflegeprozedur abzulenken, wird die „fiktive Selbstpflege“ (vorläufiger Arbeitsbegriff) praktiziert. Es handelt sich hierbei um eine suggestive Beeinflussung, wie folgendes Beispiel zeigt:

Beispiel: Einer Bewohnerin wurde am Waschbecken ein nasser Waschlappen mit der Aufforderung, sich das Gesicht zu waschen, in die Hand gedrückt. Die Pflegende teilte ihr dabei mit, dass sie ihr bei der Pflege etwas helfen würde. Während nun die Demenzkranke mit ständiger verbaler positiver Unterstützung der Pflegenden („Das machen Sie aber prima, weiter so!“) mit dem Waschlappen im Gesicht zugange war, wurde parallel die restliche Körperpflege vollzogen, ohne dass die Demenzkranke dies bemerkte (persönliche Mitteilung).

Strategie „In die Vergangenheit zurückführen“

Pflegende sind oft mit der Lebensgeschichte der Demenzkranken vertraut und wissen somit um die emotional bedeutsamen Ereignisse bzw. Perioden ihrer Biografie. Dieses Wissen nutzen sie meist intuitiv, um die Bewohner von den sie überfordernden Gegebenheiten der Pflegehandlungen abzulenken. Es handelt sich hierbei um die Aktivierung positiver episodischer Gedächtnisinhalte, wie das folgende Beispiel zeigt:

Beispiel: Eine Pflegende wusste um den früheren beruflichen Kontext einer demenzkranken Bewohnerin (Hutmacherin mit eigenem Geschäft), die aus Furcht vor der Pflege immer in den Zustand einer Schockstarre geriet. Bevor die Pflegende mit der Pflege begann, wurde die Betroffene mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, indem die Mitarbeiterin ihr fast schon ritualisiert immer dieselben Fragen über ihre Tätigkeit und ihr Geschäft (Hutmoden, Kunden, Umsatz etc.) stellte. Während die Bewohnerin enthusiastisch über ihr Leben berichtete, wurde sie gleichzeitig ausgezogen, gewaschen und wieder angezogen, ohne dass sie sich dagegen sträubte (Lind 2007: 147).

Strategien „Positive Impulse“

Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium zeigen u. a. auch bei der Pflege Symptome von Furcht, Unruhe und mangelnder Selbstgewissheit, denn sie spüren oft ihre Unzulänglichkeit hinsichtlich einer selbständigen Lebensgestaltung. Damit die Pflegehandlungen nun nicht zu Empfindungen der Überforderung und Verunsicherung führen, werden Handlungen sowohl zur Ablenkung als auch zugleich zur Aufmunterung und Bestätigung praktiziert:

Beispiel: Gemeinsam Singen, Reden, Scherzen und vor allem Komplimente bei der Pflege lenken ab und schaffen zugleich eine Atmosphäre des Wohlbefindens. Wenn dann auch noch Perspektiven wie das bevorstehende Frühstück mit Kaffee und Brötchen gegeben werden, dann nehmen die Demenzkranken die Pflegehandlungen meist kaum wahr (Lind 2011: 229).

Strategie „Ablenkungsgegenstände“

Pflegende verwenden in belastenden Pflegesituationen bestimmte Gegenstände als Ablenkungsimpulse, wie die folgenden Beispiele zeigen:

Beispiel: Eine Demenzkranke zeigte beim Transfer zur Toilette immer Empfindungen der Unruhe und Furcht. Daraufhin wurde ihr vorher immer eine Tüte mit Chips angeboten, die sie während des Transfers aß und zugleich von der Pflegehandlung ablenkte (Camp 2015: 90f).

Bedeutung für die praktische Demenzpflege

Die angeführten Fallbeispiele für Ablenkungs- und Beruhigungsstrategien bei der unmittelbaren Körperpflege zeigen, dass verschiedene Wege und Strategien zu einer Pflege ohne Belastung für die Demenzkranken praktiziert werden. Gemeinsam ist ihnen der Umstand, dass hier immer das Nebeneinander von Pflegen und Ablenken und Beruhigen besteht, das in diesem Zusammenhang als Doppelstrategie bezeichnet wird.

Voraussetzung für die Entwicklung der Begrifflichkeit Doppelstrategie ist die Einschätzung, dass im schweren Stadium (Stadium 6 der Reisbergskalen) körperlicher Kontakt bei der Pflege mit einem erhöhten Stressniveau bei den Demenzkranken verbunden ist. Sollte es jedoch ausreichend Beispiele dafür geben, dass oft auch eine Körperpflege ohne Ablenkungs- und Beruhigungsstrategien im schweren Stadium durchgeführt werden kann, dann gilt es demzufolge den Geltungsbereich der Doppelstrategie im Rahmen einer Demenzpflege auf den Bereich „Demenzkranke mit Belastungserleben bei der Pflege“ zu beschränken.

Die Leserschaft wird gebeten, dem Blogger (Sven Lind) nun Fallbeispiele für eine Körperpflege ohne Ablenkungs- und Beruhigungsstrategien im schweren Stadium mitzuteilen. Des Weiteren wird die Leserschaft gebeten, weitere Strategien der Ablenkung und Beruhigung bei der Körperpflege mitzuteilen. Diese Erfahrungen werden dann umgehend in weiteren Blogelementen eingearbeitet werden.

Im nächsten Blog wird bezüglich der Begrifflichkeit Doppelstrategien die ergänzende Dimension der Ableitung von den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen erläutert werden.

Literatur

  • Aström, S. et al. (2002) Incidence of violence towards staff caring for the elderly. Scandinavian Journal of Caring Sciences 16, 66–72
  • Camp, C. J. (2015) Tatort Demenz – Menschen mit Demenz verstehen. Bern: Hogrefe Verlag
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Schäufele, M. et al. (2008) Demenzkranke in der stationären Altenhilfe. Aktuelle Inanspruchnahme, Versorgungskonzepte und Trends am Beispiel Baden-Württembergs. Stuttgart: Kohlhammer Verlag

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Sven.Lind@web.de). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

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