Der Abbauprozess der Alzheimer-Demenz (Teil 9)

Geschätzte Lesedauer: 5 Minuten

Der Abbauprozess der Alzheimer-Demenz (Teil 9) ist der Inhalt des 118. Blogs. Es werden Verhaltenssymptome des schwersten Stadiums angeführt.

Vorbemerkung

In Blog 115 und Blog 116 wird vorrangig auf das Verhaltenssegment Gehen oder Wandern in seiner doppelten Bedeutung als Verhaltenskompetenz und zugleich als Symptom für Unruhe und Furcht eingegangen. Dieses Verhaltenssegment ist besonders stark im schweren Stadium (Stadium 6 der Reisbergskala FAST) zu beobachten. Im schwersten Stadium (Stadium 7 der Reisbergskala FAST) wird davon ausgegangen, dass die Gehfähigkeit verloren geht und dass nach einer Phase der Sitzfähigkeit die ständige Bettlägerigkeit (Stadium 7c) droht. Gemäß der Parallele zur Kindheitsentwicklung befinden sich die Betroffenen dann im Entwicklungsstadium eines Säuglings (Reisberg et al. 1999, siehe Blog 75).

Kachexie im schwersten Stadium

In Blog 84 wird gezeigt, dass bei einer Untersuchung der Todesursachen von Demenzkranken in den Niederlanden festgestellt wurde, dass ca. jeder Dritte an einer Kachexie und Exsikkose verstarb. Bei den Demenzkranken im finalen Stadium (Reisbergskala FAST Stadium 7d) stieg der Anteil der an Kachexie und Exsikkose Verstorbenen auf 53 Prozent an (Koopmans et al. 2007, Wojnar 2007: 23). In der Erhebung wurde des Weiteren festgestellt, dass ca. nur jeder siebente Demenzkranke das schwerste Stadium erreicht (Stadium 7 der Reisbergskalen – Reisberg et al. 1999).

Die Praxis in den Heimen und ebenso die einschlägige Forschung hat ergeben, dass die Behandlung der Kachexie im fortgeschrittenen Stadium der Demenz mit zusätzlicher Nahrungszufuhr (hochkalorisierte Nahrung oder so genannte „Astronautennahrung“) oft verbunden mit engmaschigen Gewichtskontrollen keine Wirkung zeigt (Maniglia et al. 2019). Sowohl für die Betroffenen als auch für die Pflegenden ist diese Nahrungszufuhr mit Belastungen verbunden. Angeordnet wird dies oft aus Furcht vor MDK-Kontrollen in den Heimen angesichts eines zu niedrigen Body-Maß-Indexes (BMI). Bewährt hat sich in diesen Fällen oft die Vorgehensweise, sich ein ärztliches Attest bezüglich des Vorliegens einer Kachexie auf der Grundlage eines neurodegenerativen Abbauprozesses für die Betroffenen ausstellen zu lassen. Somit entfällt dann die Indikation für zusätzliche Nahrungsaufnahmen.

In Blog 73 wird der neurodegenerative Abbau bei Demenzkranken gemäß der Retrogenese als ein Abschaltprogramm bezeichnet. Konkret: Die Hirnareale, die zuletzt hirnphysiologisch online geschaltet wurden, werden beim Abbauprozess zuerst offline geschaltet. Für die Pflege Demenzkranker ist von großer Bedeutung zu wissen, in welchem Stadium nun erstmals die Krankheitssymptome der Kachexie und der Exsikkose beobachtet werden. Bei einer Überarbeitung und eventuellen Erweiterung der Konzeption der Retrogenese als ein Abschaltprogramm könnten dann diese Erfahrungswerte Berücksichtigung finden.

Da dem Blogger (Sven Lind) bezüglich des pflegerischen Umgangs mit der Kachexie und der Exsikkose bei der Alzheimer-Demenz nur wenig bekannt ist, wird die Leserschaft dieses Blogs gebeten, ihm ihre Erfahrungen bzw. weitere Literaturhinweise mitzuteilen.

Krabbeln

Im Rahmen des Abbauprozesses (Retrogenese) ist äußerst interessant, dass in den Pflegeheimen auch das Krabbeln auf allen Vieren bei Demenzkranken im schwersten Stadium beobachtet wird (persönliche Mitteilungen). Dieser Sachverhalt ist aus der Sicht des Bloggers bisher in der Fachliteratur noch nicht dargestellt worden. Für die Praxis ist dieses Bewegungsverhalten, das vermutlich wohl nicht sehr häufig auftritt, von Bedeutung, gilt es doch dann, entsprechende Krabbelflächen zu gestalten.

Im Internet kann bezüglich des Krabbelns eine Verhaltensbeobachtung aus Großbritannien angeführt werden (siehe https://forum.alzheimers.org.uk/threads/crawling-on-the-floor.45879/ ).

Da dem Blogger (Sven Lind) nur die wenigen hier angeführten Fallbeispiele bezüglich des Krabbelns im schwersten Stadium der Alzheimer-Demenz bekannt sind, bedarf es weiterer Beobachtungen aus der Pflege und Betreuung, um diesbezüglich zu Vertiefungen und Verallgemeinerungen zu gelangen. Die Leserschaft dieses Blogs wird daher gebeten, entsprechende Fallbeispiele und eventuell auch Literaturhinweise mitzuteilen.

Saugen

Ebenfalls im schwersten Stadium ist die Nahrungsaufnahme auf herkömmliche Weise massiv beeinträchtigt, so dass in einer Studie in Schweden experimentiert wurde, den Demenzkranken die Mahlzeiten mittels einer Saugflasche einzugeben (Asplund et al. 1993). Im Stadium 7 hat sich ähnlich wie bei einem Säugling die Fähigkeit zum Saugen stark herausgebildet. Die schwedische Studie zeigte des Weiteren, dass das Saugen bei Säuglingen in Ernährungssaugen und Nicht-Ernährungssaugen unterschieden werden kann. Das Nicht-Ernährungssaugen wird wie folgt bezeichnet: als „wiederholte, nicht beißende Mundbewegungen an einem ‚leeren‘ Sauger.“ (Asplund et al. 1993).

Da dem Blogger (Sven Lind) nur diese Studie aus Schweden bezüglich des Saugens im schwersten Stadium der Alzheimer-Demenz bekannt ist, wird die Leserschaft dieses Blogs gebeten, ihm ihre Erfahrungen bzw. weitere Literaturhinweise mitzuteilen.

Saugen und Lutschen zur Beruhigung

Diesen Sachverhalt, dass Demenzkranke im schwersten Stadium sich ähnlich wie Säuglinge verhalten, machen sich Pflegende von Nutzen, indem sie u. a. Bewohnern mit stark störendem Vokalverhalten („Dauerschreier“ und „Dauerrufer“) zur Ablenkung und Beruhigung Lollies (Dauerlutscher) geben. Diese Interventionen zeigen ähnlich wie bei Säuglingen und Kleinstkindern deutliche Wirkung und führen meist zur Beruhigung der Betroffenen (persönliche Mitteilungen).

In Blog 74 sind vokale Störungen als „verdecktes kleinkindähnliches Verhalten“ im Rahmen der Konzeption der Realitätsverkindlichung klassifiziert worden. Dauerhaftes Schreien und Rufen kann somit im fortgeschrittenen Stadium einerseits als unkontrolliertes und damit enthemmtes Verhalten (Disinhibition) und zugleich auch als kleinkindähnliches Verhalten zur Weckung der Aufmerksamkeit bezeichnet werden. Von Bedeutung für das Wohlbefinden der Erkrankten und für die Stabilisierung des sozialen Milieus ist der Sachverhalt, dass Pflegende angesichts dieser Belastungsgegebenheiten meist intuitiv effektive Lösungsstrategien entwickeln.

Erweiterung des Ansatzes der Retrogenese

In Blog 84 ist ein Aspekt bezüglich des Abbauprozesses bei primär neurodegenerativen Demenzen wie der Alzheimer-Demenz angeführt worden, den es zu vertiefen gilt, um ein komplexes Bild des neuropathologischen Abbaus gewinnen zu können. Gemeint ist die Erweiterung des Rückentwicklungsprozesses auf die pränatale Phase, denn die Entwicklung des Gehirns beginnt bereits in den ersten Monaten. Als ein Beleg für diese Annahme lässt sich die Fötushaltung der Demenzkranken im Endstadium anführen. Es handelt sich dabei um eine Körperhaltung, die für die pränatale Phase der Entwicklung des Menschen typisch ist. Parallel hierzu kann ergänzend auf die langen Schlafphasen ähnlich wie bei den Säuglingen nach der Geburt verwiesen werden, die ebenfalls ein Phänomen der Endphase der Demenzerkrankung bilden.

Zusätzlich lässt sich in diesem Zusammenhang wie in Blog 80 angeführt nochmals auf das Auftreten der Entwicklungsreflexe (u. a. der taktile Saugreflex und der Greifreflex) verweisen, die u. a. als Indikator für die Inkontinenz als ein Hirnabbauphänomen im schweren Stadium (Reisbergskala FAST Stufe 6d) dienen (Reisberg et al. 1999, Franssen et al. 1997). Diese Entwicklungsreflexe haben sich bereits in der pränatalen Phase der Entwicklung gebildet, denn nach der Geburt sind die wirksam und damit überlebenswichtig für die weitere Entwicklung. Dementsprechend muss dann die Bezeichnung des Abbauprozesses der Retrogenese „zurück zur Geburt“ (Shenk 2005: 138) erweitert oder verlängert werden um die Bezeichnung „zurück in die pränatale Entwicklungsphase“.

Literatur

  • Asplund, K. et al. (1993) Das Saugverhalten zweier Patientinnen im Endstadium der Alzheimerschen Demenz. Pflege 6 (2): 129 – 134
  • Franssen, E. et al. (1997) Utility of developmental in differential diagnosis of prognosis of incontinence in Alzheimer´s disease. Journal of Geriatric Psychiatry & Neurology, 10: 22-28
  • Koopmans, R. (2007) The ’natural‘ endpoint of dementia: Death from cachexia or dehydration following palliative care? International Journal of Geriatric Psychiatry 22(4):350-5
  • Minaglia, C. et al. (2019) Cachexia and advanced dementia. Journal of Cachexia, Sarcopenia and Muscle. Published online in Wiley Online Library (wileyonlinelibrary.com) DOI: 10.1002/jcsm.12380
  • Reisberg, B. et al. (1999) Toward a science of Alzheimer’s disease management: a model based upon current knowledge of retrogenesis. International Psychogeriatrics, 11 (1): 7-23
  • Shenk, D. (2005) Das Vergessen. Alzheimer: Porträt einer Epidemie. Leipzig: Europa Verlag
  • Wojnar, J. (2007) Die Welt der Demenzkranken – Leben im Augenblick. Hannover: Vincentz Verlag

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Sven.Lind@web.de). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

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