Der Abbauprozess der Alzheimer-Demenz (Teil 3)

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Der Abbauprozess der Alzheimer-Demenz (Teil 3) ist der Inhalt des 80. Blogs. Es wird die Abgrenzung des Abbaus von Tagesschwankungen, Akuterkrankungen und Stressphänomenen angeführt.

Vorbemerkung

Bei der Pflege und Betreuung Demenzkranker sind hinsichtlich der Pflegediagnostik verschiedene Faktoren zu berücksichtigen. Für die Pflege ist vor allem das Faktum von Bedeutung, die beeinflussbaren von den nicht beeinflussbaren krankhaften Verhaltensänderungen und damit zugleich Krankheitssymptome pflegediagnostisch unterscheiden zu können, wie im Folgenden aufgezeigt wird.

Nicht beeinflussbare Verhaltensänderungen als Abbauphänomene

In Blog 75 wurde der Krankheitsverlauf neurodegenerativer Demenzen anhand des Stadienmodells der Retrogenese mit den entsprechenden Reisberg-Skalen dargestellt. In Blog 76 wurde ergänzend kurz die Neuropathologie des Abbauprozesses als ein Kaskadenmodell anhand der toxischen Plaques und hieran anschließend der toxischen Taupathologie angeführt (Kornhuber 2018: 136, Thal 2018).

Dieser neurowissenschaftlich international anerkannte Wissensstand bietet für die Pflege und auch Betreuung einschließlich der ergänzenden Milieufaktoren einen stabilen Orientierungsrahmen. Das Wissen um den Rückentwicklungsprozess mit zunehmender Hilflosigkeit und zunehmender Pflegebedürftigkeit bei den Alltagsverrichtungen ist die Grundlage für die erforderliche Handlungssicherheit im Umgang mit den Erkrankten. Anhand von zwei Praxisbeispielen soll diese fachliche Kompetenz verdeutlicht werden:

Beispiel 1: Eine Demenzkranke putzte immer ihre Zähne, wenn man ihr die mit Zahnpasta belegte Zahnbürste reichte. Als sie jedoch plötzlich mit der Zahnbürste die Zahnpasta auf dem Badezimmerspiegel verschmierte, wusste die Pflegende, dass die Betroffene sich nun abbaubedingt im schweren Stadium der Erkrankung befand, denn sie erkannte die Zahnbürste nicht mehr (Krankheitssymptom visuelle Agnosie – siehe Blog 1) (persönliche Mitteilung).

Beispiel 2: Eine Pflegende sprach eine Demenzkranke bei der Körperpflege immer mit Frau Mayer an. Als sie nun feststellen musste, dass die Betroffene sich durch diese Anrede nicht mehr angesprochen fühlte und sie nur noch auf das vertrauliche Du reagierte, erkannte die Pflegende den weiter fortgeschrittenen Abbauprozess (persönliche Mitteilung).

In beiden Fällen wussten die in der Demenzpflege vertrauten Pflegenden aufgrund von Erfahrungen und aufgrund der Aus- und Fortbildung um die Gegebenheit einer erhöhten Pflegebedürftigkeit aufgrund des deutlich sichtbaren Abbaus, der zu einer Veränderung des Pflegeverhaltens führt.

Es gilt aber auch den Tatbestand zu berücksichtigen, dass nicht jede Verhaltensveränderung bei Demenzkranken unmittelbar auf einen neurodegenerativen Abbauprozess zurückzuführen ist. Dieser Umstand ist für die Pflegediagnose von immanenter Bedeutung, denn hierbei steht das weitere Geschehen perspektivisch im Mittelpunkt. Der Abbauprozess bei einer primären Demenz wie der Alzheimer-Demenz ist unumkehrbar. Was an Fähigkeiten bedingt durch den fortschreitenden neurodegenerativen Abbauprozess verloren gegangen ist, lässt sich nicht wieder herstellen. Spontanheilungen oder Wunderheilungen sind bei neurodegenerativen und damit primären Demenzen wissenschaftlich bisher noch nicht nachgewiesen worden. Das unterscheidet die primären Demenzen wiederum von den sekundären Demenzen, bei denen bei bestimmten Erkrankungsursachen, die nicht neurodegenerativer Herkunft sind wie z. B. einer Herz-Kreislauf-Insuffizienz, bei entsprechender Therapie mit einer Wiedererlangung des geistigen Vermögens gerechnet werden kann (siehe Blog 76).

Beeinflussbare Verhaltensänderungen

Bei den beeinflussbaren Verhaltensveränderungen bzw. Krankheitssymptomen handelt es wie der Name es schon sagt um krankhafte Veränderungen, die bei angemessenem Umgang positiv beeinflusst werden können. Anhand der folgend angeführten Faktoren wird dieser Sachverhalt dargestellt.

Tagesschwankungen

In Blog 64 wird darauf hingewiesen, dass die Tagesform hinsichtlich der Fähigkeiten der Wahrnehmung und damit auch der Alltagsbewältigung bei Demenzkranken stark schwankt. Eine neurophysiologische Erklärung für diese Symptomatik liegt gegenwärtig noch nicht vor. Es wird jedoch angenommen, dass vorrangig Störungen und Defizite des biologischen Rhythmus diese deutlichen Abweichungen im Verhalten verursachen (Benca et al. 2009). So wurde z. B. in einer schwedischen Studie bei Demenzkranken in einem Altenpflegeheim Tagesschwankungen im Bereich der Selbstpflege am Morgen mit einer Bandbreite von 30–100 Prozent ermittelt (Sandman et al. 1986). Pflegende berichten des Weiteren, dass die Tagesform auch unterschiedlich bei den Bewohnern beobachtet werden kann. Folgende Verläufe wurden hierbei registriert: Tagesformen, die konstant den ganzen Tag über anhalten und Tagesformen, die im Laufe des Tages wechseln, wobei hierbei auch Unterschiede in der Häufigkeit des Wechsels der Tagesform wahrgenommen werden (Lind 2007: 92ff, Lind 2011: 167f).

Akuterkrankung

In Blog 75 ist anhand der Reisberg-Skalen aufgezeigt worden, dass die Inkontinenz im schweren Stadium (Stadium 6d) Folge des neuropathologischen Abbauprozesses ist (Reisberg et al. 1999). Die Inkontinenz kann jedoch auch bei Demenzkranken, die sich noch nicht ins schwere Stadium krankhaft zurückentwickelt haben, als eine Krankheitssymptomatik auftreten. Nun gilt es für die Pflegenden hier die Ursache dieser Symptomatik herauszufinden. Anhand des Nachweises der Entwicklungsreflexe (u. a. der taktile Saugreflex und der Greifreflex) konnte in einer Untersuchung der Schweregrad des Abbauprozesses nachgewiesen werden. Denn die Rückkehr dieser Reflexe bei der Alzheimer-Demenz ist ein Indikator für die schwere kortikale Dysfunktion. Auf diese Weise lässt sich die Inkontinenz aufgrund des Hirnabbaus von der Inkontinenz mit einer potentiell reversiblen Ursache unterscheiden (Franssen et al. 1997).

Stressphänomen

In Blog 64 wird auf ein weiteres krankheitsbedingtes Verhaltensmuster hingewiesen: das stressbezogene Verhaltensdefizit („excess disabilities“, Brody et al. 1971). Konkret bedeutet dies, dass die Verhaltenskompetenz durch belastende Außenreize regelrecht blockiert wird. Es kann auch als eine moderate Schockstarre im Rahmen der Minussymptomatik klassifiziert werden. Ähnlich einem Blackout in einer stressigen Prüfungssituation. In einer Untersuchung des Verhaltens Demenzkranker bei den Mahlzeiten konnte dieses stressbezogene Verhaltensdefizit nachgewiesen werden, denn ca. die Hälfte der Verhaltensdefizite waren nicht dem neuropathologischen Abbau geschuldet, sondern den unangemessenen und damit belastenden Milieufaktoren (Slaughter et al. 2011). Das Stressphänomen Schockstarre wird auch im Rahmen der Körperpflege beobachtet. Im Rahmen der Unterscheidung der abbaubedingten Ursachen von nichtabbaubedingten Ursachen von Verhaltensveränderungen gilt es hier die Versteifung (Paratonie) als Krankheitssymptom im schweren und schwersten Stadium der Demenz von einer stressbezogenen Versteifung (Schockstarre) zu unterscheiden (Souren et al. 1997).

Literatur

  • Benca, R. et al. (2009) Biological rhythms, higher brain function, and behavior: Gaps, opportunities, and challenges. Brain Research Reviews, 62 (1): 57-70
  • Brody, E. et al. (1971) Excess disabilities of mentally impaired aged: Impact of individualized treatment. Gerontologist, 25: 124-133
  • Franssen, E. et al. (1997) Utility of developmental in differential diagnosis of prognosis of incontinence in Alzheimer´s disease. Journal of Geriatric Psychiatry & Neurology, 10: 22-28
  • Kornhuber, J. (2018) Prävention. In: Jessen, F. (Hrsg.) Handbuch Alzheimer-Krankheit. Berlin: Walter de Gruyter (136-156)
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Reisberg, B. et al. (1999) Toward a science of Alzheimer’s disease management: a model based upon current knowledge of retrogenesis. International Psychogeriatrics, 11 (1): 7-23
  • Sandman, P. O. et al. (1986) Morning care of patients with Alzheimer-type dementia. Journal of Advanced Nursing, 11 (4): 369–378
  • Slaughter, S. E. et al. (2011) Incidence and predictors of eating disability among nursing home residents with middle-stage dementia. Clinical Nutrition, 30 (2): 172-177
  • Souren, L. et al. ( 1997) Neuromotor changes in Alzheimer´s disease: implications for patient care. Journal of Geriatric Psychiatry & Neurology, 10: 93-98
  • Thal, D.R. (2018) Neuropathologie und molekulare Mechanismen. In: Jessen, F. (Hrsg.) Handbuch Alzheimer-Krankheit. Berlin: Walter de Gruyter (35-51)

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