Positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker (Teil 18)

Geschätzte Lesedauer: 3 Minuten

Positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker (Teil 18) sind der Inhalt des 115. Blogs. Es wird das Bewegungskonzept als eine stadienbezogene Anpassungsstrategie erläutert.

Ergänzung zu Blog 113 und Blog 114

Die verbale Kommunikation mit Demenzkranken ist gegenwärtig in den einschlägigen Fachkreisen ein äußerst brisantes Themenfeld, stoßen doch hier verschiedene Sichtweisen über die Einschätzung der Demenz recht kontrovers aufeinander. Vertreter des sogenannten „Normalitätsansatzes“, die in der Demenz eine besondere Form der Hirnalterung sehen und damit keine Krankheit, lehnen stadienbezogene Umgangsformen strikt ab, die sie u. a. als „Infantilisierungsphänomene“ diskreditieren (siehe Kitwood 2000: 75 und Blog 79). Der Alltag der Demenzpflege in den Heimen hingegen wird von stadienbezogenen Umgangsstilen bestimmt (siehe u. a. Blog 113 und Blog 114).

Um Missverständnisse zu vermeiden, bedarf es bezüglich der Verwendung von stadienbezogenen und damit zugleich auch mütterlichen Umgangsformen einschließlich der Verwendung des Jargons folgender Hinweise:

  • Sie werden in der Regel nur gezielt zur Minderung der Belastung, Furcht und Unruhe sowohl bei der Pflege als auch in der Betreuung praktiziert. Dieser Umstand konnte in Verhaltensbeobachtungen belegt werden (Röse 2000: 306ff, Sachweh 2000, siehe Blog 35).
  • Sie werden meist auch nur dann angewendet, wenn die Demenzkranken bei höflichen Umgangsformen nicht reagieren, weil sie sich einfach nicht angesprochen fühlen und aggressiv reagieren (Lind 2007: 150, Lind 2011: 129, siehe Blog 16 und Blog 31).
  • Das „Demenz-Du“ wird in der Regel erst dann verwendet, wenn die Angesprochenen das „Sie“ nicht mehr auf sich beziehen (siehe Blog 16)

Vorbemerkungen

Stadienbezogene Anpassungsstrategien sind im Rahmen des Blogs Demenzpflege vorrangig bezogen auf das schwere Stadium der Alzheimerdemenz (Stadium 6) gemäß dem Ansatz der Retrogenese (Reisberg et al. 1999, siehe Blog 75). Im schwersten Stadium der Erkrankung (Stadium 7) bestehen die Anpassungsstrategien gemäß dem Abbauprozess vor allem aus der Aufrechterhaltung der Basalfunktionen (überwiegend Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr mitsamt den damit verbundenen Ausscheidungsprozessen) nebst Vermeidung von Sekundärerkrankungen (u. a. Dekubitusprophylaxe). Denn in dieser Krankheitsphase befinden sich die Betroffenen auf dem Entwicklungsniveau eines Säuglings (Reisberg et al. 1999).

Das schwere Stadium wird, wie bereits in vielen Blogelementen angeführt, von vielerlei Dysfunktionen bestimmt. Wahrnehmungsstörungen, Realitätsverluste und Realitätsverzerrungen sind hierbei die klassischen Krankheitssymptome, die Unruhe und Furcht, aber auch Apathie und Schockstarre verursachen (Boetsch et al. 2003: 84).

Der fortgeschrittene geistige Abbau vermindert nicht nur die Modalitäten der Reizverarbeitung, er erfordert zugleich auch eine Anpassung der Reizinhalte an das defizitäre kognitive Leistungsvermögen. Konkret bedeutet dies für die Demenzpflege, dass die Kommunikation und der Umgang weniger von bloßen abstrakt verbalen Impulsen, sondern vermehrt von mehrdimensional sensorischen und teils auch reflexauslösenden Impulsen bestimmt werden (Lind 2011: 218ff, siehe Blog 32). Das hier angeführte Bewegungskonzept in verschiedenen Bereichen der Demenzpflege und Demenzbetreuung kann in diesem Rahmen als eine stadienbezogene Umgangsform bezeichnet werden.

Das Bewegungskonzept

Das Bewegungskonzept in der Demenzpflege ist ein neuer Begriff im Rahmen der Demenzpflege, der vom Blogger (Sven Lind) eingeführt wird, um verschiedene Umgangsformen und Beeinflussungsmodalitäten in der Pflege und Betreuung verallgemeinernd zusammenzufassen. Das Gemeinsame dieser Interventionen besteht in dem Umstand, dass der zentrale Wirkmechanismus hierbei aus Körperbewegungen der Demenzkranken besteht. Worte und damit verbales Einwirken wird begleitend auch praktiziert, doch im Mittelpunkt stehen die Bewegungen der Demenzkranken.

Die Interventionen des Bewegungskonzepts können den stadienbezogenen Anpassungsstrategien zugeordnet werden, denn sie werden fast ausschließlich im schweren Stadium (Stadium 6 der Reisbergskalen) praktiziert. In diesem Stadium sind die Demenzkranken noch recht mobil (einschließlich einer Rollator-Nutzung).

Von Bedeutung ist auch der Sachverhalt, dass die Umgangsformen des Bewegungskonzeptes spontan und damit intuitiv angewendet werden. Es handelt somit überwiegend um angeborene Verhaltensmechanismen, die den Anwendern dieser Beeinflussungsformen in der Regel erst im konkreten Vollzug bewusst werden.

Im Rahmen des Bewegungskonzeptes werden vor allem drei Bewegungsmuster angeregt, die den Kompetenzen der Erkrankten entsprechen und die auf der Grundlage prozeduraler Langzeitgedächtnisinhalte basieren:

  • Bewegungen im engeren Sinne als sich bewegen: gehen u. a.
  • Bewegungen im weiteren Sinne als sich betätigen: putzen, aufräumen etc.
  • Bewegungen im Rahmen der Strategien der Nachahmung bei der Pflege und Betreuung (siehe Blog 18 und Blog 112).

Das Ziel der Aktivierung der Bewegungen bzw. Handlungen besteht aus der Wiederherstellung der Person-Umwelt-Passung der Erkrankten, denn diese Handlungs- und Bewegungsmuster kommen in der Regel nur dann zur Anwendung, wenn u. a. durch innere und äußere Belastungsgegebenheiten (u. a. Realitätsverluste und Wahrnehmungsstörungen) deutliche Stresssymptome zu beobachten sind. Bei folgenden Belastungsgegebenheiten werden Umgangsformen des Bewegungskonzeptes eingesetzt:

  • Ablenken und Beruhigen bei beeinflussbaren Desorientierungsphänomenen
  • Ablenken bei wahnhaften Halluzinationen
  • Ablenken beim Weglaufen
  • Verhaltensmodifikation bei Schreien etc.
  • Pflegeermöglichung

Im folgenden Blogelement werden konkrete Fallbeispiele angeführt, die überwiegend bereits in den bisherigen Blogs beschrieben wurden.

Literatur

  • Boetsch, T. et al. (2003) Klinisches Bild, Verlauf und Prognose (mit Fallbeispielen). In: Hampel. H.; Padberg, F. & Möller, H.-J. (Hrsg.): Alzheimer-Demenz (73-98). Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Reisberg, B. et al. (1999) Toward a science of Alzheimer’s disease management: a model based upon current knowledge of retrogenesis. International Psychogeriatrics, 11 (1): 7-23
  • Röse, K. M. (2017) Betätigung von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim. Bern: Hogrefe
  • Sachweh, S. (2000) „Schätzle hinsitze!“. Kommunikation in der Altenpflege (2., durchgesehene Auflage), Frankfurt am Main: Peter Lang

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Sven.Lind@web.de). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

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