Die Milieustetigkeit bzw. Milieukonstanz als Element des Vollständigkeitskonzepts

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Die Milieustetigkeit bzw. Milieukonstanz als Element des Vollständigkeitskonzepts ist der Inhalt des 65. Blogs. Es werden die hierfür erforderlichen Milieufaktoren dargestellt.

Vorbemerkungen

In Blog 62 und Blog 63 wurde aufgezeigt, in welchem Ausmaß äußere Reizgefüge der nahen Umwelt das Befinden der Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium beeinflussen. Es wurde dabei deutlich die massive Milieu- und damit zugleich auch Umweltabhängigkeit dargestellt. Dementsprechend sind auch die diesbezüglich Interventions- und Beeinflussungsmodalitäten beschrieben worden, um das Belastungsempfinden merkbar zu verringern.

In diesem Blog stehen Faktoren der Milieugestaltung im Mittelpunkte, die das Einbinden und damit das Vertrautwerden mit den räumlichen Gegebenheiten erleichtern und teils auch ermöglichen. Die neurophysiologischen und auch neuropathologischen Wirkmechanismen, die eine angemessene Umwelterfassung ermöglichen bzw. erschweren, sind hierbei die Verallgemeinerungsunfähigkeit und die Kompetenz zum Gewohnheitslernen.

Verallgemeinerungsunfähigkeit

In Blog 3 wurde erklärt, dass die Fähigkeit des Wiedererkennens eines vertrauten Reizgefüges mit nur geringen Veränderungen nicht mehr besteht, da die hierfür erforderlichen Schaltkreise in höheren Hirnregionen nicht mehr vorhanden sind. Die Kompetenz zum Verallgemeinern geht somit verloren. Hier lässt sich die Parallele zur Hirnreifung anführen. Auch Säuglinge sind bereits in der Lage, Reizgefüge im Langzeitgedächtnis zu speichern. Werden nun kleinere Änderungen an den Reizgefügen vorgenommen, dann werden diese Gegenstände (z. B. ein Mobile) nicht wiedererkannt (Markowitsch et al. 2006: 145).

Gewohnheitslernen bzw. Konditionierung

In Blog 37 wurde bereits Folgendes ausgeführt: Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium sind noch zu Lernleistungen fähig. Sie können somit noch Langzeitgedächtnisinhalte aufbauen. Dieses Lernen beschränkt sich jedoch auf das unbewusste Gewohnheitslernen in Gestalt ständiger Wiederholungen. Die ständige Wahrnehmung eines bestimmten Reizgefüges führt Schritt für Schritt zu einem allmählichen Speicherungs- oder Verinnerlichungsprozess. Neurophysiologisch lässt sich dieser Sachverhalt wie folgt erklären: die für diese geistige Aufgabe zuständigen Hirnareale (u. a. Kleinhirn) sind auch noch im fortgeschrittenen Stadium der Demenz ausreichend funktionsfähig (Markowitsch et al. 2006, Siegler et al. 2016: 136). Bei Demenzkranken wie bei Kleinkindern bedarf es jedoch vielfacher Wiederholungen der Reizgefüge, bis sie angemessen im Langzeitgedächtnis abgespeichert und damit zugleich verinnerlicht sind (Markowitsch et al. 2006: 161).

Milieustetigkeit bzw. Milieukonstanz

Milieustetigkeit bzw. Milieukonstanz drückt sich im Prinzip der Unveränderlichkeit oder Beständigkeit der Innenausstattung der Räumlichkeiten aus. Des Weiteren ist hierbei die Nutzung der Räumlichkeiten von Bedeutung, wonach die Begrenzung der Raunutzung die Verinnerlichung der neuen Lebenswelt Heim merkbar erleichtert. In den folgenden Abschnitten wird gezeigt, welche Faktoren hierbei zu berücksichtigen sind (Lind 2007: 212f, Lind 2011: 103ff).

Konzentration auf den Wohnbereich

Es kann davon ausgegangen werden, dass der Eingewöhnungsprozess bei Demenzkranken in der Regel deutlich länger dauert als bei nichtdemenzkranken Bewohnern. Erfahrungswerte von Pflegenden besagen, dass die Anpassung an die neue Lebenswelt Heim im Durchschnitt ungefähr einen Monat beträgt. Hierbei wirken die Mechanismen des unbewussten Lernens: die ständige Wahrnehmung der gleichen Umweltreize der räumlichen Umgebung führt zu einer wachsenden Vertrautheit der neuen Lebenswelt. Diesen Prozess des Vertrautwerdens kann man u. a. an zwei Verhaltensweisen ablesen:

  • Die Weglauftendenz nimmt deutlich ab, sieht man von durch Realitätsverluste bedingte „Verpflichtungen“ (beeinflussbare spontane Desorientierungsphänomene wie z. B. „Hühner füttern“, „Essen kochen“ oder „zur Arbeit gehen“) einmal ab, die auch mit dem Verlangen nach Verlassen des Wohnbereiches verbunden sind (siehe Blog 8).
  • Die vor dem Heimeintritt genutzte Wohnung wird nicht mehr als vertrautes Heim erlebt. Dies wurde wiederholt von Angehörigen berichtet, die Demenzkranke übers Wochenende mit nach Hause nahmen.

Diese soziale Verortung in den Wohnbereich gilt es nun auch milieutherapeutisch zu nutzen, indem sich möglichst alle Tagesverrichtungen in diesem vertrauten räumlichen Rahmen vollziehen sollten. Mahlzeiteneinnahmen, Gemeinschaftsaktivitäten, Ruhen, Wandern, Sitzen und Beobachten – all diese Tätigkeiten und Beschäftigungen sollten im Wohnbereich oder in einem angrenzenden Außenbereich (Garten, Hof, Terrasse u. a.) stattfinden.

Umkehrt sollte nun gemäß dem Prinzip „Konzentration auf den Wohnbereich“ auf die Nutzung von Räumlichkeiten außerhalb des Wohnbereiches (Speisesaal, Räume für Beschäftigungstherapie und Gymnastik) verzichtet werden. Diese Ortswechsel und die damit verbundenen Wegestrecken führen zu Belastungen. Auch bei Angeboten der so genannten „Tagesbetreuung“ außerhalb des Wohnbereiches („teilintegratives Konzept“) wird berichtet, dass Demenzkranke nach der Rückkehr in ihren Wohnbereich vermehrt Unruhe und Symptome einer örtlichen Desorientierung zeigen.

Vermeidung von Veränderungen der Innenausstattung

Das Krankheitssymptom der Verallgemeinerungsunfähigkeit lässt sich bezogen auf die Milieukonstanz u. a. feststellen, wenn z. B. in einem Bewohnerzimmer oder im Gemeinschaftsbereich kleine kaum merkbare Veränderungen vorgenommen werden. Wird im Bewohnerzimmer die grüne Tagesdecke durch eine rote ersetzt, so erkennt der Demenzkranke sein Zimmer nicht wieder und macht sich auf die Suche (Lind 2011: 95). Oder wenn sein Sessel im Gemeinschaftszimmer nur um 90 Grad unabsichtlich verschoben wurde, dann weiß er nicht mehr, wo er sich hinsetzen soll (siehe Blog 47).

Räumliche Verortung im Wohnbereich

Innerhalb des Wohnbereiches verfügen Demenzkranke bei Berücksichtigung des Prinzips der Beständigkeit im Gemeinschaftsbereich über einen eigenen Bereich. Konkret handelt es sich dabei z. B. um einen festen Platz am Tisch bei den Mahlzeiten und eine Sitzgelegenheit (Sessel, Sofa) zum Ruhen und Beobachten.

Einbindung biografischer Elemente

Eine äußerst wirksame Strategie zur raschen Eingewöhnung Demenzkranker in den Wohnbereich besteht in der Verwendung lebensgeschichtlich bedeutsamer Utensilien in der neuen Lebenswelt. Hierdurch werden nach dem Schlüssel-Reiz-Prinzip Regionen des Langzeitgedächtnisses aktiviert, die bei der Wahrnehmung bestimmter Reizkonfigurationen Vertrautheit und Nähe signalisieren.

Es entsteht ein Verstärkungs- und Beschleunigungsprozess bei der Verinnerlichung der neuen Milieustrukturen, der durch die Verbindung des Langzeitgedächtnisses mit dem Gewohnheitslernen oder unbewussten Lernen hervorgerufen wird. Dieser Effekt wird an folgenden Beispielen gezeigt:

  • Ein Bewohnerzimmer wird als neuer Lebensbereich eher angenommen, wenn biografisch bedeutsame Gegenstände deutlich wahrnehmbar platziert werden. Es muss sich dabei nicht immer um Möbelstücke handeln, es reichen oft auch schon selbst gehäkelte Tischdecken, bestickte Kissen, Bilder von nahe stehenden Personen und ähnliches mehr.
  • Auch Gemeinschaftsräume werden von Demenzkranken eher angenommen, wenn vertraute Gegenstände als Schlüsselreize eingefügt werden, wie folgendes Beispiel zeigt: Einer Bewohnerin, die sich während ihrer Eingewöhnungsphase aus Unsicherheit nicht ins Gemeinschaftszimmer traute, konnte die Furcht genommen werden, als ihre vertraute Wanduhr ins Gemeinschaftszimmer gestellt wurde. Ihr Platz war dann direkt neben dieser Wanduhr (siehe Blog 52).

Generationsspezifische Möblierung

Die Vertrautheit und die Akzeptanz der Räume kann auch durch eine lebensgeschichtlich ausgerichtete Möblierung erhöht werden. Wenn z. B. Möbel aus den 40er- oder 50er-Jahren verwendet werden, nimmt die Bereitschaft und Fähigkeit einer angemessenen Raum- und Möbelnutzung zu. Zum Beispiel konnte die Nahrungseinnahme in einem im Stil der 40er- Jahre möblierten Esszimmer gegenüber einem unpersönlich ausgestalteten Raum um 25 Prozent erhöht werden (Elmstahl et al. 1987, Lind 2007: 212f, Lind 2011: 103ff) (siehe auch Blog 52 und Blog 63).

Grundregel der Demenzpflege

Für die stationäre Pflege und Betreuung Demenzkranker gilt die Grundregel, dass die Einrichtung die Milieustetigkeit zusätzlich zu der personalen Stetigkeit und der Handlungsstetigkeit (Tagesstrukturierung und Ritualisierung) bei allen Gegebenheiten als Leistungsangebot vorhält. Die Demenzkranken bestimmen aufgrund ihrer Befindlichkeiten (u. a. Tagesform, biografisch geprägte Verhaltensmuster und Gewohnheiten) die jeweiligen Abweichungen in der konkreten Lebensgestaltung (siehe Blog 3).

Literatur

  • Elmstahl, S. et al. (1997) How should a group living unit for demented elderly be designed to decrease psychiatric symptoms? Alzheimer Disease and Associated Disorders, 11(1), 47–52.
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber.
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber.
  • Markowitsch, H. J. et al. (2006) Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta (2. Auflage).
  • Siegler, R. et al. (2016) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer.

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