Die pflegeoptimierende Raumstruktur als Element des Vollständigkeitskonzepts

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Die pflegeoptimierende Raumstruktur als Element des Vollständigkeitskonzepts ist der Inhalt des 66. Blogs. Es werden die erforderlichen Raum- und Milieufaktoren angeführt.

Vorbemerkungen

In der Demenzpflege gilt u. a. die Erkenntnis, „wenn es den Pflegenden und Betreuenden gut geht, dann geht es auch den Demenzkranken gut“. (siehe Blog 40). Das „gut gehen“ heißt u. a. ganz konkret ein Mindestmaß an strukturell bedingter Stressarmut. Diese strukturelle Stressarmut zeigt in den Rahmenbedingungen des Arbeitsgeschehens. Je mitarbeiterfreundlicher und mitarbeitersensibler diese Rahmenbedingungen für die Pflege- und Betreuungstätigkeit sind, umso entspannter gestaltet sich das Miteinander. Für die Leitenden in den Einrichtungen sollte daher die Regel oder das Prinzip gelten: die Mitarbeiter pflegen die Demenzkranken und die Vorgesetzten pflegen die Mitarbeiter.

Es sollte somit die Erkenntnis in den Einrichtungen vorherrschen, dass Milieusensibilität und Milieuabhängigkeit auch für die Pflegenden und Betreuenden Geltung besitzen. Doch wiederum in einem ganz anderen Ausmaß, denn die Mitarbeiter können im Gegensatz zu den Demenzkranken die belastenden Umweltfaktoren umfassender wahrnehmen. Umfassender heißt hier konkret, sie können diese Belastungselemente nicht nur unbewusst verspüren, sondern zugleich auch bewusst wahrnehmen und erkennen. Demgemäß sind sie dann je nach Belastungsdruck auch in der Lage, diese Belastungsgegebenheiten angemessen zu analysieren und eventuell auch zu ändern.

In diesem Blog werden einige Faktoren dargestellt, die mit dazu beitragen können, dass Stress- und Belastungserleben durch Raumstrukturen und damit Milieufaktoren deutlich zu senken.

Pflegeoptimierende Raumstrukturen

Wenn über mitarbeitersensible Raum- und Milieufaktoren Aussagen gemacht werden, muss vorab auf das Faktum verwiesen werden, dass Demenzpflege in stationären Einrichtungen immer zugleich auch eine Kollektiv- oder Gemeinschaftspflege bedeutet. Kollektiv- oder Gemeinschaftspflege besagt im Heimbereich, dass immer mindestens zwei Pflegende in den Tagesschichten im Wohnbereich präsent sein sollten. Denn die Demenzpflege ist immer zugleich auch eine „Abenteuerpflege“, die nur eine Pflegende in der Regel überfordert (Lind 2011: 149). Man denke u. a. nur an abgängige Bewohner („Weglaufen“), Stürze, Kotschmierereien und tätliche Auseinandersetzungen mit oder unter den Bewohnern. Diesen alltäglichen Gegebenheiten entsprechend sollte ein Demenzwohnbereich mindestens über ca. 20 Plätze verfügen, um gemäß dem Pflegeschlüssel zwei Pflegende pro Schicht vorhalten zu können.

Das Prinzip Nähe

Die entscheidende Gemeinsamkeit in der Architektur für demenzkranke und nicht-demenzkranke Bewohner eines Altenpflegeheimes besteht in dem Prinzip der räumlichen Nähe von Pflegenden und Bewohnern. Aufgrund der hohen Abhängigkeit beider Gruppen von unterschiedlichen Versorgungsleistungen (Pflege, Betreuung u. a.) ist ein Raumprogramm der „kurzen Wege“ erforderlich. Jede größere Distanz im Stationsbereich (lange Flure u. a.) geht immer zu Lasten der Pflegequalität, der Arbeitszufriedenheit und damit letztlich auch zu Lasten der Lebenszufriedenheit der Bewohner (Estryn-Behar 1993, Lind 2000: 135)

Präsenzmilieu

Das Präsenzmilieu basiert auf dem Konzept einer Verstetigung sozialer Nähe durch möglichst weitgehende Überschneidung von Gemeinschaftsflächen mit den Arbeitsbereichen der Mitarbeiter. Das heißt, die Arbeitsfelder liegen in den Wohnbereichen oder grenzen direkt daran an. So kann ein Präsenzmilieu geschaffen werden, das auf dem Prinzip „bewohnerferne Tätigkeiten bewohnernah ausführen“ beruht (Lind 2011: 143). Durch dieses Prinzip gelangt Lebendigkeit in das Wohnmilieu. Bewohner können ihre vertrauten Bezugspersonen beobachten und sind dadurch zugleich beruhigt und psychosozial eingebunden. Das Präsenzmilieu ist somit eine Form sozialer Verdichtung durch das Nebeneinander von Bewohnern und Mitarbeitern in einem räumlichen Bereich. Räumliche Nähe entfaltet soziale Nähe und führt damit zu Empfindungen von Gemeinschaftlichkeit (Lind 2011: 143) (siehe Blog 60).

Sicherheitsmilieu

Ein weiterer Unterschied zwischen den Bewohnergruppen äußert sich architektonisch auch in den unterschiedlichen Aufwand an Sicherheit, Kontrolle und Übersicht. Demenzkranke haben aufgrund ihrer hirnorganischen Einbußen ein sehr geringes Ausmaß an Umweltkompetenz, das sich in einem hohen Potential an Gefahren und Gefährdungen äußert. Ein Demenzwohnbereich erfordert somit ein „Sicherheitsmilieu“ dergestalt, dass durch die Raumstruktur den Pflegenden ein Optimum an Überschaubarkeit und Übersicht geboten werden sollte. Des Weiteren bedeutet das auch, dass die Zu- und Ausgänge des Wohnbereichs gesichert sein müssen, um das unbeaufsichtigte Verlassen („Weglaufen“) zu verhindern. Dieses Sicherheitsmilieu wirkt sich auch positiv auf das Stressempfinden der Pflegenden aus, wissen sie doch, dass ihre Schützlinge sich nicht in gefährdeten Bereichen außerhalb des Wohnbereiches befinden können. Aus nicht beschützen Wohnbereichen wird immer wieder berichtet, dass die Pflegenden unbewusst unruhig werden, wenn sie bestimmte meist mobile Bewohner länger als 30 Minuten nicht gesehen haben (Lind 2000: 136, Lind 2007: 221).

Integration von Arbeits- und Lebensmilieu

Das Wohngruppen-Konzept beruht u. a. auch auf dem Prinzip der funktionalen Interdependenz zwischen Förderung der selbständigen Lebensführung der Demenzkranken einerseits und Aufgaben- und Tätigkeitsspektrum der Pflegenden und Betreuenden andererseits. Die gegenseitige Abhängigkeit von bewohnerförderlichem Milieu und optimaler Pflege- und Betreuungsmöglichkeiten kann zu einer positiven Aufwärtsspirale dergestalt führen, dass positive Milieuaspekte die Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit fördern. So konnten z. B. Robertson et al. (1995) nachweisen, dass motivierte Pflegende häufiger und intensiver mit den demenzkranken Bewohnern kommunizieren als Pflegende mit einem niedrigen Niveau an Arbeitszufriedenheit (Lind 2000: 140).

Das verbindende Strukturelement zwischen diesen beiden Bereichen (Lebenswelt der Demenzkranken und Arbeitsmilieu der Pflegenden) besteht aus dem Prinzip der räumlichen Nähe. Bei Abweichungen von diesem Prinzip treten in der Regel Belastungen und Stressgefühle bei den Pflegenden auf (Lyman 1989). In den USA sind bereits Wohngruppen-Konzepte architektonisch entwickelt worden, in denen der Arbeitsbereich der Pflegenden mit dem räumlichen Milieu der Demenzkranken identisch ist. Das bedeutet, dass separate Personalräume (Pflegestützpunkt u. a.) aufgelöst wurden und in das Wohngruppen-Gefüge integriert worden sind (Stevens 1987).

Wie bereits weiter oben angeführt, ist es von besonderer Bedeutung, dass die Pflegenden Arbeitsbedingungen vorfinden, die das Belastungs- und Stressniveau möglichst niedrig halten können. Ausgeglichene und verhaltenssichere Mitarbeiter sind eher in der Lage, einen beruhigenden und angemessenen Umgang mit den Demenzkranken zu praktizieren (Lind 2000: 141, Lindesay et al. 1991).

Literatur

  • Estryn-Behar, M. (1993). Hospital ergonomics – an analytic survey of recent research. In: Hagberg, M. et al. (Hrsg.): Occupational health for health care workers (pp. 65 – 78), ecomed, Landsberg/Lech.
  • Lind, S. (2000) Umgang mit Demenz. Wissenschaftliche Grundlagen und praktische Methoden. Stuttgart: Paul-Lempp-Stiftung. https://www.svenlind.de/wp-content/uploads/2019/01/Wissen24LemppA.pdf
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber.
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber.
  • Lindesay, J. et al. (1991). The domus philosophy: A comparative evaluation of a new approach to residental care for the demented elderly. International Journal of Geriatric Psychiatry, 6, 727 – 736.
  • Lyman, K. A. (1989). Day care for persons with dementia: The impact of the physical environment on staff stress and quality of care. The Gerontologist, 29, 4, 557 – 560.
  • Robertson, A. et al. (1995). Nurses’ job satisfaction and the quality of care received by patients in psychogeriatric wards. International Journal of Geriatric Psychiatry, 10, 575 – 584.
  • Stevens, P. (1987). Design for dementia: Re-creating the loving family. American Journal of Alzheimer’s Care and Research, 2, 1, 16 – 22.

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