Vorarbeiten für die Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege (Teil 9)

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Vorarbeiten für die Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege (Teil 9) sind der Inhalt des 127. Blogs. Es wird der Problembereich Handlungsunsicherheit dargestellt.

Problembereich 12 – Handlungsunsicherheit

In Blog 126 wird aufgezeigt, dass das Werkzeugkastenmodell wesentlich dazu beitragen kann, dass Pflegende und auch Betreuende ihre intuitive Verhaltenssicherheit im Umgang mit Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium verlieren können. Damit gerät potentiell das Fundament der Interaktionen zwischen Mitarbeitern und Demenzkranken deutlich ins Wanken mit negativen Auswirkungen für das zwischenmenschliche Miteinander.

In Blog 22 wird nachgewiesen, dass die Verhaltenssicherheit der Pflegenden der entscheidende Faktor für die Gestaltung eines anregenden Arbeitsmilieus darstellt. Das Idealbild der Pflegenden in der Demenzpflege ist eine Mitarbeiterin, die Ruhe und Gelassenheit und zugleich auch Wärme und Geborgenheit ausstrahlt. Sie vereinigt dann in saloppen Worten das „Moses-Prinzip“ (ihre ruhigen und sicheren Anordnungen sind „Gesetz“) (Helleberg et al. 2014, Lind 2011: 53), das „Mama-Prinzip“ (Zuwendung und Schutz) und auch das Prinzip Geduld („Engelsgeduld“) (Lind 2011: 53).

Wie bereits mehrfach erwähnt, befinden sich Demenzkranke im schweren Stadium gemäß der Retrogenese im Rückentwicklungsalter eines zwei- bis vierjährigen Kindes, das ständiger Zuwendung und auch Orientierung bedarf (siehe Blog 123). Somit stehen folgende Aufgabenfelder im Mittelpunkt der Pflege und Betreuung dieser Demenzkranken (Lind 2011: 53):

  • Lenken und Ablenken
  • Beruhigen und soziale Nähe vermitteln
  • Anregungen geben.

Wenn Pflegende für Demenzkranke eine positive Leitfigur darstellen wollen, benötigen sie ein bestimmtes Maß an Selbstsicherheit und Selbstvertrauen. Das Ideal ist ein souveränes Auftreten, also sich als Pflegende in der Demenzpflege den Anforderungen gewachsen zu fühlen.

Wie verschiedene Erhebungen zeigen, ist diese Handlungssicherheit bei den Pflegenden im Umgang mit Demenzkranken gegenwärtig in den Heimen in Deutschland noch nicht die Regel (Reggentin et al. 2006: 116, Zimber et al. 1999: 177).

In Blog 22 und auch in Blog 40 wird gezeigt, dass für eine angemessene Pflege Demenzkranker bestimmte Faktoren vorausgesetzt werden müssen, die sich als Pflegeerfordernisse bezeichnen lassen. Als wesentliche Faktoren gelten hierbei die Zeitreserven im Pflegebereich, denn nur so lassen sich Überforderungs- und Stresssymptome bei den Pflegenden vermeiden bzw. deutlich vermindern. Des Weiteren ist auch die Selbständigkeit im pflegerischen Handeln eine unabdingbare und damit notwendige Pflegeerfordernis. Die Handlungssicherheit bildet das dritte Fundament der Demenzpflege. Als Richtschnur und Orientierungsrahmen gilt hier für alle erforderlichen Maßnahmen der vertraute Spruch „Wenn es den Pflegenden gut geht, dann geht es auch den Demenzkranken gut!“ In dieser Erkenntnis drückt sich das Wissen aus, dass es bei der Pflege auch immer um die Gestaltung einer Beziehung handelt, das Miteinander von Pflegenden und Demenzkranken. Und in diesem Miteinander in der Pflege und Betreuung sollten die Demenzkranken möglichst immer auch die Gelassenheit und zugleich auch Verhaltenssicherheit der Pflegenden spüren können.

Demenzpflege ist somit mehr als bloße Körperpflege. Demenzpflege ist zugleich auch Beziehungsgestaltung, Demenzweltgestaltung und vieles mehr. Um diesem Spektrum an Aufgaben gerecht werden zu können, bedarf es der entsprechenden Rahmenbedingungen, die in Blog 22 in Ansätzen formuliert werden. Es gilt hierbei strikt zu berücksichtigen, dass die Nichtbeachtung der Erfordernisse einer angemessenen Demenzpflege fast schon zwangsläufig zu massiven Beeinträchtigungen der Pflege führen kann. Pflegeverweigerung und auch Pflegeerschwernis sind dann die unmittelbaren Folgen.

Zusammenfassung Handlungsunsicherheit

Handlungsunsicherheit im Umgang mit Demenzkranken entsteht bei den Pflegenden und Betreuenden, wenn eine Reihe von Übereinstimmungen in verschiedenen Bereichen nicht mehr vorhanden ist, die im Folgenden angeführt werden.

Unzulänglichkeitsempfinden

In Blog 126 wird gezeigt, dass Professionalität und damit auch Kompetenz in der Demenzpflege sich u. a. auch durch die Aneignung der verschiedenen Modelle im Umgang mit Demenzkranken äußert. Pflegende und Betreuende, die nun nicht auf dem neuesten Stand sind und somit viele neuere Ansätze sich noch nicht angeeignet haben, können demzufolge ein Empfinden unzureichender Kompetenz entwickeln. Und dieses Unzulänglichkeitsempfinden kann deutlich die spontane und intuitive Handlungssicherheit beeinträchtigen.

Begriffslosigkeit und Eigenentwertung der Leistungen

In Blog 121 wird gezeigt, dass das teils spontane und intuitive Handeln der Pflegenden und auch Betreuenden sich gegenwärtig noch nicht in Begriffen und Konzepten widerspiegelt. Die praktizierten Umgangsstrategien wie z. B. die fiktive Selbstpflege im Rahmen einer Doppelstrategie zwecks Ablenkung von der belastenden Körperpflege kann zwar als ein Einzelfall beschrieben werden, jedoch nicht begrifflich verallgemeinert bzw. von einer Modell abgeleitet werden. Dieses Fehlen an begrifflicher Erfassung und damit zugleich Verallgemeinerung führt bei den Pflegenden und Betreuenden zu dem Empfinden einer subjektiven Entwertung ihrer eigenen wirksamen Leistungserbringung, wenn sie z. B. ihr Problemlösungsverhalten selbst als bloße Trickserei bezeichnen.

Vorwurf des moralischen Fehlverhaltens

In Blog 68 und Blog 79 wird gezeigt, dass sowohl Naomi Feil als auch Tom Kitwood intuitives Verhalten zur Ablenkung und Beruhigung strikt aus „ethischen“ Gründen ablehnen und es als „Lug und Trug“ diskreditieren. Wenn dieses „Fehlverhalten“ dann auch noch als Merkmal einer „malignen bösartigen Sozialpsychologie“ (Kitwood) gebrandmarkt wird, können Pflegende und Betreuende schon ihre Verhaltenssicherheit im Umgang mit Demenzkranken verlieren. So kann es dann auch geschehen, dass die wirksamen Strategien des Mitgehens und Mitmachens bei wahnhaften Halluzinationen durch unwirksame Verbalisierungsstrategien (u. a. Validation) ersetzt werden (siehe Blog 45).

Die Verhaltenssicherheit wird auch stark beschädigt, wenn Pflegende und Betreuende mit dem Vorwurf konfrontiert werden, sie würden mit stadienbezogenen Umgangsformen wie Kuscheln und Ammensprache bei verunsicherten Demenzkranken eine persönlichkeitsherabmindernde Infantilisierung im Rahmen der „malignen bösartigen Sozialpsychologie“ praktizieren (siehe Blog 20).

Die Verhaltenssicherheit gelangt auch ins Schwanken, wenn Pflegenden und Betreuenden der Vorwurf gemacht wird, sie würden durch ihre fürsorglichen Maßnahmen die „Autonomie“ und „Selbstbestimmung“ der Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium unterminieren. Wenn dann der Tod Demenzkranker als Unfallopfer im Straßenverkehr als Alltagsnormalität klassifiziert wird und dementsprechend „offene Türen in offenen Heimen“ (KDA) propagiert wird, beginnen die Mitarbeiter zusehends an ihrer Aufsichts- und Fürsorgepflicht zu zweifeln und können dabei ihre bisherige berufsbedingte moralische Orientierung (Gewährleistung der Unversehrtheit) verlieren (siehe Blog 44).

Literatur

  • Helleberg, K. M. et al.(2014) ‘‘Like a Dance’’: Performing Good Care for Persons with Dementia Living in Institutions. Nursing Research and Practice. Volume 2014, Article ID 905972, 7 pages http://dx.doi.org/10.1155/2014/905972
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Reggentin, H. et al. (2006) Demenzkranke in Wohngruppen betreuen und fördern. Ein Praxisleitfaden. Stuttgart: Kohlhammer Verlag
  • Zimber, A. et al. (Hrsg.) (1999) Arbeitsbelastung in der Altenpflege. Göttingen: Hogrefe

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Sven.Lind@web.de). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

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