Verunsicherung der Pflegenden

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Pflegeerschwernis aufgrund von Mitarbeiterverunsicherung durch widersprüchliche Einstellungen zur Demenz ist der Inhalt des 44. Blogs. Anhand des Widerspruchs zwischen Autonomie und Unversehrtheit wird dieses Problemfeld aufgezeigt.

In Blog 43 wurde in Ansätzen beschrieben, wie Pflegende und auch Betreuende durch einen Bürokratisierungsprozess in Gestalt von Pflege-, Qualitäts- und weiteren Bewertungsstandards tendenziell die Sicherheit im Umgang mit den Demenzkranken genommen wird. Es handelt sich hierbei überwiegend um Erfassungsmodalitäten, die sich nicht aus dem demenzspezifischen Geschehen der Interaktionen bei der Pflege und Betreuung selbst ableiten lassen. Diese Instrumentarien besitzen meist einen nichtdemenzspezifischen Ursprung und damit auch eine nichtdemenzspezifische Handlungslogik. So kommen z. B. die Qualitätsstandards überwiegend aus dem Bereich der industriellen Produktion (DIN-Normen u. a.) und bestimmte Pflegekonzepte aus der Rehabilitationspraxis (u. a. das Modell der fördernden Prozesspflege nach Krohwinkel). Sich nach diesen demenzfremden Modellen bei der Planung, Durchführung und Bewertung der Pflege und Betreuung zu richten, führt zur Infragestellung der bisherigen Arbeitsweise und schafft damit die Voraussetzung für Empfindungen der Verunsicherung und des beruflichen Selbstzweifels.

Neben diesen demenzfremden Modellen der Orientierung und Bewertung sind in den letzten Jahrzehnten viele neue Konzepte im Bereich der Demenzpflege entwickelt worden. Auch diese Modelle sind letztlich aufgrund ihrer theoretischen Herkunft und auch hinsichtlich ihrer innewohnenden Erwartungshaltung nicht demenzspezifisch und somit ein weiterer Belastungs- und Verunsicherungsfaktor für die Pflegenden und Betreuenden. In den folgenden Blogs werden anhand einiger Beispiele aufgezeigt, wie durch diese Vorstellungen von einer Demenzpflege, die teilweise mit strikten normativen Geboten und Verboten verbunden sind, die Verhaltenssicherheit und damit auch das Selbstvertrauen der Mitarbeiter massiv untergraben werden.

Autonomie und Unversehrtheit

Im weiten Feld der Demenzpflege sind im Rahmen der Konzeptbildung und der Pflegepraxis gegenwärtig zwei recht unterschiedliche Vorstellungen über die Autonomie und damit über die Selbstbestimmung Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium bekannt:

  • Das Konzept einer fiktiven Autonomie („Demenz- oder Scheinautonomie“)
  • Die Vorstellung einer realen Autonomie bzw. Selbstbestimmung

Beide Positionen oder Festlegungen beziehen sich auf das Grundgesetz und somit auf die Grundrechte: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ (Artikel 2 GG).

Das Konzept der fiktiven Autonomie

Umgangsformen der „fiktiven Autonomie“ lassen sich als Elemente einer Demenzweltgestaltung klassifizieren. Das Konzept der „fiktiven Autonomie“ oder auch Demenz-Autonomie beruht auf dem Sachverhalt, dass

  • Demenzkranke im schweren Stadium keine Krankheitseinsicht besitzen
  • Demenzkranke die Konsequenzen ihres Handelns hinsichtlich einer Selbst- oder Fremdgefährdung nicht mehr überblicken können (fehlende Einsichtsfähigkeit)
  • Demenzkranke nicht mehr in der Lage zu einer sachlichen Auseinandersetzung über ihr Tun sind
  • Demenzkranke noch das Bedürfnis nach selbstbestimmtem Handeln besitzen.

Demenzkranke können in diesem Stadium in vielen Situationen nicht mehr selbst bestimmen, weil ihnen das geistige Vermögen zur Erfassung der Folgen und Konsequenzen ihres Handelns fehlt. Sie befinden sich auf dem geistigen Entwicklungsstand von Kleinkindern und bedürfen somit der Aufsicht und auch Lenkung durch Mitarbeiter (Reisberg et al. 1999). Dieses Anleiten, Führen und Lenken darf jedoch für die Betroffenen nicht offensichtlich sein, andernfalls drohen Abwehr z. B. in Gestalt der Pflegeverweigerung oder des Rückzuges. Wirksame Vorgehensweisen im Rahmen der „fiktiven Autonomie“ bestehen überwiegend aus Ablenkungs- und Beruhigungsstrategien, z. B. das Modell der „Doppelstrategien“ (siehe Blog 14). Im Vordergrund dieser Vorgehensweisen steht letztlich die Gewährleistung der körperlichen und auch seelischen Unversehrtheit der Demenzkranken (Lind 2011: 261, Wojnar 207: 153).

Die Vorstellung einer realen Autonomie bzw. Selbstbestimmung

Die Vertreter der Position einer realen Selbstbestimmung Demenzkranker im schweren Stadium berufen sich auch auf die Grundrechte, wenn sie die Forderung aufstellen: „Es ist erwogen worden, im späten Stadium der Erkrankung die Perspektive der Selbstbestimmung gegenüber der des Wohlergehens zurücktreten zu lassen. Ein solcher Schritt kann nicht umstandslos eingefordert werden, weil Selbstbestimmung ethisch unhintergehbar ist und ihre Aufhebung immer Einschränkungen der Grundrechte der betreffenden Person zur Folge hat.“ (Sturma 2018: 164). In diesem Zusammenhang wird von einem „paternalistischen Fehlschluss“ ausgegangen (Rieger 2018: 52). Des Weiteren wird auch die „Kultur der Überwachung und Einschränkung in den Pflegeeinrichtungen“ (Alarmanlagen u. a.) zum Schutze der Demenzkranken beklagt, die sich nicht mit dem Ansatz der „personenzentrierten Pflege“ vereinbaren ließen (Innes 2014: 89). Welche konkreten Auswirkungen diese Denkweisen für die Praxis in den Pflegeheimen haben können, lässt sich u. a. an den Einstellungen zur Risikoeinschätzung ablesen.

Risikoeinschätzung für Demenzkranke

Die Einstellung, dass Demenzkranke auch das Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung zusteht, wird vor allem von Vertretern der „personenzentrierten Pflege“ vertreten. Erklären lässt sich diese Denkweise mit der Grundannahme, dass es sich bei der Demenz letztlich nicht um eine Erkrankung, sondern um eine besondere Form des Alterungsprozesses handelt. Dementsprechend gilt für diese Personengruppe somit auch vorrangig das Normalitätsprinzip für das alltägliche Leben. Bezogen auf eventuelle Risiken wird dann wie folgt argumentiert: „Doch das Leben ist nun einmal ein riskantes Unterfangen. Deshalb vertritt der Autor die Ansicht, dass es unethisch ist, im tagtäglichen Leben jemanden davon abzuhalten, für sich selbst akzeptable Risiken einzugehen, wenn wir die Demenz dieser Person als Rechtfertigung hierfür heranziehen.“(Chalfont 2010: 71). Auch Loveday vertritt diese Position: „Risiken gehören zum Leben, auch zum Leben von Menschen mit Demenz. (…) Wenn sie daran gehindert werden, etwas zu tun, was sie tun möchten, wird sich ihre Lebensqualität vermutlich verschlechtern.“ (Loveday 2015: 137). Welche Konsequenzen diese Denkweise u. a. haben kann, wird an anderer Stelle thematisiert: „Wäre es nicht auch für uns Jüngere ein tröstlicher Gedanke, Freiheit im Alter leben zu dürfen, auch wenn das im schlimmsten Fall bedeutet, daß die verbleibende Lebenszeit beispielsweise durch einen Unfall verkürzt wird?“(Wasner 2000: 65).

Auswirkungen auf die Praxis

Zwei konträre Einstellungen stehen hier zur Diskussion. Eine Position setzt auf das Prinzip der Freiheit und Selbstbestimmung (reale Autonomie). Die andere Position setzt vorrangig auf den Schutz und die Sicherheit der Betroffenen (Unversehrtheit), da es sich bei den Betroffenen um kranke, hilflose und damit schutzbedürftige Personen handelt. Wie konträr sich diese Einstellungen im Alltag auswirken, kann das folgende Beispiel zeigen:

Beispiel: In einem recht kurzen Zeitabstand verunglückten zwei Demenzkranke eines Pflegeheimes in Köln tödlich nach unbeaufsichtigtem Verlassen der Einrichtung („Weglaufen“) im Straßenverkehr (Straßenbahngleise direkt vor dem Pflegeheim). Den aufgewühlten und trauernden Pflegenden wurde seitens der Leitung nur lapidar mitgeteilt, dass sie keine Schuld träfe, da keine Aufsichtspflicht verletzt wurde, denn es handelt sich um eine offen geführte Einrichtung (persönliche Mitteilung).

Pflegende befinden sich bei diesen Gegebenheiten in einem Dilemma dergestalt, dass ihr Bestreben, hilflosen Menschen Pflege, Schutz und Wohlbefinden zukommen zu lassen, durch konträre Rahmenbedingungen (u. a. Leitlinie „Selbstbestimmung“) teils stark beeinträchtigt wird. Unsicherheit und Zweifel an ihrer Tätigkeit können die Folgen sein, denn sie sind mit diesen Widersprüchen konträrer Positionen tagtäglich bei der Pflege und Betreuung konfrontiert.

Literatur

  • Chalfont, G. (2014) Naturgestützte Therapie. Bern: Verlag Hans Huber
  • Innes, A. (2014) Demenzforschung. Das Erleben und die Versorgung von Menschen mit Demenz erforschen. Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Loveday, B. (2015) Demenzteams führen und leiten. Bern: Verlag Hans Huber
  • Reisberg, B. et al. (1999) Toward a science of Alzheimer’s disease management: a model based upon current knowledge of retrogenesis. International Psychogeriatrics, 11 (1): 7-23.
  • Rieger, H.-M. (2018) Demenz als Testfall der Menschenwürde – auf der Suche nach einem leibgebundenen Verständnis von Person und Würde. In: Bonacker M. und G. Geiger (Hrsg.): Menschenrechte in der Pflege. Opladen: Verlag Barbara Budrich (49 – 86)
  • Sturma, D. (2018) Ethik und rechtliche Fragen. In: Jessen, F. (Hrsg.) Handbuch Alzheimer-Krankheit. Berlin: Walter de Gruyter (157 – 166)
  • Wasner, E. (2000) „Mensch, werde wesentlich.“ Zeichen im Sand der Gedanken. In: Gutensohn, S. Endstation Alzheimer?: Ein überzeugendes Konzept zur stationären Betreuung. Frankfurt am Main: Mabuse Verlag (55 – 67)
  • Wojnar, J. (2007) Die Welt der Demenzkranken – Leben im Augenblick. Hannover: Vincentz Verlag.

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