Illusionäre Selbstwahrnehmung im Kontext des Vollständigkeitskonzepts

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Illusionäre Selbstwahrnehmung im Kontext des Vollständigkeitskonzepts ist der Inhalt des 59. Blogs. Es werden Symptomlagen und Interventionen angeführt.

Nachtrag und Ergänzung

In Blog 58 wurden u. a. die „positiven Umdeutungen“ der sozialen und materiellen Gegebenheiten des Umfeldes als Selbststabilisierungsphänomene bezeichnet, die als unbewusste Anpassungs- und Bewältigungsleistungen der Demenzkranken an die Lebenswelt Pflegeheim klassifiziert werden können. Diese letztlich realitätsverzerrende Wahrnehmungen und Einschätzungen des Umfeldes stabilisieren unbewusst das Empfinden, sich in sicheren und vertrauten Verhältnissen zu befinden.

Das unbewusste sich arrangieren mit den objektiven Gegebenheiten im Sinne einer positiven Sichtweise oder eines psychischen Selbstschutzes ist auch bei älteren und alten Menschen ohne demenzielle Erkrankung nachgewiesen worden. So konnte z. B. in der Berliner Altersstudie belegt werden, dass Senioren trotz gesundheitlicher und teils auch materieller und sozialer Einschränkungen mit sich und ihren Lebensumständen überwiegend zufrieden sind. Dieses Empfinden wurde angesichts der deutlichen Diskrepanz bezüglich der objektiver Sachverhalte und subjektiver Bewertung (u. a. objektive und subjektive Gesundheit) als „Zufriedenheitsparadox“ bezeichnet (Mayer et al. 1996).

Illusionäre Selbstwahrnehmungen mit Gefahrenpotentialen

Im vorherigen Blog wurde beschrieben, dass Demenzkranke unbewusst das soziale Umfeld illusionär positiv umdeuten. Dadurch erhöhen sich die Lebenszufriedenheit und das Wohlbefinden. In diesem Blog steht die illusionäre Selbstwahrnehmung im Zentrum der Darstellung. Unter illusionären Selbstwahrnehmungen werden Krankheitssymptome verstanden, bei denen die Selbstwahrnehmung und damit auch das Selbstbild der Demenzkranken im Widerspruch zu dem objektiven körperlichen und geistigen Leistungsvermögen steht. Die subjektive Selbsteinschätzung deckt sich somit nicht mit den objektiven Kompetenzen zur Bewältigung des Alltags. Konkret heißt das, dass die Betroffenen unbewusst die eigene Hilflosigkeit nicht mehr wahrnehmen können. Dadurch sind sie äußerst schutzbedürftig, denn sie können die potentiellen Gefahren der Umwelt nicht mehr angemessen einschätzen.

Hilfebedürftig und schutzbedürftig einerseits und zugleich aber auch das illusionäre Selbstbild von kompetenten Leistungsvermögen andererseits, wie lässt sich diese Diskrepanz im Rahmen der Demenzpflege vereinbaren, ohne dass Selbst- und Eigengefährdung zu erwarten sind. Die zentralen Kategorien diesbezüglich sind u. a. die Konzepte der „Doppelstrategie“ und der „fiktiven Autonomie“ (Demenz-Autonomie). Den Betroffenen wird bei diesen Vorgehensweisen und Beeinflussungsstrategien ihr positives illusionäres Selbstbild nicht beeinträchtigt, ihr seelisches Gleichgewicht wird trotz mannigfaltiger Pflegemaßnahmen nicht gestört (siehe hierzu u. a. Blog 14 und Blog 44).

Das für die Demenzpflege allgemeine und integrierende Konzept der Vollständigkeit besitzt im Rahmen des Umgangs mit illusionären Selbstwahrnehmungen den Charakter einer Schutzfunktion. Ein Leben mit realitätsverzerrender Selbstwahrnehmung mit den damit verbundenen Gefahrenpotentialen erfordert die hierfür notwendigen Strategien des Beobachtens, des Mitgehens und Mitmachens und des Ablenkens und Beruhigens. Nur mittels dieser und weiterer Handlungssegmente kann die seelische und körperliche Unversehrtheit Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium gewährleistet werden. Die folgend angeführten Krankheitssymptome illusionärer Selbstwahrnehmung sind demenztypisch, da sie mit dem neuropathologischen Abbauprozess erklärt werden können.

Fehlende Krankheitseinsicht

Die fehlende Krankheitseinsicht (Anosognosie) äußert sich bei den Demenzkranken oft in der Überzeugung, noch selbständig und fit zu sein und somit auch keine Hilfestellung bei der Körperpflege und dem Ankleiden zu benötigen (Lind 2007: 121, siehe Blog 1). Die fehlende Krankheitseinsicht ist ein Symptom vieler neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen (Schröder 2006, Lind 2011: 171). Es handelt sich hierbei um eine Selbstwahrnehmungsstörung; sie kann als eine Störung in der Verarbeitung innerer Reizkonstellationen (dysfunktionale Interozeption) klassifiziert werden (siehe Blog 6). Es bedarf des Hinweises, dass fehlende Krankheitseinsicht bei der Demenz mit verminderter oder fehlender Depressivität einhergeht. Die Erkrankten fühlen sich also relativ wohl (Schröder 2006: 90).

Um bei der täglichen Pflege angesichts der fehlenden Krankheitseinsicht eine psychische Beeinträchtigung (Verletzung des Selbstbildes) bei den Betroffenen zu vermeiden, sind u. a. folgende Vorgehensweisen recht wirksam: Strategien der Ablenkung (siehe Blog 27); Vorgehensweisen „Perspektiven und Anregungen geben“ (siehe Blog 29) und Vermittlung fiktiver Sachzwänge (siehe Blog 30)

Unterscheidungsunfähigkeit

Bei der geistigen Fehlleistung der Unterscheidungsunfähigkeit verliert das Hirn die Fähigkeit, Unterschiede zwischen ähnlichen Gegenständen bezüglich Formgebung und auch Funktion zu erkennen. Durch das fehlende Unterscheidungsvermögen werden ähnliche Gegenstände als gleich wahrgenommen. So sind für Demenzkranke im mittleren Stadium z. B. alle Flaschen zugleich auch Trinkflaschen, egal ob es sich um Mineralwasser-, Parfüm- oder Essigflaschen handelt. Es kann hier von einer Vergröberung oder einem Gleichmachungsprozess in der Wahrnehmung gesprochen werden.

Aufgrund der fehlenden Krankheitseinsicht ist den Demenzkranken die Gefahr dieser Fehlleistungen nicht bewusst, was verschiedene Aspekte einer potentiellen Selbstgefährdung mit einschließt. Wenn Parfümflaschen für Wasserflaschen und Mottenkugeln für Bonbons gehalten werden, dann können schnell lebensgefährliche Situationen (Vergiftungen u. a.) entstehen. Dieses Phänomen einer gedanklichen Überdehnung wird auch bei Kleinkindern im Kontext ihrer geistigen Entwicklung beobachtet (Siegler et al. 2016).

Im Falle der Unterscheidungsunfähigkeit gelten folgende Maßnahmen sowohl für den Heimbereich als auch für den Privathaushalt: Milieusicherheit herstellen durch Beseitigung von möglichen Gefahrenquellen und Beaufsichtigung der Betroffenen. Vor allem sollte es dabei um die Beseitigung von giftigen, spitzen und scharfen Gegenständen gehen: Flaschen mit Lösungs- oder Reinigungsmitteln, giftige Zimmerpflanzen, Reinigungstabletten für den Zahnersatz etc. Denn neben der Fehlwahrnehmung aufgrund der Unterscheidungsunfähigkeit neigen Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium ähnlich Kleinkindern dazu, vermehrt Dinge in den Mund zu nehmen, um sie identifizieren zu können (Lind 2011: 97).

Empfindungsstörungen

Bei den Empfindungsstörungen „falsche Körperwahrnehmung“ und „fehlende Körperwahrnehmung“ handelt es sich um Wahrnehmungsstörungen der Innen- oder Binnenreize der Körperorgane, also um innerorganischer Prozesse(Interozeption- siehe Blog 6). Die folgenden Beispiele verdeutlichen diese Krankheitssymptome:

Beispiel 1: Ein bereits immobiler Demenzkranker sitzt im Rollstuhl und versucht aufzustehen um zu gehen. Ohne unmittelbares Eingreifen wäre er sofort gestürzt. Ähnliche Verhaltensweisen wurden bei Versuchen, morgens aus dem Bett heraus aufstehen zu wollen, beobachtet.

Beispiel 2: Ein Demenzkranker wandert stundenlang auf dem Wohnbereich und hört auch nicht auf, als eine deutliche Gangunsicherheit und leichtes Schwanken zu beobachten sind. Auch hier droht in Kürze ein Sturz.

Bei dem Versuch einer neurowissenschaftlichen Erklärung dieser Verhaltensmuster kann von der Annahme ausgegangen werden, dass durch den neurodegenerativen Abbau bestimmte Hirnareale, die für die Abstimmung und Regulierung neuronaler Schaltkreise verschiedener Funktionsbereiche des Körpers zuständig sind, bereits nicht mehr funktionsfähig sind. Umgangssprachlich lässt sich das wie folgt ausdrücken: Hirn und Knie sind nicht mehr angemessen miteinander verschaltet mit der Folge einer „falschen Körperwahrnehmung“. Zusätzlich kann des Weiteren vermutet werden, dass die Erkrankten im Beispiel 1 aufgrund der Fähigkeit zur aufrechten Körperhaltung im Rollstuhl und auch im Bett sich noch das Empfinden erhalten haben, selbständig gehen bzw. aufstehen zu können. In Beispiel 2 kann vermutet werden, dass die physiologische Empfindungen zunehmender Kraftverlust und beginnende Gangunsicherheit nicht mehr wirksam mit den anderen Handlungsmustern des Körpers abgeglichen bzw. synchronisiert werden können. So kann das Krankheitssymptom „fehlende Körperwahrnehmung“ erklärt werden. Die Folge hiervon sind dann ein Verhaltensautomatismus, eine Enthemmung und auch ein Kontrollverlust (Disinhibition). Es fehlt konkret das schützende Regulativ, mit dem Wandern aufzuhören. Die Betroffenen sind in diesen Situationen hilflos und selbstgefährdet zugleich. Die erforderlichen Interventionen sind in Blog 7 aufgeführt.

Literatur

  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Mayer, K. U. et al. (Hrsg.) (1996) Die Berliner Altersstudie. Berlin: Akademie Verlag
  • Schröder, S. G. (2006) Psychopathologie der Demenz. Symptomatologie und Verlauf dementieller Erkrankungen. Stuttgart: Schattauer
  • Siegler, R. et al. (2016) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer

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