Positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker (Teil 5)

Geschätzte Lesedauer: 3 Minuten

Positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker (Teil 5) sind der Inhalt des 102. Blogs. Es wird die therapeutische Intervention bei einem zwangsähnlichen Desorientierungsverhalten angeführt.

Vorbemerkung

In Blog 98 ist einleitend darauf verwiesen worden, dass Positives in der Lebenswelt Demenzkranker im Sinne von Wohlbefinden und Zufriedenheit teils durch unbewusstes selbststabilisierendes Verhalten und Wahrnehmen verursacht wird. Eine weitere Dimension in der Gestalt von positivem Erleben besteht aus therapeutischen Interventionen seitens der Pflegenden und Betreuenden, die bereits in vielen Blogs dargestellt worden sind.

Positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker sind jedoch nicht nur Wohlbefinden und Zufriedenheit, Geborgenheit und Schutz. Angesichts des äußerst fragilen psychosozialen Gleichgewichts liegen positive Aspekte bereits vor, wenn Zustände von Furcht und Unruhe vermieden werden können (siehe Blog 91 und folgende). In diesem Zusammenhang lassen sich dann selbst deutliche Minderungen von Furcht und Unruhe bereits als therapeutische Erfolge bezeichnen. Im Folgenden werden therapeutische Interventionen nochmals angeführt, die ihre Wirksamkeit in der Behebung von Stresszuständen nachweisen konnten.

Therapeutische Interventionen

In diesem Blog wird anhand einer konkreten therapeutischen Intervention bei einer zwangsähnlichen Desorientierungssymptomatik das Spektrum an Einwirkungsmodalitäten aufgezeigt, das bei der Betroffenen zu einer psychisch stabilisierenden Problemlösung geführt hat. Es handelt sich dabei um das Fallbeispiel „Zeitungen austragen müssen“ (Lind 2007: 77, Lind 2011: 119f, siehe Blog 12).

Zwangsähnliches Desorientierungsverhalten

In Blog 12 wird angeführt, dass beim zwangsähnlichen Desorientierungsverhalten Langzeitgedächtnisinhalte der Altbiografie aktiviert werden. Es dringen dabei Erinnerungen von bedeutsam Erlebtem (episodische Gedächtnisinhalte) und zugleich auch die mit diesem Erlebten verbundenen Handlungsmuster (Handlungsgedächtnis oder prozedurales Gedächtnis) ins Bewusstsein. Das Krankhafte liegt nun in dem Sachverhalt, dass diese Erinnerungen für Realbezüge gehalten werden, die es nun zwangsähnlich auszuführen gilt. Neuropathologisch lässt sich diese Symptomatik mit dem fehlenden Realitätsfilter im Frontallappen der Großhirnrinde erklären (Schnider 2012). Diesem Filter obliegt die Aufgabe, Impulse aus verschiedenen Hirnarealen, bevor sie ins Bewusstsein dringen, hinsichtlich ihrer Realitätsbezogenheit zu bewerten und zu klassifizieren (Erinnerung oder Realität) (siehe Blog 8).

Altbiografie

In Blog 91 wird gezeigt, dass die Lebensgeschichte in Gestalt der epischen und episch-prozeduralen Langzeitgedächtnisinhalte vor Ausbruch der Erkrankung (Altbiografie) für die Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium eine bedeutsame Wirkkraft besitzt. Die Lebensgeschichte ist nämlich aufgrund des fehlenden Realitätsfilters im Frontallappen der Großhirnrinde sowohl Vergangenheit als zugleich auch Gegenwart (Schnider 2012). Für die Pflegenden und Betreuenden hat das Wissen über die Altbiografie u. a. die Funktion eines Schlüssels im Sinne eines Erklärungszusammenhanges. Wenn z. B. ein unruhiges Hin- und Herwandern beobachtet wird, kann vermutet werden, dass die Betroffenen auf der Suche sind, sie wollen entweder nahe teils schon verstorbene Angehörige finden oder sie wollen einer bestimmten Tätigkeit nachgehen, z. B. Zeitungen austragen. Doch meist können sie das nicht mehr mitteilen. Wenn dieses Verhalten regelmäßig zu einer bestimmten Zeit im Tagesverlauf auftritt, kann angenommen werden, dass hier die demenzspezifische Krankheitssymptomatik eines zwangsähnlichen Desorientierungsverhaltens vorliegt. Es gilt nun ein in der Lebensgeschichte verborgenes passendes Verhaltensmuster zu ermitteln. Die Mitarbeiter werden diesbezüglich regelrecht „Demenz-Detektive“ bezüglich der Lebensgeschichte (Camp 2015).

Differentialdiagnose

Bevor nun die Diagnose zwangsähnliches Desorientierungsverhalten gestellt werden kann, muss aus differentialdiagnostischen Gründen vorab ausgeschlossen werden, ob in diesem Fall („Zeitungen austragen müssen“) nicht eventuell die Symptomatik „beeinflussbare spontane Desorientierung“ vorliegt (siehe Blog 8). Dieses ebenfalls belastende Verhalten, dass auch bei anderen neurologischen Erkrankungen beobachtet wird, lässt sich in der Regel durch Ablenkungsstrategien positiv beeinflussen. Wenn nun Ablenkungsimpulse keine Wirkung zeigen, kann der Schluss gezogen werden, dass hier ein zwangsähnliches Drangverhalten vorliegt.

Ermöglichungsstrategien mittels Eigenweltgestaltung

Ermöglichungsstrategien beinhalten Hilfestellung und teils auch Assistenz seitens der Mitarbeiter, damit Demenzkranke ihr zwanghaftes Verhalten ausagieren können. Nur so lässt sich der Drang verbunden mit Unruhe und Leidensdruck beheben. Wie in Blog 12 angeführt, wird der Demenzkranken mit dem Drang zu nächtlichem Zeitungsaustragen Gelegenheit gegeben, dieses Handlungsmuster auszuführen. Der nachts im Wohnbereich herumirrenden Bewohnerin wird mittels eines Stapels alter Zeitungen die Möglichkeit zum Austeilen dieser Zeitungen gegeben. Zusätzlich zu den Zeitungen wurde der Betroffenen erklärt, dass der Wohnbereich ihre alte vertraute Route wäre. So wird dann gemäß dem Ansatz der Demenzweltgestaltung aus dem Flur des Wohnbereiches das ehemalige Revier zum Verteilen der Zeitungen. Die Erkrankte legte nun vor jedem Bewohnerzimmer eine Zeitung ab. Mit getaner Arbeit verschwand bei der Betroffenen automatisch der Zwangsimpuls. Sie hatte ja das Empfinden, alles erledigt zu haben (Lind 2007: 77, Lind 2011: 120, siehe Blog 49).

Die fiktive temporäre Umgestaltung des Flurs in ein Revier zum Austragen von Zeitungen ist eine Eigenweltgestaltung für die Demenzkranke im Sinne einer Inszenierung. Eigenweltgestaltung bedeutet, dass die Umwelt des Wohnbereichs mitsamt den erforderlichen Utensilien (Zeitungen) vorübergehend zu einem therapeutischen Milieu umfunktioniert wird. Durch die Umwidmung bestimmter Bereiche der Umgebung lassen sich somit Lösungen für die Belastungsempfindungen der Betroffenen herbeiführen. Diese Strategie kann als Eigenweltgestaltung im Rahmen einer Demenzweltgestaltung bezeichnet werden. Jedem Demenzkranken, der aufgrund eines belastenden Realitätsverlustes Hilfe und Unterstützung bedarf, sollte gegebenenfalls eine eigene Welt aufgebaut werden (siehe Blog 49).

Literatur

  • Camp, C. J. (2015) Tatort Demenz – Menschen mit Demenz verstehen. Bern: Hogrefe Verlag
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Schnider, A. (2012) Konfabulationen und Realitätsfilter. In: Karnath, H.-O. und Thier, P. (Hrsg.) Kognitive Neurowissenschaften, Berlin: Springer (567 – 572)

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Sven.Lind@web.de). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert