Positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker (Teil 6)

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Positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker (Teil 6) sind der Inhalt des 103. Blogs. Es werden weitere wirksame Beeinflussungsstrategien angeführt.

Ergänzung Ermöglichungsstrategien

In Blog 102 ist aufgezeigt worden, dass das Krankheitssymptom zwangsähnliches Desorientierungsverhalten mittels Konzepten der Ermöglichungs- und Eigenweltstrategie positiv beeinflusst werden konnte. Das zwangsähnliche Drangverhalten konnte zu einem Abschluss gebracht werden. Der entscheidende Hebel für die Wirkmächtigkeit dieses Vorgehens bestand aus dem Wissen über die Altbiografie (siehe Blog 91), denn nur so konnte eine effektive Lösungsstrategie entwickelt werden.

In diesem Blogelement wird u. a. beschrieben, dass bei einem zwangsähnlichen Desorientierungsverhalten neben der Ermöglichungsstrategie, der Eigenweltstrategie ergänzend noch die Verkleinerungsstrategie hinzukommt, um das Verhalten Demenzkranker positiv lenken zu können. Die Verkleinerungsstrategie basiert auf dem Wahrnehmungsstörung Skalierungsfehler, wie im Folgenden weiter erläutert wird.

Wahrnehmungsstörung Skalierungsfehler

In Blog 5 wird darauf verwiesen, dass die Wahrnehmungsstörung Skalierungsfehler bisher in der Demenzpflege weder als ein Krankheitssymptom noch als eine Problemlage für die Betroffenen thematisiert wurde. Bisher wurde nur in der Entwicklungspsychologie für Kinder diese Wahrnehmungsstörung beschrieben. Es handelt sich bei dem Skalierungsfehler um die Fehleinschätzung der Größenverhältnisse in der Wahrnehmung und dem folgenden Verhalten. Wenn z. B. ein Kleinkind versucht, in ein Spielzeugauto einzusteigen oder sich auf einen Puppenstuhl zu setzen, dann sind vermutlich physiologisch die Hirnareale für die Objektwahrnehmung und die Selbstwahrnehmung bezogen auf das Größenverhältnis im Handlungsprozess noch nicht ausreichend verschaltet. Dieses Reifungsdefizit wird bei Kleinkindern im Alter von 18 bis 30 Monaten beobachtet (Siegler et al. 2016: 177).

Verkleinerungsstrategie

Ebenfalls in Blog 5 wird der Sachverhalt beschrieben, dass Pflegende gezielt die Wahrnehmungsstörung Skalierungsfehler bei der Milieugestaltung Demenzkranker handhaben. Mittels Spielzeug wird milieubezogen eine Verkleinerung einer bestimmten Situation hergestellt, um Demenzkranken in konkreten Belastungssituationen Hilfestellung und Unterstützung zu geben. Folgendes Beispiel verdeutlicht diese Vorgehensweise:

Ein ehemaliger Bauer warf immer um 16:00 Uhr sein Kopfkissen auf den Flurboden. Die Pflegenden wussten, dass der Demenzkranke früher auf seinem Bauernhof zu dieser Zeit seinem Vieh im Stall das Heu zuwarf. Wohl aus Kostengründen (Reinigung der Kopfkissenbezüge) stellten die Pflegenden nun Spielzeugrinder auf den Tisch und reichten dem Bewohner um 16:00 Uhr kleine selbstgebastelte Strohballen, die er dann seinem „Vieh“ zuwarf (persönliche Mitteilung).

Des Weiteren wird in Blog 5 anhand eines Fallbeispiels der Umstand dargestellt, dass eine Stabilisierungshalluzination („eigene Hühner im Zimmer“) sich in eine Belastungsgegebenheit wenden kann:

Eine Demenzkranke wagte nicht, aus ihrem Zimmer zu gehen, um an Gemeinschaftsaktivitäten teilzunehmen, die ihr in der Regel wegen der Geselligkeit eigentlich gut taten. Als Grund hierfür gab sie an, dass sie ihre „Hühner“ nicht unbeaufsichtigt allein im Zimmer zurücklassen könne. Die Pflegenden stellten daraufhin Spielzeughühner mit einem Gatter versehen in ihrem Zimmer auf. Als die Betroffene nun ihre Hühner geschützt im Gatter sah, war sie erleichtert und konnte ihr Zimmer verlassen (persönliche Mitteilung).

Es überrascht, mit welcher Erfindungsgabe und Kreativität Pflegende gravierende Problemlagen und zugleich auch Krankheitssymptome wie Halluzinationen und das Zwangsverhalten lösungsorientiert und äußerst wirksam zu behandeln verstehen. Interessant ist auch der Aspekt, dass hier illusionäre Verkennungen konkretisiert oder realisiert werden. Aus bloßen Trugbildern wird mittels Spielzeug ein konkretes reales Milieu geschaffen, das den Betroffenen Halt und Sicherheit zu vermitteln vermag.

Disinhibitive Verhaltensmuster

In Blog 49 wird beschrieben, dass auch bei anderen demenztypischen Krankheitssymptomen Ansätze der Ermöglichungsstrategie Verwendung finden, wenn auch in modifizierter Form. Während bei dem zwangsähnlichen Drangverhalten ein striktes Verhaltensmuster aus der Lebensphase vor der Erkrankung (Altbiografie) den Orientierungsrahmen bildet, gilt es bei Symptomen eines unkontrollierten und enthemmten Verhaltens (disinhibitive Verhaltensmuster) zentral um die Umlenkung des Bewegungsdranges in eine Richtung, die für die Betroffenen ohne Leidensdruck und Belastung sind. Durch diese Form der Verhaltensregulierung wird meist Zufriedenheit und Wohlbefinden bei den Demenzkranken hervorgerufen. Im Folgenden werden disinhibitive Verhaltensweisen Demenzkranker und deren Behandlung bzw. Beeinflussung gemäß den Strategien der Ermöglichungsstrategie und der Eigenweltgestaltung anhand von konkreten Beispielen dargestellt:

Eine Demenzkranke neigte zu ständigem Stöhnen und Schreien, ohne dass man eine körperliche Erkrankung bzw. Schmerzen feststellen konnte. So wurde daraufhin der Betroffenen eine Tätigkeit offeriert: Geschirr abwaschen, abtrocknen und anschließend stapeln. Diese Tätigkeiten wurden von ihr dann stundenlang ohne Pause ausgeführt (Bowlby Sifton 2007: 101).

Einer Bewohnerin, die gern zu bügeln schien, wurden Kleidungsstücke und Bügeleisen zur Beschäftigung angeboten. Den ganzen Tag über war sie mit dieser Arbeit beschäftigt (Röse 2017: 325).

Eine ehemalige Verkäuferin eines Bekleidungsgeschäftes kramte ständig überall im Wohnbereich in den Schränken herum. Ihr wurde daraufhin ein spezieller Kleiderschrank mit Utensilien zum Aus- und Einräumen und Sortieren in ihr Zimmer gestellt (Czerwinski 2005: 25).

Eine Demenzkranke lief ständig kritisierend im gemeinsamen Haushalt ihrer Schwiegertochter hinterher. Sie erhielt daraufhin einen großen Stapel Wäsche, die sie stundenlang faltete (Mace et al. 2001: 178).

Diese Beispiele zeigen, dass stereotype Verhaltensmuster, die oft mit Belastungen für die Betroffenen und auch für ihr unmittelbares soziales Umfeld verbunden sind, positiv zu beeinflussen sind. Es gilt nur, möglichst ein lebensgeschichtlich vertrautes Handlungssegment mit den dafür erforderlichen Utensilien den Betroffenen zur Beschäftigung anzubieten.

Literatur

  • Bowlby Sifton, C. (2007) Das Demenz-Buch. Ein „Wegbegleiter“ für Angehörige, Pflegende und Aktivierungstherapeuten. Bern: Verlag Hans Huber
  • Czerwinski, A. (Hrsg.) (2005) Demenz. Kissing: Weka Media
  • Mace, N. et al. (2001) Der 36-Stunden-Tag: Die Pflege des verwirrten älteren Menschen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Röse, K. M. (2017) Betätigung von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim. Bern: Hogrefe
  • Siegler, R. et al. (2016) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Sven.Lind@web.de). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

Ein Gedanke zu “Positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker (Teil 6)”

  1. Sehr geehrter Herr Doktor Lind, manchmal erweist sich ein bisschen krank zu sein als positiv, da ich jetzt in ihre Ausführungen intensiv eingestiegen bin.
    Ich Jahrgang 45betreue seit anderthalb Jahren ein alleinstehendes Freundesehepaar ; den Todkranken Ehemann habe ich bis in den Tod begleitet, seine an Alzheimer erkrankte Frau Jahrgang 42, für die ich jetzt die Betreuungsvollmacht habe, weiterhin. Hilfreich dabei ist mir mein jahrzehntelang mit Engagement ausgeübter Beruf als Apothekerin, als Vorsitzende des von mir mit gegründeten Förderkreises des Altenheims der Alexianer in Wolbeck, in dem sie jetzt lebt, meine Betreuungserfahrungen im Familienbereich.Ich bedanke mich für Ihre Beiträge, die mir wichtige Ergänzung meines Wissens werden und Bestätigung, richtig zu handeln.Gleichwohl ist die Differentialdiagnose bei meiner Betreuten nicht zuende geführt worden, was für die jetzige Situation eher unwichtig ist. Sie wird weiter von der Gerontopsychiaterin betreut.Ich sehe, wie enorm wichtig mein persönliches Kümmern ihr ein Weiterlebenwollen ermöglicht.Ich versuche durch vielseitige Aktivierung für den Erhalt ihrer Kapazitäten.(Tischharfenspiel mit Musikgeragoin (die wir für das Heim vom Förderverein finanzieren) was sie liebt, Buchlesen und Gespräch,( früher ihre Leidenschaft) Einstreuung von ihr noch möglichen Highlights, Ermunterung zu Selbstvertrauensstärkung gebenden Telefonaten (Gegen den Wort- und Sprachverlust) …sie auch emotional stabil zu halten.Es ist erstaunlich—oder auch nicht—zu sehen, wie Gedächtnis auch bei Alzheimer funktionieren kann.
    Danke

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