Der Abbauprozess der Alzheimer-Demenz (Teil 5)

Geschätzte Lesedauer: 3 Minuten

Der Abbauprozess der Alzheimer-Demenz (Teil 5) ist der Inhalt des 82. Blogs. Es werden Diskonnektions- und Disinhibitionsstörungen als Krankheitssymptome angeführt.

Interozeptive diskonnektive Selbstwahrnehmungsstörungen

In Blog 71 werden interozeptive diskonnektive Selbstwahrnehmungsstörungen angeführt. Dabei handelt es sich Empfindungsstörungen der Innen- oder Binnenreize der Körperorgane, also innerorganische Prozesse, die der Interozeption zugeordnet werden. Diese Störungen können teils zu massiven körperlichen Beeinträchtigungen führen, wie im Folgenden gezeigt wird.

Fehlende Krankheitseinsicht

Die fehlende Krankheitseinsicht (Anosognosie) äußert sich bei Demenzkranken in der Überzeugung, noch selbständig und fit zu sein und somit auch keine Hilfestellung bei der Körperpflege und dem Ankleiden zu benötigen (Lind 2007: 121, siehe Blog 1). Die fehlende Krankheitseinsicht ist ein Symptom vieler neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen (Schröder 2006, Lind 2011: 171). Es handelt sich hierbei um eine Selbstwahrnehmungsstörung; sie kann als eine Störung in der Verarbeitung innerer Reizkonstellationen (dysfunktionale Interozeption) klassifiziert werden (siehe Blog 6).

Falsche Körperwahrnehmung

In Blog 7 wird die Empfindungsstörung „falsche Körperwahrnehmung“ anhand eines Fallbeispiels bezüglich der Sturzgefährdung beschrieben. Auch hierbei handelt es sich um eine Wahrnehmungsstörung der Innen- oder Binnenreize der Körperorgane(Interozeption – siehe Blog 6). In dem angeführten Fall versucht ein Demenzkranker aufzustehen, obwohl er bereits geh- und stehunfähig ist. Umgangssprachlich lässt sich diese Symptomatik wie folgt ausdrücken: Hirn und Knie sind nicht mehr angemessen neurophysiologisch miteinander verschaltet.

Fehlende Körperwahrnehmung

In Blog 7 wird auch die interozeptive Wahrnehmungsstörung „fehlende Körperwahrnehmung“ an einem Beispiel erläutert. Die fehlende Körperwahrnehmungsfähigkeit besagt, dass das Hirn die Minderleistungen des Gesamtorganismus nicht mehr angemessen zu verarbeiten vermag. In dem angeführten Beispiel wandert der Demenzkranke regelrecht bis zum Umfallen. Die massive körperliche Erschöpfung dringt krankheitsbedingt nicht mehr ins Bewusstsein des Betroffenen. Es droht somit eine Sturzgefährdung, denn es fehlt konkret das schützende neurophysiologische Regulativ, mit dem Wandern aufzuhören.

Gestörtes oder fehlendes Durst- und Hungerempfinden

Eine weitere interozeptive diskonnektive Wahrnehmungs- und damit Empfindungsstörung ist das gestörte und teils fehlende Durst- und Hungerempfinden. Diese Krankheitssymptomatik ist von herausragender Bedeutung für die Pflege, geht es doch hierbei u. a. auch um die lebensbedrohliche Symptomatik der Austrocknung (Dehydration, Exsikkose).

Enthemmung (Disinhibition)

In Blog 49 werden disinhibitive Verhaltensmuster (vorläufiger Arbeitsbegriff) beschrieben. Denn durch den Abbau der Nervenzellen geht im fortgeschrittenen Stadium die Kontrolle über Bewegungsimpulse verloren, die zu Phänomenen der Enthemmung und zu Verhaltensautomatismen führen. Ständige Putzbewegungen ohne Realbezug, Schreien oder Rufen ohne Verursachung durch Umwelteinflüsse, stundenlanges zielloses Wandern bis zur völligen Erschöpfung sind demenzspezifische Krankheitssymptome, die nicht bei allen aber doch bei einem merklichen Anteil der Demenzkranken festzustellen sind.

Neurophysiologisch und auch neurodegenerativ lässt sich dieses Krankheitssymptom wie folgt erklären: Das „Bewegungsgedächtnis“ (u. a. das episodisch-prozedurale Langzeitgedächtnis) ist im schweren Stadium noch intakt, da hier tieferliegende Hirnareale wirksam sind. Die Hirnbereiche im Großhirn, die für die Steuerung, Kontrolle und damit auch Unterdrückung dieser Bewegungsimpulse zuständig sind, sind bereits abgebaut. So entstehen u. a. Verhaltensautomatismen, Kontrollverluste und Symptome der Enthemmung (Disinhibition).

Im Folgenden werden disinhibitive Verhaltensweisen Demenzkranker und deren Behandlung bzw. Beeinflussung gemäß den Strategien des Verdinglichungsansatzes und der Demenzweltgestaltung anhand von konkreten Beispielen dargestellt:

Eine Demenzkranke neigte zu ständigem Stöhnen und Schreien, ohne dass man körperliche Erkrankung bzw. Schmerzen feststellen konnte. So wurde der Betroffenen eine Tätigkeit offeriert: Geschirr abwaschen, abtrocknen und anschließend stapeln. Dies machte sie stundenlang ohne Pause (Bowlby Sifton 2007: 101).

Einer Bewohnerin, die gern zu bügeln schien, wurden Kleidungsstücke und Bügeleisen zur Beschäftigung angeboten. Den ganzen Tag über war sie mit dieser Arbeit beschäftigt (Röse 2017: 325).

Eine ehemalige Verkäuferin eines Bekleidungsgeschäftes kramte ständig überall im Wohnbereich in den Schränken. Ihr wurde ein spezieller Kleiderschrank mit Utensilien zum Aus- und Einräumen und Sortieren in ihr Zimmer gestellt (Czerwinski 2005: 25).

Eine Demenzkranke lief ständig kritisierend im gemeinsamen Haushalt ihrer Schwiegertochter hinterher. Sie erhielt daraufhin einen großen Stapel Wäsche, die sie stundenlang faltete (Mace et al. 2001: 178).

Diese Beispiele zeigen, dass stereotype Verhaltensmuster, die oft mit Belastungen für die Betroffenen und auch für ihr unmittelbares soziales Umfeld verbunden sind, positiv zu beeinflussen sind. Es gilt nur, ein lebensgeschichtlich vertrautes Handlungssegment mit den dafür erforderlichen Utensilien den Betroffenen zur Beschäftigung anzubieten (siehe auch Blog 7).

Literatur

  • Bowlby Sifton, C. (2007) Das Demenz-Buch. Ein „Wegbegleiter“ für Angehörige, Pflegende und Aktivierungstherapeuten. Bern: Verlag Hans Huber
  • Czerwinski, A. (Hrsg.) (2005) Demenz. Kissing: Weka Media
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Mace, N. et al. (2001) Der 36-Stunden-Tag: Die Pflege des verwirrten älteren Menschen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Röse, K. M. (2017) Betätigung von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim. Bern: Hogrefe
  • Schröder, S. G. (2006) Psychopathologie der Demenz. Symptomatologie und Verlauf dementieller Erkrankungen. Stuttgart: Schattauer

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