Der Abbauprozess der Alzheimer-Demenz (Teil 6)

Geschätzte Lesedauer: 4 Minuten

Der Abbauprozess der Alzheimer-Demenz (Teil 6) ist der Inhalt des 83. Blogs. Es werden geistige Entkernungssymptome beschrieben.

Vorbemerkungen

Der krankhafte Abbauprozess bei neurodegenerativen Demenzen wie der Alzheimer-Demenz ist in der Regel mit dysfunktionalen Wahrnehmungs- und Verhaltensverzerrungen verbunden. Hirnareale sind nur noch unterschiedlich intakt und entsprechend funktionsfähig. Das komplexe Verflechtungsgefüge der Hirnaktivitäten, das sich vor allem in der Person-Umwelt-Passung zeigt, geht zunehmend verloren. Gemäß dem Verlauf des Abbaus entgegengesetzt der Hirnreifung (Blog 75) gehen zuerst die geistigen Kompetenzen verloren, die teils auch als Exekutivfunktionen bezeichnet werden. Im Frontalbereich der Großhirnrinde sind sie lokalisiert. Die Exekutivfunktionen umfassen u. a. das Planen, Durchführen und Kontrollieren der Handlungen. Das bedeutet u. a. die Kompetenzen eines Arbeitsgedächtnisse, die Fähigkeit einer Aufmerksamkeitskontrolle, die Antizipation und Auswahl von Handlungszielen und auch die Evaluation von Rückmeldungen (Ullsperger et al. 2012: 586).

Wenn nun diese geistigen Kompetenzen schrittweise ihre volle Funktionsfähigkeit aufgrund des Abbauprozesses verlieren, während zugleich andere und noch nicht funktionsbeeinträchtigte Areale des Gehirns wie der limbische Bereich und das Kleinhirn noch wirksam und funktionsfähig sind, dann entstehen fast schon automatisch Zustände der Verwirrung und Verzerrung. In Blog 81 wurde z. B. gezeigt, was es bedeutet, wenn die Sinnesorgane noch funktionsfähig sind, aber das Erkennen des Gesehenen nicht mehr möglich ist (visuelle Agnosie). In Blog 49 und in Blog 82 sind Phänomene aufgezeigt worden, die belegen, was geschieht, wenn das Hirn nicht mehr angemessen Bewegungen steuern und damit zugleich kontrollieren kann (Enthemmung, disinhibitive Verhaltensmuster). Diese dysfunktionalen Wahrnehmungs- und Verhaltenseinbußen sind deutlich sichtbar, sie lassen sich leicht auch von Außenstehenden als demenzspezifische Krankheitssymptome klassifizieren.

In diesem Blog nun werden ergänzend demenzspezifische Verhaltensweisen beschrieben, die auf den ersten Blick unauffällig und alltäglich erscheinen, bei genauerer Überprüfung hingegen eine krankhafte demenzspezifische Komponente enthalten. Diese Verhaltensweisen können als „geistige Entkernungssymptome“ (vorläufiger Arbeitsbegriff) bezeichnet werden.

Die geistige Entkernungssymptomatik

Als geistig entkernte Verhaltensmuster werden Handlungsmuster bezeichnet, die zwar noch vollständig und teilweise auch funktionsfähig sind, die aber von den handelnden Personen in ihrer Sinnhaftigkeit und Funktionsfähigkeit nicht mehr geistig erfasst werden können. Hier gilt wahrlich der Bibelspruch „Denn sie wissen nicht, was sie tun“.

Zur Erläuterung kann hier die Unterteilung der Exekutivhandlungen in automatisiertes und in überlegt kontrolliertes Geschehen angeführt werden (Perry et al. 1999). So funktioniert z. B. im frühen Stadium der Demenzerkrankung das routinierte und damit überwiegend automatisierte Eindecken des Tisches noch vollständig, doch das Backen eines Kuchens wird bereits nicht mehr gelingen, denn hierbei sind u. a. Planung, Aufmerksamkeit und Kontrolle erforderlich, also klassische Exekutivfunktionen.

Ein weiteres Beispiel für automatisiertes Handeln ist das Singen eines Liedes mit mehreren Strophen und das Klavierspielen. Es kann noch fast fehlerlos gelingen, doch wenn die Akteure anschließend gefragt werden, was sie gerade gesungen oder gespielt haben, dann sind sie mit diesen Fragen überfordert und können entsprechend auch nicht antworten.

Auch beim Sprechen und Reden werden die geistigen Minderleistungen meist auf den ersten Blick nicht deutlich merkbar, denn auch das Reden lässt sich in automatisiertes und damit konditioniertes Sprechen und in das reflektierte Sprechen unterscheiden (Hodges 2006). Bei längerem Zuhören fällt jedoch deutlich auf, dass neben einer Floskelhaftigkeit zum Beispiel die Inhalte ständig wiederholt werden (der Schallplattenvergleich).

„Demenzgespräche“

Bei Demenzkranken kann man des Weiteren einen deutlichen Wandel in der Funktion und Wirkung der Gespräche im Rahmen des geistigen Entkernungsprozesses feststellen. Anstelle des Austausches von Informationen steht hier der Austausch von gegenseitiger Bestätigung und Stärkung im Mittelpunkt. Es sind gewissermaßen nur noch „Halb-Gespräche“ oder typische „Demenzgespräche“, denn das Vermögen einer gedanklichen Erfassung der Inhalte ist bis auf wenige Reste verloren gegangen. Es bleibt somit meist nur noch die «Beziehungshälfte» der Gespräche.

Den Betroffenen wird diese Unvollständigkeit des verbalen Geschehens nicht bewusst, denn sie genießen das sprachliche Miteinander, die für sie Anregung, soziale Bestätigung und Abwechslung zugleich sind. Eine Reihe von Erhebungen und auch die tägliche Beobachtung in den Heimen belegen diese Fertigkeit. Svenja Sachweh beschreibt ihre Erfahrungen: „Das Erstaunliche daran ist oft, dass sie instinktiv die Sprechweise (Klang, Sprachmelodie) des Gegenübers imitieren und sich ausgezeichnet in seine Stimmung einfühlen können. Man kann auch immer wieder beobachten, dass Demente selbst im fortgeschrittenen Krankheitsstadium um der Freude am Gespräch willen miteinander kommunizieren, auch wenn es ihnen vollkommen unmöglich ist, sich inhaltlich zu verständigen.“ (Sachweh 2002: 256, siehe auch Lind 2007: 172ff).

Für die Demenzpflege ist in diesem Rahmen entkernter Verhaltensweisen das Faktum von Bedeutung, ob das Verhalten beobachtungs- und eventuell auch interventionsbedürftig ist. Das entscheidende Kriterium hierbei ist der Leidensdruck.

Hinweise für die Praxis

Das Gesicht wahren wollen, die Fassade noch intakt halten, das sind angeborene Verhaltensmuster des Menschen. Gilt es doch, als Gruppenmitglied noch weiterhin Anerkennung und Respekt der anderen zu erhalten, obwohl das körperliche und geistige Vermögen bereits krankhaft eingeschränkt ist. Und dieses Bedürfnis, noch als vollwertiges Familienmitglied zu gelten, erschwert der sozialen Umwelt, die richtige Einschätzung der geistigen Leistungsfähigkeit der Betroffenen.

Dieses Fassadierungsverhalten zeigt sich zum Beispiel, wenn es mit dem Kuchenbacken nicht mehr so recht klappen kann. Die Betroffene wird aller Wahrscheinlichkeit nicht eingestehen, dass sie aufgrund der fehlenden Exekutivfunktionen nicht mehr zum Backen in der Lage ist. Sie wird eher ihrer Tochter erklären, dass die Kuchen im Supermarkt jetzt so günstig zu kaufen sind, so dass sich das Backen einfach nicht mehr lohne. Oder wenn eine Demenzkranke nach vielen Jahrzehnten Stricken und Häkeln von heut auf morgen kundtut, dass sie nicht mehr stricken würde, da es doch nun im Kaufhaus ständig äußerst preiswerte Sonderangebote gäbe.

Bei alleinlebenden alten Menschen sollte bei Besuchen darauf geachtet werden, ob komplexere und altvertraute Handlung wie das Backen oder Stricken noch praktiziert werden. Wenn auf diese Tätigkeiten verzichtet wird, kann es ein Hinweis darauf sein, dass sie nicht mehr ausgeführt werden können.

Literatur

  • Hodges, J.R. (2006) Alzheimer’s centennial legacy: origins, landmarks and the current status
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Perry, R. J. et al. (1999) Attention and executive deficits in Alzheimer’s disease. A critic review. Brain, 122: 383-404
  • Sachweh, S. (2002) «Noch ein Löffelchen?». Effektive Kommunikation in der Altenpflege. Bern: Verlag Hans Huber
  • Ullsperger, M. et al. (2012) Funktionen frontaler Strukturen. In: Karnath, H.-O. und Thier, P. (Hrsg.) Kognitive Neurowissenschaften, Berlin: Springer (585 – 594)

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