Positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker (Teil 3)

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Positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker (Teil 3) sind der Inhalt des 100. Blogs. Es werden Gegenstände als psychische Stabilisierungselemente angeführt.

Vorbemerkungen

In Blog 98 und Blog 99 ist das Spektrum des unbewussten selbststabilisierenden Verhaltens und Wahrnehmens Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium dargestellt. Es handelt sich dabei teilweise um Phänomene der Selbstwahrnehmungsstörung (fehlende Krankheitseinsicht), der Wahrnehmungsstörungen bzw. Wahrnehmungsverzerrungen (Stabilisierungshalluzinationen) und um Phänomene aus dem Bereich der Realitätsverkindlichung (positive Umdeutungen).

In diesem Blogelement stehen therapeutische Interventionen im Mittelpunkt, die wesentlich zur psychischen Stabilisierung der Gemütslagen beitragen. Teilweise handelt es sich dabei um Anregungen und Hilfestellungen, die das psychosoziale Gleichgewicht und damit auch das Wohlbefinden stärken.

Gegenstände zur psychischen Stabilisierung

Positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker bestehen vorrangig aus mitfühlenden Mitarbeitern. Doch auch bloße Gegenstände können zur psychischen Stabilisierung beitragen. Die Wirkkraft von Gegenständen auf die Psyche dieser Personengruppe ist u. a. im Rahmen des Verdinglichungskonzeptes (Blog 46 und Folgende) und des Vollständigkeitskonzeptes (Blog 54 und Folgende) nachgewiesen worden. In den folgenden Abschnitten werden einige Sachverhalte und Fallbeispiele angeführt.

Alltagsutensilien

In Blog 52 wird die Bedeutung von Alltagsutensilien für die psychische Stabilität Demenzkranker dargestellt. So besitzen Handtaschen und oft auch Aktentaschen für Demenzkranke nicht nur die Funktion als Mittel für eine sinnvolle Eigenbeschäftigung, wenn es gilt, die Handtasche mit den erforderlichen Utensilien zu füllen und dies gelegentlich zu kontrollieren. Darüber hinaus haben Handtaschen nach Aussagen der Pflegenden auch eine beruhigende Wirkung. Diese Empfindungen lassen sich mit den lebensgeschichtlichen Erfahrungen erklären, denn in der Handtasche waren in der Regel die wichtigsten Gegenstände wie Geldbörse und Hausschlüssel aufgehoben. Aber auch Schminkutensilien wie Taschenspiegel, Lippenstift und Puderdöschen wurden in der Handtasche mitgeführt. Die Gewissheit, die Handtasche bei sich zu haben, vermittelte das Gefühl der Sicherheit, denn in der Tasche waren die wichtigen Gegenstände für die Bewältigung des Alltags außerhalb des eigenen Haushaltes enthalten (Lind 2007: 197).

Praktische Hinweise: Beim Geld sollte bis auf kleinere Münzen „fiktives Geld“ (Spielzeuggeld u. a.) verwendet werden, denn es wurde bereits mehrmals beobachtet, dass gültige Geldscheine als Toilettenpapier fehlgedeutet und entsprechend verwendet wurden. Ebenso hält es sich mit Schlüsseln, auch hier sollten nicht mehr verwendbare Schlüssel zur Verfügung gestellt werden. Gemäß den Erfahrungen aus dem Alltag in den Heimen sollten möglichst immer Reservehandtaschen und Geldbörsen zur Verfügung stehen, damit bei dem häufigen Verlegen oder Verlieren immer gleich Ersatz angeboten werden kann. Das vermindert die Aufregung und den Leidensdruck bei den Betroffenen (Lind 2011: 207).

Kleidung

In Blog 31 wird auf den Stellenwert der Kleidung eingegangen, denn Kleidung ist für die meisten Menschen von großer Bedeutung. Das gilt auch für Demenzkranke, auch sie legen Wert auf ihr Äußeres. Kleidungsstücke besitzen für Demenzkranke in besonderen Fällen darüber hinaus auch die Funktion eines Schlüsselreizes, wie folgendes Beispiel zeigt:

Beispiel: Einem Bewohner konnte man nie so richtig erklären, dass ein Spaziergang bevorstand. Die Worte sagten ihm gar nichts und er blickte die Pflegende nur fragend an. Setzte man ihm jedoch seinen Hut auf, den er immer außerhalb des Hauses trug, dann wusste er Bescheid (Lind 2007: 79).

Den Stellenwert der lebensgeschichtlich vertrauten Kleidung für Demenzkranke kann man auch deutlich erkennen, wenn hierauf keinerlei Rücksicht genommen wird. Die folgenden Negativbeispiele zeigen, wie unwohl sich die Betroffenen fühlen, wenn sie nicht ihre gewohnte Kleidung (die „zweite Haut“) tragen können:

Negativbeispiele: Ein Demenzkranker verhielt sich sehr unruhig als man ihm anstelle seiner vertrauten Kleidung (Hemd und Krawatte) ein Polohemd anzog. Die Unruhe verschwand augenblicklich, als er wieder Hemd und Krawatte tragen durfte (Bowlby Sifton 2007). – Eine Demenzkranke zog ihre Hosen immer wieder aus. Sie hatte früher ausschließlich Röcke getragen (persönliche Mitteilung).

Lebensgeschichtlich bedeutsame Gegenstände

Lebensgeschichtlich bedeutsamen Gegenständen besitzen in der Regel nicht nur einen funktionalen Aspekt, sondern sie bilden teils durch den lebenslangen Gebrauch eine emotionale Stütze, denn es sind äußerst vertraute Dinge, sie gehören somit zum Lebens dazu (siehe Blog 52).

Die Wanduhr

Einer Bewohnerin, die sich während ihrer Eingewöhnungsphase aus Unsicherheit nicht ins Gemeinschaftszimmer traute, konnte die Furcht genommen werden, als ihre vertraute Wanduhr von der Tochter ins Heim geschafft wurde. Die Uhr stellte man ins Gemeinschaftszimmer und gleich daneben war dann ihr Platz (Lind 2011: 105).

Der Emailbecher

Ein Demenzkranker trinkt nicht aus seiner Tasse. Als bekannt wurde, dass er jahrzehntelang immer aus einem Emailbecher seinen Kaffee getrunken hat, wurde ihm solch ein Trinkgefäß angeboten, aus dem er dann auch ohne zu zögern trank (Lind 2011: 125).

Gegenstände als Elemente des Vollständigkeitskonzeptes

In Blog 55 wird darauf verwiesen, dass Beobachtungen in den Pflegeheimen wiederholt gezeigt haben, dass Demenzkranke nicht nur nach Angehörigen oder manchmal auch vertrauten Mitbewohnern verlangen und auch die Suche nach ihnen aufnehmen, sondern dass auch bestimmte Gegenstände, die ihnen im episodischen Langzeitgedächtnis noch präsent sind, eingefordert werden. Fehlen diese Gegenstände, dann fehlt oft für die Betroffenen das ausreichende Maß an der Person-Umwelt-Passung. Konkret äußert sich dieses Erleben des Fehlenden und damit Unvollständigem u. a. auch in Handlungsblockaden. Das bedeutet konkret, für bestimmte Handlungen fehlt dann der erforderliche Impuls.

Vertraute Alltagsgegenstände

Es liegen Erfahrungen aus den Pflegeheimen vor, dass vertraute Gegenstände als Auslöse- oder Schlüsselreize bei der Mahlzeiteneinnahme fungieren, wie die folgenden Beispiele zeigen (Lind 2011: 280f):

  • Auf dem Frühstückstisch muss immer der vertraute Brotkorb stehen, andernfalls fehlt die Bereitschaft zur Nahrungsaufnahme.
  • Eine alte Bäuerin verlangt zum Frühstück immer ihren Krug Milch.
  • Es wird von Bewohnern berichtet, die nur mit dem eigenen Geschirr oder Besteck, teils Erbstücke, die Mahlzeiten einnehmen.
  • Beobachtet wird auch, dass Demenzkranke nur ein bestimmtes Besteck wie z. B. einen kleinen Löffel und ein Messer benutzen, weil sie so früher während der Arbeit ihre Mahlzeiten eingenommen haben.

Diese Fallbeispiele zeigen eindringlich, dass Auslösereize für ein bestimmtes Verhalten nicht nur aus vertrauten Handlungen wie z. B. ein Gebet, sondern auch aus vertrauten Gegenständen bestehen können (siehe Blog 13). Konkrete vertraute Gegenstände als Auslösereize belegen somit den Sachverhalt, wie komplex Lebensgewohnheiten und Prägungen aus der Zeit vor der Erkrankung die Erwartungen und damit das Alltagsverhalten bestimmen (siehe Blog 31).

Wie genau manchmal nach diesen Erinnerungen die neue Umgebung im Heim ausgerichtet werden muss, zeigt ein Beispiel, wobei das Bewohnerzimmer im Heim erst als das eigene akzeptiert wurde, nachdem die Familienfotos genau wie vorher im häuslichen Bereich an der Wand hingen (Bowlby Sifton 2007: 222).

Literatur

  • Bowlby Sifton, C. (2007) Das Demenz-Buch. Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Sven.Lind@web.de). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

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