Positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker (Teil 2)

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Positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker (Teil 2) sind der Inhalt des 99. Blogs. Es werden weitere unbewusst stabilisierende Verhaltensweisen angeführt.

Vorbemerkungen

Selbststabilisierende Wahrnehmungen und Verhaltensweisen bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium können als Schnittstellen von neurodegenerativen Abbauprozessen in Gestalt von Symptomen der Realitätsverkindlichung und Persönlichkeitseigenschaften interpretiert werden (siehe Blog 72, Blog 73 und Blog 74). Die Realitätsverkindlichung verweist auf die kindliche Naivität hin, also die Welt unbelastet, unbeschwert und damit freudig wahrzunehmen. Diese Naivität speist sich größtenteils aus der Emotionalisierung im Erleben der Umwelt.

In den folgenden Abschnitten werden diese Symptome einer Realitätsverkindlichung anhand von Fallbeispielen deutlich aufgezeigt. Es gilt hier die Regel, dass wenn der Demenzkranke vergisst, dass er vergisst, dann hat er das schwere Abbaustadium erreicht. Und befindet sich damit zugleich im Stadium der zunehmenden Realitätsverkindlichung. Dieses Stadium zeichnet sich im Gegensatz zu den vorhergehenden Stadien durch ein deutlich vermindertes Ausmaß an Depressivität aus (Lind 2007: 60).

Positive Umdeutungen

In Blog 58 wird gezeigt, dass unbewusste positive Umdeutungen des räumlichen und sozialen Umfeldes u. a. dazu dienen, eine Vertrautheit mit den Gegebenheiten im Sinne einer unbewussten Selbststabilisierung herzustellen. Der Alltag im Heim mit den Routinen und Personen wird positiv gedeutet, umgangssprachlich kann hier von der „rosa Brille“ gesprochen werden, durch die man das Geschehen betrachtet. Folgende Beispiele belegen diese positive Weltsicht.

Mitbewohner und Mitarbeiter

Zur psychosozialen Stabilisierung der Demenzkranken trägt bei, wenn sie Mitarbeiter in den Heimen zu verwandten oder vertrauten Personen umwidmen – z. B. „Sohn“ oder „Cousine“. Die zu Besuch kommende Tochter wird dann auch zur „Mutti“ erklärt und aus den Mitbewohnern werden jahrzehntelang vertraute Freunde (Röse 2017: 217f). Diese Umdeutungen verweisen auf das starke Bedürfnis und Verlangen der Erkrankten nach Sicherheit und Geborgenheit. Unbewusst produziert im fortgeschrittenen Stadium das Hirn noch die hierfür erforderlichen Wahrnehmungsimpulse, so wird dann der doch relativ anonyme Heimbetrieb in einen erweiterten Familienverbund nebst Nachbarschaft umgedeutet bzw. fantasiert (Blog 58).

Der Vollständigkeit halber muss in diesem Zusammenhang darauf verwiesen werden, dass Demenzkranke auch die Wahrnehmungsstörung einer so genannten „negativen Verwechselung“ zeigen. Bei einer „negativen Verwechselung“ werden Mitarbeiter und auch Mitbewohner meist aufgrund einer gewissen Ähnlichkeit für eine Person aus der Lebensgeschichte der Demenzkranken verbunden mit negativen Erinnerungen gehalten, z. B. eine zänkische Nachbarin, eine unliebsame Kollegin oder eine Geliebte des Ehemanns. Diese Fehlidentifikation verursacht einen massiven emotionalen Stress bei den Betroffenen (Blog 39).

Örtlichkeiten

Ebenfalls wird in Blog 58 gezeigt, dass des Weiteren eine Wohlfühlatmosphäre bei den Demenzkranken entsteht, wenn die räumlichen und sozialen Gegebenheiten, das Milieu, in ihren Wahrnehmungen positiv besetzt werden. So kann dann z. B. das Heimgeschehen als das Treiben auf einem Kreuzfahrtschiff gedeutet werden (Camp 2015: 41). Oder die Bewohner identifizieren das Stationszimmer als ein Café, indem sie Kaffee bestellen und von den Keksen auf dem Tisch naschen (Czerwinski 2005: 22). Oft wird das Heim auch für ein Hotel oder eine Urlaubspension gehalten. Das wird dann immer recht deutlich, wenn die Demenzkranken klagen, dass sie Logis und Verpflegung nicht mehr bezahlen könnten (Röse 2017: 212f). Manchmal stehen sie dann mit gepacktem Koffer im Foyer und möchten „abreisen“.

Selbstbeschäftigung

In den Heimen wird beobachtet, dass sich Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium auch ohne Anleitung oder Anregung Dritter selbst beschäftigen. Sie sortieren z. B. ihre Wäschestücke im Zimmer oder schauen aus dem Fenster und beobachten das Geschehen auf der Straße. Oder sie sitzen nur sinnierend in ihrem Sessel. Es werden wiederholt auch Bewohner beobachtet, die nur wandern, jedoch ohne Hektik und Stresssymptome. Hier bestehen teils Parallelen zum Verhalten Hochbetagter ohne demenzielle Erkrankung, die auch ihren Tag überwiegend sitzend und in Gedanken versunken verbringen (Oswald 1996). Es bedarf jedoch des Hinweises, dass diese selbstorganisierten Verhaltensweisen im fortgeschrittenen Stadium der Demenz krankheitsbedingt relativ selten festzustellen sind (Blog 58).

Sozialverhalten

Auch das Sozialverhalten im fortgeschrittenen Stadium zeigt Symptome der Realitätsverkindlichung. Die Demenzkranken sind im Umgang mit den Mitarbeitern und Mitbewohnern meist offen und freundlich und damit kindlich unbedarft.

Prosoziales Verhalten

Untersuchungen haben ergeben, dass Demenzkranke oft prosoziales Verhalten zeigen: sie helfen sich z. B. beim Brötchen schmieren, die Jacke ausziehen oder Schuhe anziehen; sie weisen sich Plätze zu und schenken sich bei Tisch ein; sie machen auch vieles gemeinsam wie Herumwandern oder am Tisch sitzen. Sie trösten sich und sprechen sich gegenseitig Mut zu (Röse 2017: 271ff). Und sie führen ihre „Demenzgespräche“ (Lind 2007: 172f, Röse 2017: 253) (Blog 60).

Beobachtungen haben gezeigt, dass bei diesem zwischenmenschlichen Geschehen oft demenzspezifische Aspekte mit hineinspielen, die sich u. a. in einer strikten Rollenverteilung äußert. Eine Demenzkranke ist in der Regel in der dominanten und damit impulsgebenden Position; sie bemuttert z. B. ihre Mitbewohnerin. Oder sie fordert ihre Mitbewohnerin zum Wandern auf. Die mitwirkende Demenzkranke fügt sich in dieses Sozialgefüge und macht einfach mit. Derartiges Verhalten kann auch bei Kleinkindern beim Spielen beobachtet werden.

Nähe suchen

Erfahrungen der Pflegenden, die von einschlägigen Untersuchungen bestätigt werden, weisen darauf hin, dass die physische Nähe der Pflegenden eine beruhigende und Geborgenheit vermittelnde Wirkung bei den Demenzkranken hervorruft. So ist oft beobachtet worden, dass Bewohner ihre Pflegenden bei der Verrichtung pflegeferner Handlungen wie Dokumentation, Medizin stellen oder Telefonate führen beobachten und teilweise auch versuchen, hierbei Kontakt aufzunehmen. Dies geschieht u. a. durch Winken, Ansprechen, Berühren und Streicheln. Dieses Verhalten kann dahingehend interpretiert werden, dass es für die recht hilflosen und unselbstständigen Bewohner von großer Bedeutung ist, ihre Hauptbezugspersonen im Nahbereich erleben zu dürfen. Die Erfahrung, diese wichtigen Personen sehen, hören und eventuell auch berühren zu können, vermittelt ihnen die Gewissheit, nicht allein und damit ungeschützt zu sein (Lind 2007: 61 und 195, Röse 2017: 267f) (Blog 60).

Literatur

  • Camp, C. J. (2015) Tatort Demenz – Menschen mit Demenz verstehen. Bern: Hogrefe Verlag
  • Czerwinski, A. (Hrsg.) (2005) Demenz. Kissing: Weka Media
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Oswald, F. (1996) Hier bin ich zu Hause. Zur Bedeutung des Wohnens. Regensburg: S. Roderer Verlag
  • Röse, K. M. (2017 Betätigung von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim. Bern: Hogrefe

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Sven.Lind@web.de). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

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