Furcht und Unruhe der Demenzkranken (Teil 6)

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Furcht und Unruhe der Demenzkranken (Teil 6) ist der Inhalt des 96. Blogs. Es werden Krankheitssymptome bezogen auf die Alt- und Neubiografie angeführt.

Vorbemerkung

In Blog 94 und in Blog 95 wurde gezeigt, wie durch Strategien der Eigenweltgestaltung Unruhe und Furcht bedingt durch Gedächtnisinhalte der Altbiografie gebändigt werden konnten. Der Stress und die Dauerbelastung ließen sich durch das Erleben einer persönlich zugeschnittenen Eigenwelt beheben. In diesem Blog werden nun demenztypische Krankheitssymptome und deren therapeutische Beeinflussung dargestellt, die sowohl die Altbiografie als auch die Neubiografie betreffen und mit einem emotionalen Belastungserleben verbunden sind. Dadurch kann der Sachverhalt belegt werden, dass sowohl die Altbiografie als auch die Neubiografie bezüglich dem Erleben und Verarbeiten und zusätzlich bezüglich der wirksamen Behandlung denselben Wirkmechanismen unterliegen.

Die Altbiografie wird durch episodische und episodisch-prozedurale Gedächtnisinhalte aus der Zeit vor der Erkrankung u. a. in Gestalt von Gewohnheiten und Prägungen bestimmt, wie in Blog 31 ausführlich beschrieben ist. Diese Gewohnheiten und Prägungen des Erlebens und Verhaltens finden in der Eigenweltgestaltung ihre angemessene Berücksichtigung. Die Neubiografie beruht ebenfalls auf Gewohnheiten und Prägungen, die im Laufe der Erkrankung jedoch erst erworben worden sind. Im Idealfall zeigen sich diese neuen Gewohnheiten der Neubiografie in der Vorhersehbarkeit allen Geschehens in der unmittelbaren Umwelt, wie in Blog 90 dargelegt. Die neuen Gewohnheiten sind Beleg für ein Leistungsniveau, dass es seitens der Mitarbeiter gelungen ist, bei den Demenzkranken einen Prozess der Verinnerlichung aller wesentlichen äußeren Reizgefüge erbracht zu haben. Auf dieser Grundlage kann eine Person-Umwelt-Passung funktionieren. Unruhe und Furcht treten in diesem Kontext in der Regel dann nicht mehr so häufig auf.

Anhand der demenzspezifischen Krankheitssymptome Verallgemeinerungsunfähigkeit und fehlende Handlungskompetenz bezüglich Beginn und Beendigung einer Handlungskette wird der Sachverhalt erläutert, dass diese Minderleistungen sowohl im Bereich der Altbiografie als auch im Bereich der Neubiografie auftreten.

Unfähigkeit zur Verallgemeinerung

Die geistige Minderleistung der Unfähigkeit zur Verallgemeinerung führt zu einer Verengung oder Starrheit im Erkennen, die wiederum Ausgleichleistungen nach dem Prinzip der Beständigkeit in der Milieugestaltung erforderlich macht (Lind 2011: 95). Dieser Sachverhalt, dass äußere Reizgefüge nicht mehr angemessen und situationsgerecht wahrgenommen werden können, gilt sowohl für die Neubiografie als auch für die Altbiografie, wie folgende Fallbeispiele zeigen.

Neubiografie

In Blog 3 wird aufgezeigt, dass bei der Unfähigkeit zur Verallgemeinerung das Hirn die Leistungsfähigkeit verliert, bei geringen Abweichungen eines Reizgefüges (z. B. Bewohnerzimmer) das bestehende Gebilde noch angemessen zu erkennen. Wenn in einem Bewohnerzimmer eine geringe Abweichung vorgenommen wird, wie z. B. das Ersetzen einer roten Tagesdecke durch eine blaue, vermag der Bewohner nicht mehr das Zimmer als das seine zu erkennen. Er wird sich abwenden, sich auf die Suche nach seinem Zimmer machen und dadurch verunsichert und zugleich örtlich desorientiert sein. Ähnliche Beobachtungen wurden gemacht, wenn vertraute Pflegende Veränderungen an ihrem Äußeren vorgenommen haben: eine neue Frisur oder Haarfarbe, ein neuer Kittel u. a. In diesen Fällen fingen die Demenzkranken regelrecht an zu „fremdeln“, zeigten Symptome der Verunsicherung und des Rückzuges (Lind 2007: 95).

Altbiografie

Ebenso können Erfahrungen aus der Lebensphase vor der Erkrankung Anlass für die Symptomatik Verallgemeinerungsunfähigkeit darstellen. Hierbei können äußerst belastende Wahrnehmungsverzerrungen auftreten, wie das folgende Beispiel zeigt:

Eine Bewohnerin war bei der Körperpflege gegenüber einer Pflegekraft, die eine Brille trug, derart tätlich aggressiv, dass die Pflege von zwei Pflegenden durchgeführt werden musste. Eine lenkte die Bewohnerin ab, die andere pflegte. Hinweise von Angehörigen ergaben, dass die Betroffene vor ihrem Heimeintritt von der Schwiegertochter, die eine Brille trug, bei der Pflege ständig drangsaliert und schikaniert wurde. Daraufhin wurde die Bewohnerin nur noch von Pflegenden ohne Brille gepflegt. Die Folge war, dass sie sich ab sofort bei der Pflege umgänglich und kooperativ zeigte (Lind 2007: 79).

Schlüsselreize in der Pflege und Betreuung

Im fortgeschrittenen Stadium der Demenz verursachen neurodegenerative Abbauprozesse im präfrontalen Bereich des Großhirns, dass vertraute Handlungsmuster ohne externe Impulse wie Schlüsselreize (Initiierungs- und Abschlussreize u. a.) nicht vollzogen werden können. Dies gilt für Langzeitgedächtnisimpulse der Neu- und Altbiografie, wie die folgenden Fallbeispiele zeigen.

Neubiografie

In Blog 36 werden zwei Fallbeispiele angeführt, bei denen konditionierte Handlungsmuster abgebrochen und damit nicht vollständig vollzogen werden.

Beispiel 1: Die Pflegende eines ambulanten Pflegedienstes musste aufgrund eines Anrufs (Notfalleinsatz bei einer anderen Patientin) die Körperpflege dergestalt abkürzen, dass sie das Abschlussritual (Umarmung, Wangenkuss und Abschiedsworte) ausfallen ließ. Die zwei Stunden später eintreffende Tochter berichtete, dass ihre Mutter völlig aufgelöst und verwirrt gewesen wäre (persönliche Mitteilung).

Beispiel 2: Eine demenzkranke Heimbewohnerin wurde vormals im häuslichen Bereich von ihrem Ehemann gepflegt. Der Abschluss der Pflegeprozedur abends bestand aus dem Einreiben der Unterarme mit Franzbranntwein. Dieses Ritual wurde später auch im Heim praktiziert. Aus irgendeinem Anlass wurde einmal dieser Beendigungsreiz nicht ausgeführt. Die Folge war, dass die Betroffene stundenlang fast regungslos in ihrem Zimmer stand und auf die Abschlusshandlung wartete. Erst der Nachtwache fiel diese Gegebenheit auf (persönliche Mitteilung).

Es sind oft nicht nur konditionierte Handlungsmuster, die bei unvollständiger Durchführung u. a. Furcht und Verunsicherung bei den Demenzkranken auslösen, es können ebenso Milieufaktoren sein, die bereits aufgrund wiederholter Darbietung verinnerlicht worden sind, die aber aus unterschiedlichen Gründen nicht praktiziert werden.

In Blog 24 wird gezeigt, was geschehen kann, wenn ein ständig angebotenes Aktivierungsangebot wie z. B. ein täglich stattfindender Singkreis aus irgendeinem Grund ausfällt. Die folgenden Verhaltensweisen sind u. a. beim Ausfall von regelmäßig stattfindenden Betreuungsangeboten beobachtet worden:

  • verstärkte Unruhe, Verunsicherung und an Apathie grenzendes Rückzugsverhalten
  • rastloses Wandern, Verlassen des Wohnbereiches und der Einrichtung
  • Rufen, Klopfen, Sammeltrieb, Stühle schieben u. a.
  • Konflikte unter den Bewohnern
  • negative Auswirkungen auf das Ess- und Trinkverhalten.

Doch nicht nur das Fehlen eines Milieuelementes führt zu Überforderung und Stress. Manchmal reicht auch schon die unzureichende Ausgestaltung des Milieuelementes Raumstruktur aus, um Empfindungen von Fremdheit und Belastung hervorzurufen. Studien über das Essverhalten in Bezug auf die Vertrautheit der Räumlichkeiten können hier als Beleg angeführt werden (Elmstahl et al. 1987, Minde et al. 1990).

Altbiografie

Dass das Schlüsselreizprinzip bezüglich der Initiierung und Beendigung von Handlungen auch bei Verhaltensmustern aus der Altbiografie wirksam ist, wird u. a. in Blog 13 anhand von den folgenden Fallbeispielen belegt.

Beispiel 1 (Initiierungsreiz): Eine Bewohnerin saß am Tisch und hatte ihren Teller Suppe vor sich stehen. Sie rührte jedoch den Löffel nicht an und machte keine Anstalten, mit dem Essen zu beginnen. Der Grund für diese Untätigkeit lag in dem fehlenden, doch der Bewohnerin vertrauten Mahlzeitengebet vor dem Essen. Erst als die Pflegende das Mahlzeitengebet sprach, erfasste die Betroffene die Situation und begann zu essen (Lind 2011: 125).

Beispiel 2 (Beendigungsreiz): In einem Heim hatten die Pflegenden Schwierigkeiten bei der Abendpflege einer Demenzkranken. Sie ließ sich zwar auskleiden und auch ins Bett bringen, doch stand sie anschließend immer wieder auf. Erst als Angehörige die Pflegenden darauf hinwiesen, dass die Betroffene früher stets vor dem Zubettgehen betete, konnte das Pflegeproblem gelöst werden. Es wurde daraufhin abends mit ihr das Abendgebet gesprochen. Anschließend blieb die Bewohnerin im Bett (Lind 2011: 125).

Literatur

  • Elmstahl, S. et al. (1987) Hospital nutrition in geriatric long-term care medicine. 1. Effects of a changed meal environment. Comprehensive Gerontology, 1: 28–33
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Minde, R. et al. (1990) The ward milieu and its effects on the behaviors of psychogeriatric patient. Canadian Journal of Psychiatry, 35: 133–138.

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Sven.Lind@web.de). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

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