Krankheitsbezogene Gründe für die Pflegeverweigerung

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Pflegeverweigerung bei Furchtsymptomen und bei fehlender Krankheitseinsicht ist der Inhalt des 34. Blogs. Es werden Umgangsformen zur Bewältigung dieser Problembereiche aufgezeigt.

Wie in Blog 33 erläutert, ist der Demenzkranke überfordert mit der Bewältigung der inneren und äußeren Reizgefüge. Die Erkrankung erzeugt eine massive Hilflosigkeit und damit auch Abhängigkeit von personalen Versorgungsleistungen. Bestimmte Krankheitssymptome wiederum erleichtern in vielen Fällen den Umgang und damit auch die Pflege. Die Unfähigkeit der geteilten Aufmerksamkeit ist die Grundlage vieler Ablenkungsstrategien, wie z. B. der Doppelstrategien bei der Pflege (siehe Blog 14). Auch die krankhafte Verkindlichung u. a. in Gestalt einer demenztypischen Naivität im schweren Stadium erleichtert das subtile und unbemerkte Lenken und Führen der Betroffenen durch die Mitarbeiter nicht nur bei der Pflege, sondern besonders auch bei der Behebung der Realitätsverluste und Realitätsverzerrungen (u. a. Strategien des Mitgehens und Mitmachen). Andere Krankheitssymptome wie die ständige Unruhe, das niedrige Belastungsniveau, das Überforderungsverhalten verbunden mit wahnhaften Verkennungen und stark eingeschränkter Aufmerksamkeit und Konzentration erschweren recht deutlich den Umgang und damit auch die Pflege. Im Folgenden werden einige Krankheitssymptome als Grund für das Pflegeverweigerungsverhalten nebst Lösungsstrategien angeführt.

Furcht, Unsicherheit

Unruhe, Furcht und auch Unsicherheit sind demenzspezifische Befindlichkeiten oder auch Krankheitssymptome, die das Pflegen oft erschweren oder nicht ermöglichen. Verursacht werden sie überwiegend durch die nicht zu bewältigenden äußeren und inneren Reizgefüge. Besonders deutliche Abweichungen von vertrauten Milieugegebenheiten wie Tagesstruktur mit den gewohnten Betreuungsangeboten und das Fehlen der vertrauten Bezugspersonen überfordern die Demenzkranken (siehe Blog 24).

Folgende Strategien und Umgangsformen haben sich in der Praxis bereits bewährt:

  • Ritualhafte Handlungsstetigkeit (Sachweh 2008: 227)
  • Vorbereitungsphase zur Beruhigung wie z. B. gemeinsam ans Fenster treten und hinausschauen (Tanner 2018: 155)
  • Vorbereitungsphase als Nachahmungsimpuls (Stuhlmann 2004: 96, Tanner 2018: 150)
  • Materielle Ablenkungsimpulse wie Puppen, Kuscheltiere, Handtuch oder Süßigkeiten (Camp 2015: 90f, Sachweh 2008: 228)
  • Singen, singen und nochmals singen hat sich als Vorbereitungselement als auch während der Pflege als wirksames Beruhigungselement bewährt (Lind 2007: 132f, Lind 2011: 82f, Röse 2017: 308, Schneberger et al. 2008: 39)
  • Pflege zu zweit (Erstperson pflegt, Zweitperson lenkt ab teils mit Festhalten der Hände) (Barrick et al. 2011: 75 und 110, Bowlby Sifton 2007: 376)

Die Pflege zu zweit ist angesichts tätlicher Aggressionen seitens der überforderten Demenzkranken ein bewährtes Vorgehen, denn es gilt, die körperliche und psychische Unversehrtheit der Pflegenden bei diesen oft mit tätlichen Aggressionen verbundenen Handlungen zu gewährleisten (Lind 2000: 32f, Zeller et al. 2013).

Fehlende Krankheitseinsicht

Die fehlende Krankheitseinsicht (Anosognosie) äußert sich bei den Demenzkranken oft in der Überzeugung, noch selbständig und fit zu sein und somit auch keine Hilfestellung bei der Körperpflege und dem Ankleiden zu benötigen (Lind 2007: 121, siehe Blog 1). Die fehlende Krankheitseinsicht ist ein Symptom vieler neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen (Schröder 2006, Lind 2011: 171). Es handelt sich hierbei um eine Selbstwahrnehmungsstörung; sie kann als eine Störung in der Verarbeitung innerer Reizkonstellationen (dysfunktionale Interozeption) klassifiziert werden (siehe Blog 6). Es bedarf des Hinweises, dass fehlende Krankheitseinsicht bei der Demenz mit verminderter oder fehlender Depressivität einhergeht. Die Erkrankten fühlen sich also relativ wohl (Schröder 2006: 90).

Um bei der täglichen Pflege angesichts der fehlenden Krankheitseinsicht eine psychische Beeinträchtigung (Verletzung des Selbstbildes) bei den Betroffenen zu vermeiden, sind u. a. folgende Vorgehensweisen recht wirksam:

  • Strategien der Ablenkung (siehe Blog 27)
  • Vorgehensweisen „Perspektiven und Anregungen geben“ (siehe Blog 29)
  • Vermittlung fiktiver Sachzwänge (siehe Blog 30)

Bei diesen Beeinflussungs- und kaum wahrnehmbaren Lenkungsformen bei der Pflege handelt es sich letztlich um Strategien des Mitgehens und Mitmachens. Diese Umgangsformen zielen darauf ab, die Demenzkranken bei allen Interaktionen so sensibel und damit persönlichkeitsstabilisierend wie möglich zu behandeln.

Konsequenzen für die Praxis

Demenzpflege ist oft ein schwieriges Unterfangen, wenn es zu einer Pflegeverweigerung kommt. Doch Pflegeverweigerung als eine pflegerische Herausforderung lässt sich in vielen Fällen meistern. In diesem Zusammenhang besitzt die Erkenntnis des englischen Philosophen Francis Bacon (1561 – 1626) „Wissen ist Macht“ praktische Geltung. Im Bereich der Pflege bedeutet diese Macht nicht mehr als die Ermöglichung, eine Pflege durchführen zu können.

Die Notwendigkeit vieler Pflege- und recht oft auch Betreuungshandlungen kann mit dem Recht auf Unversehrtheit begründet werden. So liegt in der Regel für die Pflege eine medizinische Indikation vor, andernfalls droht eine Verschlechterung des Allgemeinzustandes. Es gilt aber auch, die seelische Unversehrtheit der demenzkranken Heimbewohner zu berücksichtigen. So sollte z. B. das „Recht auf Verwahrlosung“ nicht im stationären Bereich für Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium gelten. Wenn z. B. Bewohner gemäß diesem „Rechtsanspruch“ angesichts einer Pflegeverweigerung oder Pflegeerschwernis nicht angemessen gepflegt werden, droht in der Regel oft die rabiate Ausgrenzung der sichtbar unzureichend Gepflegten und Bekleideten im sozialen Milieu durch die Mitbewohner. Das Erleben dieser Ausgrenzung und damit verbunden das Empfinden einer Isolierung verursacht meist eine starke psychische Belastung und Überforderung. Derartiges Leiden sollte den Demenzkranken nicht zugemutet werden.

Literatur

  • Barrick, A. L. et al. (2011)Körperpflege ohne Kampf. Bern: Verlag Hans Huber
  • Bowlby Sifton, C. (2007) Das Demenz-Buch. Bern: Verlag Hans Huber
  • Camp, C. J. (2015) Tatort Demenz – Menschen mit Demenz verstehen. Bern: Hogrefe Verlag
  • Lind, S. (2000) Umgang mit Demenz. Wissenschaftliche Grundlagen und praktische Methoden. Stuttgart: Paul-Lempp-Stiftung.
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Röse, K. M. (2017 Betätigung von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim. Bern: Hogrefe
  • Sachweh, S. (2008) Spurenlesen im Sprachdschungel. Kommunikation und Verständigung mit demenzkranken Menschen. Bern: Verlag Hans Huber.
  • Schneberger, M. et al. (2008) «Mutti lässt grüßen …» Biografiearbeit und Schlüsselwörter in der Pflege von Menschen mit Demenz. Hannover: Schlütersche.
  • Schröder, S. G. (2006) Psychopathologie der Demenz. Symptomatologie und Verlauf dementieller Erkrankungen. Stuttgart: Schattauer.
  • Stuhlmann, W. (2004): Demenz – wie man Bindung und Biografie einsetzt. München: Reinhardt
  • Tanner, L. J. (2018) Berührungen und Beziehungen bei Menschen mit Demenz. Bern: Hogrefe
  • Zeller, A. et al. (2013) Erfahrungen und Umgang der Pflegenden mit aggressivem Verhalten von Bewohner(inne)n: eine deskriptive Querschnittstudie in Schweizer Pflegeheimen. Pflege: 26 (5): 321 – 335

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