Vorarbeiten für die Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege (Teil 11)

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Vorarbeiten für die Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege (Teil 11) sind der Inhalt des 129. Blogs. Es werden weitere Problembereiche dargestellt.

Problembereich 14 – Medizin und Pflege im Bereich der Demenzen

Pflege und Betreuung sind nachgeordnete Leistungen gemäß medizinischer Erfordernisse zwecks Heilung und Genesung. Bei nichtheilbaren Erkrankungen wie z. B. chronischen Erkrankungen im Alter stehen nicht die Heilung sondern die Stabilisierung und die Gewährleistung des psychosozialen Gleichgewichts im Vordergrund. Neurodegenerative Demenzen wie z. B. die Alzheimer-Demenz nehmen in diesem Spektrum eine Zwischenposition ein, denn sie sind nicht heilbar und sie lassen sich zugleich auch nicht wie z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen als chronische Erkrankungen stabilisieren. Bei den primären Demenzen geht es für die Pflege und Betreuung vor allem darum, den Abbauprozess zum Wohle der Erkrankten angemessen durch Köperpflege und psychosoziale Betreuung zu begleiten.

Diese Zwischenposition der neurodegenerativen Demenzen, weder Heilung noch langfristige Stabilisierung als Perspektive zu besitzen, wirkt sich auch auf die Pflege und Betreuung aus. Für viele Mitarbeiter verliert in diesem Rahmen die Medizin einschließlich der Neurowissenschaften das unabdingbare Primat als Grundlage aller Leistungen und auch Leistungsbewertungen. Während bei Akut- und auch bei chronischen Erkrankungen die medizinischen Parameter den Orientierungsrahmen allen Handelns bilden, vermag die Medizin bei neurodegenerativen Demenzen keinen Leistungsanspruch erfüllen. Im Gegenteil, die Medizin oder genauer die medizinische Forschung wird angesichts regelmäßiger Ankündigungen, den Durchbruch bei der Heilung baldigst in Aussicht zu stellen, nicht mehr ganz ernst genommen. Sie verliert dadurch u. a. auch ihre Deutungshoheit und wird manchmal schon als bloße Sisyphusarbeit bemitleidet.

Problembereich 15 – Grenzen der Erkenntnisse

In Blog 76 wird gezeigt, dass durch eine Vielzahl neuer Vorgehensweisen (u. a. „bildgebenden Verfahren“ wie Computer-Tomografie (CT) und der Positronen-Emissions-Tomografie (PET)) ein deutlicher Zuwachs an neurobiologischen Erkenntnissen über die Wirkungsweise des Gehirns zu verzeichnen ist. Die Hirnforschung erweitert ständig ihren Wissensstand, fast täglich werden neue Forschungsergebnisse publiziert. Auf der anderen Seite ist jedoch auch der Sachverhalt bekannt, dass die Erkenntniszuwächse überwiegend in den Makro- und Mikrobereichen des Gehirns lokalisiert werden können. In ihrem Manifest aus dem Jahr 2004 gestehen denn auch führende Neurowissenschaftler ein, dass ihr Wissen über die „mittlere Ebene“, das Geschehen innerhalb kleinerer und größerer Zellverbände, gegenwärtig noch recht spärlich ist. So ist u. a. noch ungeklärt, wie die Kommunikation der Nervenzellen untereinander abläuft, mit welchen „Codes“ sie in Verbindung treten und noch einiges mehr (Moyner et al. 2004).

Es kann in diesem Zusammenhang die Annahme formuliert werden, ob wir uns jemals das Wissen über unser Gehirn und seine Gesetzmäßigkeiten bis ins Detail werden aneignen können, ob nicht auch hier artspezifische Schranken der Erkenntnisgewinnung und letztlich auch des Verstehens vorliegen. All diese Fragen werden in den nächsten Jahrzehnten vielleicht beantwortet werden können, gegenwärtig sind sie jedoch noch eine „Terra incognita“. So wird z. B. der Forschungsstand zu Bewusstsein, Selbstbewusstsein und anderen Phänomenen der Wahrnehmung noch überwiegend von Annahmen und Hypothesen bestimmt, denn Neurobiologie und Neuropsychologie sind noch nicht zu einem Wissensstrang zusammengeschmolzen (Förstl et al. 2006).

Die Biowissenschaften und vor allem hierbei die Neurowissenschaften stehen immer noch vor den vielen Rätseln des Hirns und seines Wirkens und damit zugleich auch vor den Erkrankungen dieses zentralen und äußerst bedeutsamen Organs. Doch unermüdlich wird weiter an dieser Problematik gearbeitet, obwohl es manchmal an eine Sisyphusarbeit erinnert. (Eckoldt 2013, Förstl et al. 2006, Moyner et al. 2004).

Problembereich 16 – die kognitive Reservekapazität

In Blog 85 wird anhand der kognitiven Reservekapazität für die Demenz ein Grenzbereich der Erkenntnis aufgezeigt. Die kognitive Reservekapazität ist laut Pschyrembel online „die Reserve des Gehirns mit dem Ergebnis eines möglichst langfristigen Funktionserhalts. Das Konzept erklärt die Diskrepanz zwischen fortgeschrittenen (postmortal verifizierten) Hirnveränderungen bei der Alzheimer-Krankheit und dem Ausbleiben entsprechender kognitiver Einbußen bei einer Teilgruppe der untersuchten Personen.“

In Blog 76 wird ausgeführt, dass der Erkenntnisstand über die Wirkmechanismen des zentralen Nervensystems noch nicht den Komplexitätsgrad erreicht hat, um neurowissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten formulieren zu können. Die Wissensstände konnten bisher nicht das Niveau der Zusammenhänge (Korrelationen) und Regelmäßigkeiten mitsamt den kontroversen Hypothesen merklich übersteigen. Dieser geistige Leistungsstand zeigt sich auch deutlich im Gegenstandsbereich kognitive Reservekapazität, wie im Folgenden aufgezeigt wird.

Unterschiedliche Erklärungszusammenhänge

In Blog 85 wird gezeigt, dass die Neurowissenschaften als Teil der Biologie sich u. a. seit vielen Jahrzehnten in unterschiedlichen Gegenstandsbereichen mit der immerwährenden damit verbundenen Fragestellung „Disposition oder Erworben“ („Natur versus Erziehung“ oder ‘‘nature versus nurture’’) befassen. Auch im Themenfeld kognitive Reservekapazität wird diese Kontroverse in Gestalt unterschiedlicher Erklärungsmuster evident, indem hierbei u. a. zwischen Modellen der passiven und denen der aktiven kognitiven Reservekapazität unterschieden werden (Förstl et al. 2009, Perneczky et al. 2011). Als ein Beispiel für die passive kognitive Reservekapazität, die genetisch und damit anlagebedingt ist, wird das Gehirnvolumen angeführt. So konnte bei Menschen mit einem größeren Kopfumfang und damit einem größeren Hirnvolumen ein geringeres Demenzrisiko nachgewiesen werden (Mortimer et al. 2003, Perneczky et al. 2011). Bezüglich der aktiven kognitiven Reservekapazität, die man sich im Laufe des Lebens erwirbt, wurden u. a. die Faktoren Schulbildung, Intelligenz, Beruf und soziale Netzwerke als Schutzfaktoren für das Verhindern einer demenziellen Erkrankung ermittelt (Förstl et al. 2009: 98ff, Perneczky et al. 2011). In diesem Zusammenhang wird der Vergleich angestellt: „Man könnte also die passive kognitive Reservekapazität als die Hardware- und die aktive kognitive Reservekapazität als Software-Komponente ansehen.“ (Perneczky et al. 2011). Bei dieser Sichtweise vom Verhältnis von Genetik und Umweltbedingungen (u. a. ständiges Lernen) bezüglich der Entwicklung eines kognitiven Schutzmechanismus lässt sich von gleichwertigen Parallelmodellen mit einem relativ geringen Verflechtungsgrad ausgehen.

Das hierarchisch-genetisch strukturierte Erklärungsmodell

Ebenfalls in Blog 85 wird gezeigt, dass bereits umfangreiche Untersuchungen vorliegen, die den Nachweis erbringen, dass die kognitive Reservekapazität letztlich aufgrund des genetischen Potentials der Personen vorhanden ist. So konnte u. a. in Schottland und Schweden ermittelt werden, dass gute und teils überdurchschnittliche Schulleistungen in jungen Jahren (Grundschule) die Indikatoren für die spätere höhere Ausbildung (u. a. Studium und Berufsausbildung) und die geistig anspruchsvolle Berufstätigkeit sind. Darüber hinaus erklären diese Leistungen der Kindheit auch die kognitive Reservekapazität (Whalley et al. 2000, Dekhtyar et al. 2015).

Diesen Zusammenhang zwischen Genetik und der kognitiven Reservekapazität zeigte auch die Nonnenstudie in den USA. Nonnen, die Jahrzehnte gemeinsam in einem Kloster lebten und überwiegend der anspruchsvollen Tätigkeit als Schulschwestern nachgegangen sind, wiesen im Alter, wie die histologischen Untersuchungen post mortem zeigten, ebenfalls Unterschiede hinsichtlich des Vorhandenseins einer kognitiven Reservekapazität auf. Ähnlich wie bei den Schulleistungen in Schweden und Schottland war die Erklärung für die Reservekapazität bei den Nonnen die „Ideendichte“ im schriftlichen Lebenslauf anlässlich der Bewerbung als junge Novizinnen im Kloster. Nonnen mit geringer Ideendichte im Bewerbungsschreiben starben an der Alzheimer-Demenz, während Nonnen mit einer erhöhten Ideendichte trotz klassischer Alzheimerpathologie ohne klinische Symptomatik verstarben (Snowdon 2003: 129ff).

Literatur

  • Dekhtyar, S. et al. (2015) A life-course study of cognitive reserve in dementia – from childhood to old age. American Journal of Geriatric Psychiatry, 23 (9): 885 – 896
  • Eckoldt, M. (2013). Kann das Gehirn das Gehirn verstehen? Gespräche über Hirnforschung und die Grenzen unserer Erkenntnis. Heidelberg: Carl Auer Verlag
  • Förstl, H. et al. (Hrsg.) (2006) Neurobiologie psychischer Störungen. Berlin: Springer-Verlag
  • Förstl, H. et al. (2009) Das Anti-Alzheimer-Buch. Ängste, Fakten, Präventionsmöglichkeiten. München: Kösel-Verlag
  • Monyer, H. et al. (2004) Das Manifest. Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung. Gehirn & Geist, 6: 31-37
  • Mortimer, J. A. et al. (2003) Head circumference, education and risk of dementia: findings from the Nun study. Journal of Clinical Experimental Neuropsychology, 25: 671 – 679
  • Perneczky, R. et al. (2011) Kognitive Reservekapazität und ihre Bedeutung für Auftreten und Verlauf der Demenz. Der Nervenarzt, 82: 325 – 335
  • Snowdon, D. (2001) Lieber alt und gesund. Dem Alter seinen Schrecken nehmen. München: Karl Blessing Verlag
  • Whalley, L. J. et al. (2000) Childhood mental ability and dementia. Neurology, 55: 1455 – 1459

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