Die kognitive Reservekapazität bei der Alzheimer-Demenz (Teil 3)

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Die kognitive Reservekapazität bei der Alzheimer-Demenz (Teil 3) ist der Inhalt des 87. Blogs. Es werden weitere Untersuchungsergebnisse angeführt.

Nachtrag und Ergänzungen zu Blog 85 und Blog 86

In Blog 85 und Blog 86 wurde im Rahmen der kognitiven Reservekapazität bezüglich der Alzheimer-Demenz auf die Kontroverse „Disposition oder Erworben“ („Natur versus Erziehung“ oder ‘‘nature versus nurture’’) eingegangen. Als Beleg für die Erwerbungsthese „ständiges Üben“ oder das Hirn als „Muskel“ werden diesbezüglich neben den hohen Bildungs- und Berufsleistungen auch neuroanatomische Indizien angeführt. Als Beispiel hierfür werden die Londoner Taxifahrer angeführt, bei denen aufgrund der ständig hohen Orientierungsleistungen im Stadtverkehr neuronale Verdichtungen in den zuständigen Hirnarealen (Hippocampus) festgestellt wurden (Maguire et al. 2006, Perneczky et al. 2011). Die Fakten belegen eindeutig den Sachverhalt, dass durch ständiges Üben gemäß der „Hirn-Muskel-These“ zusätzliche Hirnmasse generiert wird, die letztlich u. a. auch zum Aufbau einer kognitiven Reservekapazität beitragen könnte. Diese Ergebnisse widerlegen zugleich das genetisch-hierarchisch strukturierte Erklärungsmodell, dass letztlich genetische Faktoren ausschlaggebend für das Vorhandensein einer kognitiven Reservekapazität wären.

Im Folgenden wird anhand einer Untersuchung gezeigt, dass die „Hirn-Muskel-These“ dahingehend relativiert werden muss, dass letztlich nicht ausschließlich Übungsfaktoren ausschlaggebend für die Entwicklung zusätzlicher neuronaler Verdichtungen sind. Sondern es kann angenommen werden, dass genetischen Faktoren im Sinne einer Disposition einen grundlegenden Einfluss hierbei eingeräumt werden muss.

Die Londoner Taxifahrerausbildungsstudie

Die Neurowissenschaftlerinnen Magurie und Woollett, die Jahre zuvor u. a. die mittels bildgebender Verfahren die neuronalen Verdichtungen im Bereich des Hippocampus bei den Taxifahrern in London ermittelt hatten (siehe oben), führten Jahre später eine ähnliche Studie durch. Diesmal ging es um den Sachverhalt, inwieweit die mehrjährige sehr intensive Ausbildung zur Erlangung einer Taxifahrerlizenz sich neurophysiologisch auf die Neuronen im Bereich des Hippocampus auswirken würde. Insgesamt wurden bei 79 Taxifahrerauszubildenden, die sich in ca. 3 Jahren Ausbildungszeit das gesamte Straßennetz von London mit ca. 25.000 Straßen und wichtigen Punkten einprägen mussten, mittels Kernspintomographie die betroffenen Hirnareale vor der Ausbildungsphase erfasst. Nach der Ausbildung konnte bei noch 59 Teilnehmern diese Untersuchung wiederholt werden.

Die Studie ergab, dass eine neuronale Verdichtung und damit Volumenzunahme der grauen Substanz im Areal des Hippocampus bei 39 Auszubildenden nachgewiesen werden konnte. Diese Personengruppe hatte auch die Abschlussprüfung bestanden und somit die Lizenz zum Taxisfahren erhalten. Bei den 20 Teilnehmern, die die Prüfung nicht bestanden hatten bzw. die Ausbildung bereits vorher abgebrochen hatten, war diese neuronale Verdichtung nicht festzustellen, obwohl sie sich ebenfalls diesem langjährigen Lernprogramm unterzogen hatten (Woollett et al. 2011).

Das Ergebnis dieser Studie lässt sich dahingehend interpretieren, dass letztlich genetische Faktoren über den Erfolg von ständigen Lernleistungen entscheiden. Leicht überspitzt kann bezüglich dieses Resultats das Fazit gezogen werden, dass nicht jeder angesichts des immensen vorhergehenden Lernpensums zum Taxifahrer geboren ist. Man muss also bereits bei dieser nicht allzu kreativen Tätigkeit ein bestimmtes Maß an angeborenem Lernvermögen oder auch Talent mitbringen.

Die Taxifahrerausbildungsstudie kann bezogen auf die „Hirn-Muskel-These“ dahingehend interpretiert werden, dass auch bei Lernprozessen jenseits neurodegenerativer Erkrankungen das hierarchische Prinzip von Genotypus und Phänotypus gilt. Phänotypus bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur das Vermögen zum ständigen Lernen, sondern auch die Bereitschaft und das Interesse im Sinne der intrinsischen Motivation hierzu. Die Ausbildungsstudie lässt sich mit der Nonnenstudie dahingehend vergleichen, dass ungefähr 65 Prozent der untersuchten Nonnen trotz jahrzehntelanger geistig anspruchsvoller Lehrtätigkeit keine kognitive Reservekapazität entwickeln konnte (Snowdon 2001, siehe Blog 86).

Genetik

In Blog 76 wurde bereits darauf verwiesen, dass die Krankheitsursachen bei der Alzheimer-Demenz aller Wahrscheinlichkeit nach zu ca. 80 Prozent von genetischen Faktoren bestimmt werden. Das bisher entscheidende Element ist das Apolipoprotein E Allel (ApoE), ein Eiweiß, das in verschiedenen Varianten bei Stoffwechselprozessen von großer Bedeutung ist. Bei der Alzheimer-Demenz besteht ein 12 bis 15fach erhöhtes Risiko, an der Alzheimer-Demenz zu erkranken, wenn man von beiden Elternteilen das ApoE-4-Allel erbt. Von Interesse ist auch der Sachverhalt, dass das ApoE-2-Allel bezogen auf die Alzheimer-Demenz eine schützende Wirkung mit einem späteren Krankheitsbeginn zu haben scheint, während das ApoE-3-Allel keinen Einfluss auf die Entstehung der Demenz besitzt (Karaca et al. 2018: 88).

Im Rahmen der Nonnenstudie wurde auch der Sachverhalt untersucht, welchen Einfluss das ApoE-4-Allel auf das Auftreten einer Alzheimer-Demenz und zusätzlich auf das Entstehen einer kognitiven Reservekapazität besitzt. Die Ergebnisse zeigten einen Zusammenhang dergestalt, dass die Nonnen ohne das Apo-4-Allel nur ein halb so großes Risiko besaßen, zu Lebzeiten an der Alzheimer-Demenz zu erkranken. Hieraus wurde auch des Weiteren geschlossen, dass das Fehlen des ApoE-4-Allels positive Auswirkungen auf das Bestehen einer kognitiven Reservekapazität besitzt (Riley et al. 2000).

Eine Studie aus der Schweiz belegt den Sachverhalt, dass auch bei körperlich und geistig gesunden älteren Menschen das Vorhandensein des ApoE-4-Allels negative Auswirkungen auf die geistige Leistungsfähigkeit insbesondere auf die episodischen Gedächtnisfunktionen zeigt (Zehnder et al. 2009).

Literatur

  • Karaca, I. et al. (2018) Genetik der Alzheimer-Krankheit. In: Jessen, F. (Hrsg.) Handbuch Alzheimer-Krankheit. Berlin: Walter de Gruyter (86-121)
  • Maguire, E. A. et al. (2006) London taxi drivers and bus drivers: a structural MRI and neuropsychological analysis. Hippocampus 16: 1091 – 1101
  • Perneczky, R. et al. (2011) Kognitive Reservekapazität und ihre Bedeutung für Auftreten und Verlauf der Demenz. Der Nervenarzt, 82: 325 – 335
  • Riley, K. P. et al. (2000) Cognitive function and apolipoprotein E in very old adults: findings from the Nun Study. J Gerontol B Psychol Sci Soc Sci.;55(2):S69-75
  • Snowdon, D. (2001) Lieber alt und gesund. Dem Alter seinen Schrecken nehmen. München: Karl Blessing Verlag
  • Woollett, K. et al. (2011). Acquiring the Knowledge of Londons‘ Layout Drives Structural Brain Changes. Current Biology 21, 2109–2114
  • Zehnder, A. E. et al. (2009) Impact of APOE status on cognitive maintenance in healthy elderly persons. Int J Geriatr Psychiatry. 24 (2):132-41

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