Überforderungssyndrom „unterschiedliche Bedarfslagen“

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Pflegeerschwernis durch unterschiedliche Bedarfslagen der Bewohner ist der Inhalt des 42. Blogs. Es wird das Problemfeld mitsamt der damit verbundenen Überforderungssymptomatik beschrieben.

Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium werden gegenwärtig in den Pflegeheimen entweder homogen oder heterogen („gemischt“ oder „integrativ“) versorgt. Homogen bedeutet, dass die Demenzkranken nur mit ebenfalls Demenzkranken in einem Wohnbereich zusammenleben. Es handelt sich hierbei in der Regel um spezielle Demenzwohnbereiche, teils mit Sicherungssystemen bezogen auf die Ein- und Ausgänge versehen. Im Idealfall sind diese Wohnbereiche nach den Regeln der Demenzarchitektur (u. a. angemessene Gemeinschafts- und Bewegungsflächen, Zugang zu einem eingefriedeten Außenbereich) errichtet worden (Lind 2007: 218ff, Lind 2011: 297ff). Heterogen oder „gemischt“ besagt, dass sich in dieser Versorgungsstruktur Demenzkranke mit nichtdemenzkranken Bewohnern den Wohnbereich teilen.

Das Überforderungssyndrom „unterschiedliche Bedarfslagen“ tritt überwiegend in „gemischten“ Wohnbereichen auf, da hier teils auf engstem Raum unterschiedliche Welterfassungsmodalitäten mit entsprechenden Bedarfsstrukturen aufeinander stoßen. Die überwiegend mobilen Demenzkranken müssen sich mit geistig nicht beeinträchtigten aber oft bettlägerigen Pflegebedürftigen die Räumlichkeiten teilen, obwohl sie in der Regel nicht zueinander passen und sich meist auch voneinander abwenden. In diesem Gemenge zweier unterschiedlicher Bedarfslagen und Erwartungshaltungen geraten die Pflegenden oft an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, gilt es doch, zwei verschiedene Lebenswelten in einem Raumgefüge parallel aufzubauen und zu gestalten.

Auswirkungen auf die Pflegenden

Dass Pflegende in diesem Nebeneinander mit den damit verbundenen Konflikten zwischen den Bewohnergruppen überfordert sind, haben arbeitswissenschaftliche Untersuchungen belegen können. So zeigen 50 Prozent der Pflegenden auf einem gemischten Wohnbereich mittelstarke Burnout-Werte und 30 Prozent gar hohe Werte, während auf einem Demenzwohnbereich die Burnout-Werte recht niedrig waren. Auch die körperliche, geistige und emotionale Erschöpfung als Dimensionen des Überdrusses lagen auf der normalen Pflegestation weitaus höher (Landau et al. 1991). Ebenso wies eine Erhebung aus den USA nach, dass Pflegende auf einem Demenzwohnbereich („special care units“) eine geringere Belastung hinsichtlich der demenzspezifischen Verhaltensweisen zeigten als Pflegende in einem herkömmlichen Wohnbereich. Obwohl ein größeres Ausmaß an demenzspezifischen Verhaltensauffälligkeiten registriert wurde, zeigten die Pflegenden ein höheres Ausmaß, dies zu tolerieren und als einen Aspekt der Arbeit aufzufassen (Middleton et al. 1999, Lind 2000: 85f).

Weitere Untersuchungen aus den USA belegen den Sachverhalt, dass die Arbeitszufriedenheit der Pflegenden in Demenzwohnbereichen recht hoch ist. Im Vergleich mit herkömmlichen gemischten Wohnbereichen zeigt die Arbeitszufriedenheit ein deutlich größeres Ausmaß (Hays et al. 1997, Meyer et al. 1990, Robertson et al. 1995). Dieser Sachverhalt wurde auch in Schweden festgestellt (Malmberg et al. 1993).

Auswirkungen auf die Bewohner

Untersuchungen verdeutlichen, dass kognitiv nicht beeinträchtigte Bewohner in der Regel Kontakte mit Demenzkranken meiden. Sie lehnen das Zusammensein auf einer Station oder die gemeinsame Beschäftigung ab, da sie sich von den Demenzkranken gestört, überfordert und teilweise auch abgestoßen fühlen. Eine oft zu beobachtende Reaktionsweise besteht im Rückzug der Nicht-Dementen. Sie schließen sich in ihr Zimmer ein, um Begegnungen mit und auch Besuchen von Demenzkranken so entgehen zu können (Brauner 1989, Levesque et al. 1993, Berger et al. 1996).

Konsequenzen für die Pflege

Die vorliegenden Erfahrungen und Erkenntnisse hinsichtlich der Arbeitszufriedenheit bzw. der Belastung in der Pflege lassen sich dahingehend interpretieren, dass durch die einheitliche Struktur in Demenzwohnbereichen die Arbeitsanforderungen eindeutig vorgegeben sind. Es gilt nur ein Milieu (Demenzmilieu) aufzubauen und zu gestalten, während in herkömmlich gemischten Wohnbereichen in der Regel zwei und manchmal sogar zwei unterschiedliche Milieustrukturen (Demenzmilieu und ein Milieu für kognitiv kompetente aber körperlich gebrechliche Bewohner) herzustellen sind. Unterschiedliche Lebensbereiche mit konträren inhaltlichen Elementen in einem räumlichen Umfeld mit einem relativ begrenzten Personalstand zu schaffen, lässt sich kaum bewerkstelligen.

Die Pflegemitarbeiter müssen diese Strukturanforderungen als eine Sisyphusarbeit erleben, denn trotz ständiger und wiederholter Bemühungen können keine angemessenen milieutherapeutischen Ergebnisse erzielt werden. Das Erleben eines unzureichenden Milieus für die verschiedenen Bewohnergruppen („Das tägliche Chaos“) führt dann letztlich zu seelischer und körperlicher Erschöpfung, da man ständig das Gefühl hat, den eigenen Erwartungen hinsichtlich einer angemessenen Pflege und Betreuung nicht gerecht werden zu können (Lind 2000: 85f).

Literatur

  • Berger, G. et al. (1996) Wohnen mit gesicherter Pflege im Servicehaus. Hrsg.: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Eigenverlag, Bonn.
  • Brauner, S. (1989) Impact on the confused elderly on the lucid aged in a nursing home. Journal of Gerontological Social Work, 14, 137 – 152.
  • Hays, A. M. et al. (1997) Perceptions of job satisfaction in a long term care facility: A comparison between a dedicated Alzheimer’s unit and non-Alzheimer’s units. American Journal of Alzheimer’s Disease, 12, 1, 35 – 39.
  • Landau, K. et al. (1991) Beanspruchung des Pflegepersonals. Herausgeber: Sozialministerium Baden-Württemberg. Stuttgart.
  • Levesque, L. et al. (1993) Why alert residents are more or less willing to cohabit with cognitively impaired peers. The Gerontologist, 33, 4, 514 – 522.
  • Lind, S. (2000) Umgang mit Demenz. Wissenschaftliche Grundlagen und praktische Methoden. Stuttgart: Paul-Lempp-Stiftung. https://www.svenlind.de/wp-content/uploads/2019/01/Wissen24LemppA.pdf
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber.
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Malmberg, B. et al. (1993). Group homes for people with dementia: A swedish example. The Gerontologist, 33, 5, 682 – 686.
  • Meyer, D. L. et al. (1990) A special care home for Alzheimer’s disease and related disorders. An 18-month progress report. The American Journal of Alzheimer’s Care and Related Disorders and Research, 5, 1, 18 – 23.
  • Middleton, J. et al. (1999). Caregiver distress related to disruptive behaviors on speical care units versus traditional long-term care units. Journal of Gerontological Nursing, 25, 3, 11 – 19.
  • Robertson, A. et al. (1995). Nurses’ job satisfaction and the quality of care received by patients in psychogeriatric wards. International Journal of Geriatric Psychiatry, 10, 575 – 584.

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