Demenzpflege verträgt keine Störungen und keinen unnötigen Stress

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Pflegeerschwernisse durch Störungen und Zusatzbelastungen sind der Inhalt des 41. Blogs. Es werden sowohl Ursachen hierfür als auch Strategien und Organisationsformen zur Bewältigung dieses Problemfeldes aufgezeigt.

In vielen Blogs ist bereits darauf verwiesen worden, dass Demenzkranke bei der Pflege meist verunsichert sind. Man kann sich die Demenzpflege als ein Handlungsgeschehen auf ganz dünnem Eis vorstellen. Kommt nur ein bedeutsamer Unruhe- oder Stressfaktor hinzu, dann ist der Druck zu groß und das Eis bricht. Dies bedeutet bei Demenzkranken Überforderung oder Überlastung, die meist zum Abbruch des Pflegeprozesses führt.

Bei der Pflege Demenzkranker besteht eine gegenseitige unbewusste und verhaltensbeeinflussende Abhängigkeit zwischen Pflegenden und Demenzkranken. Pflegende können Demenzkranke in Hektik und Stress versetzen und auch umgekehrt. Dieser Sachverhalt wiederum bedeutet für die Pflege, dass für beide Personengruppen Stressvermeidung oberstes Gebot darstellen sollte.

Ein solches Prinzip der Stressvermeidung für beide Personengruppen lässt sich als ein Modell der doppelten Stressminderung bezeichnen (siehe Blog 22). Dieses Modell der doppelten Stressminderung drückt sich in der Ausrichtung einer Mitarbeiterorientierung und einer Bewohnerorientierung als Leitkonzept aus (Lind 2011: 230).

Vermeidbare Stressfaktoren

Als Faktoren eines vermeidbaren Stresses sollen in diesem Zusammenhang alle Regeln, Bestimmungen und Vorgaben in der Arbeitsorganisation bezeichnet werden, die Möglichkeiten einer zusätzlichen psychischen und auch körperlichen Arbeitsbelastung enthalten. Dies sind z. B. Dienstpläne, Arbeitsablaufpläne, Stellenbeschreibungen und Standards. Dieses Regelwerk gilt es hinsichtlich seiner Wirkung als potentieller Stressor für die Pflege Demenzkranker genau zu prüfen und gegebenenfalls zu verändern. In Blog 40 wurde bereits der Faktor „Zeiträume anstelle von Zeitpunkten“ als Vorgabe für die Pflegezeitplanung angeben.

Ein weiterer Faktor zur Vermeidung vermeidbaren Stresses ist das Leitungs- und Führungsverhalten der Vorgesetzten:

Leitungsverhalten

Ein äußerst wichtiger Aspekt bei der Vermeidung von unnötigen Stressfaktoren ist das Leitungsverhalten der Vorgesetzten. Es liegen bereits Untersuchungen vor, die den Sachverhalt belegen, dass die soziale Atmosphäre und auch das Arbeitsklima entscheidend von dem Verhalten der Leitenden beeinflusst werden (Berger 1999: 149).

In der Demenzpflege gilt das Motto, „lächeln Pflegende, dann lächeln in der Regel auch Demenzkranke“. Diese Erkenntnis gilt es im Rahmen der Minderung von unnötigem Stress zu erweitern: „Wenn Leitende lächeln, dann lächeln auch Pflegende.“ Oder recht kritisch gilt hier auch das Sprichwort „der Fisch stinkt immer vom Kopf!“ (Lind 2011: 231).

Störungen bei der Pflege

Pflegende berichten immer wieder über die geringe Anerkennung ihre Pflegeleistungen (Körper- oder Grundpflege) in den Heimen. Erkennbar ist dieser Umstand an den vielen Störungselementen, denen die Pflegenden bei ihrer Tätigkeit ausgesetzt sind. Telefondienst, Anfragen von Vorgesetzten, Wünsche und Aufforderungen von Angehörigen und vieles mehr weisen darauf hin, dass von einer ungestörten Pflege als Regelfall nicht ausgegangen werden kann.

Störung durch Telefondienst

Diese Gegebenheiten zeigen deutlich, dass hier die Annahme einer Mehrfachbeanspruchung während der Pflege vorherrscht. Wer z. B. das Stationshandy während der Pflege bei sich trägt, der hat neben der Pflege auch noch den Telefondienst zu verrichten. Und wer Vorgesetzten während der Pflege Auskunft über dienstliche Belange geben muss, der ist zusätzlich mit verwaltungstechnischen Aufgaben beschäftigt (Lind 2011: 231).

Störung durch Unterbrechung der Pflege

Eine Untersuchung aus dem stationären Bereich der Altenpflege belegte den Sachverhalt, dass Störungen der Pflege überwiegend durch Unterbrechungen auftreten und für die Pflegenden als sehr belastend empfunden werden. An erster Stelle steht die Unterbrechung durch Kollegen, die meist um Mithilfe bei schweren Pflegehandlungen (Heben, Tragen, Umbetten u. a.) bitten (Lind 2011: 231, Glaser et al. 2005: 64).

Weitere Störungselemente

Weitere Störungen sind unzureichende Vorbereitungen der Pflege (fehlende Pflegeutensilien, Bewohnerwäsche u. a.) und Kontaktaufnahmen durch Mitbewohner während der Pflegehandlungen.

Fasst man diese Vielzahl an Unterbrechungen der unmittelbaren Pflege zusammen, so können überwiegend betriebsinterne und arbeitsorganisatorische Ursachen für diese Störungen festgemacht werden. Und hier ist auch anzusetzen, wenn es darum geht, demenzspezifische Arbeits- und Rahmenbedingungen für die Pflege herbeizuführen (Lind 2011: 231). Die folgenden Empfehlungen sollten im Rahmen der Fortbildungsveranstaltungen gemeinsam mit den Pflegenden erörtert werden:

Betriebliche und arbeitsorganisatorische Empfehlungen

Das Grundkonzept heißt: Pflege hat Vorrang! Denn die Pflege Demenzkranker im schweren Stadium führt leicht zu Überlastungs- und Überforderungsverhaltensweisen bei den Betroffenen. Die Pflege Demenzkranker sollte daher den Status eines möglichst störungsfreien Handlungsprozesses erhalten. Konkret bedeutet das für die alltägliche Pflege Demenzkranker:

  • Während der Pflege sollten möglichst keine Telefon- oder Auskunftsdienste ausgeführt werden.
  • Unterbrechungen durch Kollegen sollten durch technische Hilfsmittel (Lifter etc.) oder durch Absprachen unter den Kollegen ausgeschlossen werden (Ausnahme Notfälle wie Stürze u. a.).

Aus vielen Einrichtungen liegen schon Erfahrungen vor, dass z. B. das störende Stationshandy durch vorübergehende Umschaltungen auf andere Bereiche (Hauswirtschaft, Küche, sozialer Dienst etc.) die Pflege nicht mehr belasten muss. Auch Hinweisschilder an der Tür ähnlich wie im Hotel („Bitte nicht stören, hier wird gepflegt“ und Ähnliches) zeigen Wirkung (Lind 2011: 232).

Hebetätigkeit als Belastungselement

Bezüglich der Unterbrechungen der Pflege durch Kollegen, die um Mithilfe bei körperlich schweren Handlungen bitten, kann Folgendes empfohlen werden (Lind 2011: 232):

  • Verbot schwerer Hebetätigkeit ähnlich wie bei Schwangeren im Rahmen eines Arbeitsschutzgesetzes. Auf der Grundlage solcher gesetzlichen Rahmenbedingungen können dann arbeitsorganisatorische Erleichterungen wie technische Hilfsmittel (Lifter u. a.) an jedem Pflegebett (z. B. Deckenlifter) eingefordert werden. In einem Bundesstaat der USA (Texas) wurden solche Bestimmungen bereits vor einigen Jahren erlassen.
  • Vorhaltung von Personalreserven: In den Niederlanden verfügen alle Heime über Personalreserven (so genannte «Pools») für den Fall von Ausfällen durch Krankheit, Urlaub, Fortbildungen etc.
  • Auch den Faktor Dienstplangestaltung mit den Aspekten Schichtdauer und Anzahl der Arbeitstage gilt es hier zu berücksichtigen.

Arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse

Die Tagesform der Pflegenden ist für die Qualität der Pflege äußerst relevant. Wie bereits oben mehrfach angeführt sollten Stress und Hektik aufgrund der Organisation der Arbeit vermieden oder doch zumindest stark eingeschränkt werden. Denn nur so lässt sich ein konfliktarmes Zusammenwirken mit den Demenzkranken bewerkstelligen.

Folgende Faktoren sollten zusätzlich beachtet werden, um möglichst optimale Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal zu erzielen(Lind 2000: 71):

  • Die Frühschicht sollte nicht zu früh beginnen. Günstig wäre ein Beginn um 7.00 Uhr, jedoch nicht vor 6.30 Uhr. Arbeitswissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass bei einem frühen Beginn viele Mitarbeiter noch müde und damit körperlich und seelisch eingeschränkt sind (Priester 1993 und 1995).
  • Pflegemitarbeiter sollten maximal 7 Tage hintereinander arbeiten. Personaleinsatzmodelle von 12 Tagen Arbeit und 4 Tagen frei (Mybes 1989) haben sich in der Praxis nicht bewährt (Knauth 1993, Knauth et al. 1990).In der Personaleinsatzplanung ist das Konzept „kurze Woche“ (5 Tage Arbeit) – freie Tage – „lange Woche“ (7 Tage) bekannt. Idealer wäre noch, wenn nur „kurze Wochen“ eingerichtet würden.
  • Verbot von „Einspringen“: arbeitsfrei heißt arbeitsfrei. Entweder organisieren die Einrichtungen bzw. die Träger Mitarbeiter als so genannte „Springkräfte“ oder das Leistungsangebot wird an diesen Tagen auf das Mindestmaß gemäß der Gewährleistung der Unversehrtheit reduziert.

Konsequenzen für die Praxis

Das Modell der doppelten Stressminderung für Demenzkranke und für Pflegende lässt sich in den folgenden Rahmenbedingungen konkretisieren: „weniger Zeitdruck, bessere Unterstützung im Umgang mit schwerstpflegebedürftigen und dementiell erkrankten Bewohner/innen, mehr Information und Beteiligung und ein veränderter Führungsstil der Vorgesetzten sowie weitere Aspekte aus den Bereichen des Dienstplan- und Arbeitszeitmanagements und der allgemeinen Arbeitsorganisation.“ (Berger 1999: 150).

Literatur

  • Berger, G. (1999) Die Erfassung der Arbeitssituation im Rahmen einer Qualitätsdiagnose von Alten- und Pflegeheimen. In: Zimber, A. & Weyerer, S. (Hrsg.) Arbeitsbelastung in der Altenpflege (138-152). Göttingen: Hogrefe.
  • Glaser, J. et al. (2005) Psychische Belastung: Analyse, Bewertung und Gestaltung sicherheits- und gesundheitsförderlicher Arbeitsplätze in der stationären Altenpflege. Zwischenbericht zur Vorlage an die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Bericht aus dem Lehrstuhl für Psychologie der TU München. Bericht Nr. 80.
  • Knauth, P. (1993). The design of shift system. Ergonomics, 36, 1-3; 15- 28.
  • Knauth, P. et al. (1990). Beurteilung von Krankenhaus-Dienstplänen aus arbeitswissenschaftlicher und arbeitsmedizinischer Sicht. In: HOFMANN, F. & STÖSSEL, U. (Hrsg.): Arbeitsmedizin im Gesundheitsdienst, Band 4. Geuterer Verlag, Stuttgart.
  • Lind, S. (2000) Umgang mit Demenz. Wissenschaftliche Grundlagen und praktische Methoden. Stuttgart: Paul-Lempp-Stiftung. https://www.svenlind.de/wp-content/uploads/2019/01/Wissen24LemppA.pdf
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Mybes, U. (1989). Dienstplantechnik. Kuratorium Deutsche Altershilfe, Reihe thema Band 24, Köln.
  • Priester, P. (1993). Neue Arbeitszeitmodelle in Krankenhäusern – Umsetzungsprobleme und Optimierungsmöglichkeiten. Das Krankenhaus, 12, 555 – 558.
  • Priester, P. (1995). Neue Arbeitszeitmodelle in Krankenhäusern. Entstehungsbedingungen – Umsetzungsprobleme – Vorschläge zur Optimierung. Mabuse-Verlag, Frankfurt/M.

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