Vorarbeiten für die Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege (Teil 7)

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Vorarbeiten für die Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege (Teil 7) sind der Inhalt des 125. Blogs. Es werden weitere Problembereiche dargestellt.

Problembereich 8 – der Widerspruch zwischen Überbau und Basis

In Blog 124 wird gezeigt, dass aufgrund fehlenden Wissens eine Gleichsetzung der psychiatrischen Pflege mit der Demenzpflege hinsichtlich des Umgangs mit wahnhaften Vorstellungen und Halluzinationen vorgenommen wird (Bartholomeyczik et al. 2006). Diese fachlich falsche Position ist ohne Abstriche in die „Grundsatzstellungnahme: Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz in stationären Einrichtungen“ des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. übernommen worden (MDS 2009: 85). Des Weiteren empfiehlt der MDS in seiner „Grundsatzstellungnahme“ u. a. folgende Interventionen und Umgangsformen für Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium: Kitwood-Ansatz, Validation, Basale Stimulation, das „Psychobiographisches Modell“ nach Erwin Böhm und das Realitätsorientierungstraining (ROT) (MDS 2009: 110ff).

Dass der MDS, der u. a. für die Prüf- und Qualitätskriterien in den Altenpflegeheim zuständig ist, Interventionen und Maßnahmen empfiehlt, die teils keinen Wirksamkeitsnachweis erbringen können (Validation u. a.) und die in ihren Grundannahmen für die Demenzkranken letztlich lebensgefährlich sind („Normalitätskonzept“ des Kitwood-Ansatzes) bzw. Zusatzbelastungen hervorrufen („Realitätskorrektur“ gemäß ROT), erscheint äußerst befremdlich (Nocon et al. 2010, siehe Blog 107).

In Blog 43 wird gezeigt, dass u. a. auch aufgrund des MDS in den Altenpflegeheimen für die Demenzpflege äußerst belastende Gegebenheiten entstanden sind (u. a. übermäßige Bürokratisierung in Gestalt der Dokumentationspflichten). Wenn nun zu diesen Erschwernissen des Pflegealltags noch demenzpflegebehindernde Vorgaben und Empfehlungen gemacht werden, die nicht in Einklang mit einer angemessenen Demenzpflege gebracht werden können, dann liegt objektiv ein Überbauproblem vor.

Wenn Überbau und Basis nicht übereinstimmen, ja regelrecht konträr zueinander stehen, dann gilt es den Überbau, das Gemengelage an Verordnungen sowie Richtlinien und Bestimmungen an die Basis anzupassen. Die Basis sind die Demenzkranken und Pflegenden in ihrem ständigen Zusammenwirken, sie bilden den entscheidenden Bezugsrahmen allen Geschehens.

Problembereich 9 – Fehlen des Wirksamkeitsnachweises

Im Bereich der Pflege und Versorgung Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium in Deutschland ist ein genuin medizinisches und zugleich auch psychologisches Phänomen anzutreffen, das äußerst verwunderlich ist: das Fehlen der Wirksamkeitsnachweise der verschiedenen psychosozialen Interventionen. Dieser Mangel und damit auch die damit verbundene potentielle Fehlentwicklung scheint aus der Sicht des Bloggers (Sven Lind) bisher nur Hans Gutzmann aufgefallen zu sein: „Psychosoziale Interventionen können prinzipiell ebenso wirksam sein wie Medikamente und leider ebenso sehr schaden. Deshalb die Forderung nach sorgfältigen Wirksamkeitsnachweisen, d. h. der wissenschaftlichen Evaluation (Bewertung) von Intervention.“ (Gutzmann et al. 2005: 140).

Erst wenn auch in allen Heimen die Demenzpflege nach den Kriterien Effektivität, Effizienz und Praktikabilität ausgerichtet sein wird, werden die Betroffenen, Demenzkranke und Pflegende, eine angemessene Lebens- und auch Arbeitswelt vorfinden (Lind 2007: 14).

Die zunehmende Anzahl unterschiedlicher Interventionsformen für Demenzkranke ohne ein einheitlich wissenschaftliches Fundament muss unweigerlich zu Verwirrungen bei allen Beteiligten führen:

  • Pflegenden fehlt angesichts widersprüchlicher Konzepte der gemeinsame pflegepraktische Rahmen zur Beobachtung, Beurteilung und Behandlung der demenzkranken Bewohner.
  • Die Kommunikation innerhalb der Pflegeteams sowie zwischen Pflegenden, Ärzten und anderen Helfergruppen wird bei voneinander abweichenden Terminologien und Einschätzungen (z. B. Demenz als Krankheit oder bloße Verarbeitungsphase) deutlich erschwert.
  • Die Hauptleidtragenden, die Demenzkranken, sind hilflos verschiedensten Interventionsformen ausgesetzt, deren Wirksamkeit bisher noch nicht nachgewiesen worden ist.

So unwahrscheinlich es auf den ersten Blick auch scheinen mag, so kann man doch feststellen, dass die Auseinandersetzung mit der Demenzpflege sowie der Umgang mit den Verwirrten selbst in eine Phase der Verwirrung geraten sind (Lind 2007: 19).

Problembereich 10 – das KDA und das Qualitätshandbuch Demenz

Die Geschichte der Demenzpflege in Deutschland beginnt ungefähr in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, als im Rahmen der Auflösung der Langzeitpflegebereiche der Landeskrankenhäuer die Alten- und Altenpflegeheime die zentralen Versorgungsinstitutionen für Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium wurden. Bis auf die so genannte „Realitätsorientierungstherapie“ (ROT) existierten damals keine psychosozialen Beeinflussungs- und Umgangsformen (Lind 1989, Lind et al. 1990). Dieser Sachverhalt änderte sich in den darauf folgenden Jahren, als Dutzende von neuen Umgangsformen für Demenzkranke teils mit Angeboten zu einschlägigen Fortbildungen propagiert und publiziert wurden. Das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) veröffentlichte z. B. das „Qualitätshandbuch Leben mit Demenz“ (das Ergebnis einer zweijährigen Auftragsforschung für das Bundesfamilienministerium) (Maciejewski et al. 2001) u. a. mit folgenden Resultaten:

  • Es werden ca. 37 verschiedene Umgangsformen und Betreuungsstile überwiegend für Demenzkranke vorgestellt: von Snoezelen, Validation, Mäeutik, Basale Stimulation bis hin zur Humor- und Tanztherapie, auch „Humorstraßen“, „Lachzimmer“ und „Witztüten“ nebst Clown werden angeführt, ohne dass eine Bewertung dieser Konzepte u. a. hinsichtlich Effektivität, Effizienz und Praktikabilität einschließlich eventueller Gefahrenpotentiale vorgenommen wird.
  • Das KDA billigt Demenzkranken in den Heimen „das Recht auf Selbstbestimmung und Normalität“ zu und fordert entsprechend: „Schaffen Sie ein offenes Haus mit offenen Türen“. Es wird von dem „normalen alltäglichen Lebensrisiko“ geschrieben, das eingegangen werden sollte, um jemand „das Recht auf freie Bewegung ein(zu)räumen.“ Also hat auch „das Zurückhalten am Hauseingang“ zu unterbleiben.
  • Das KDA hat sich für den Kitwood-Ansatz als Leitkonzept entschieden. Laut Kitwood befinden sich alle bisherigen Erkenntnisse in der Demenzforschung und -pflege (das so genannte „Standardparadigma“) u. a. auch durch die Wirkung seines Ansatzes (die „neue Kultur“) bereits „in Auflösung“ (Maciejewski et al. 2001).

Der Blogger kommt zu der Ansicht, dass das Qualitätshandbuch nicht den Anforderungen an ein wissenschaftlich fundiertes Werk entspricht: „Zu einem Handbuch gehört u. a. die Zusammenfassung des Standes der Forschung, damit fachlich begründete Orientierungswerte zur Beurteilung der vielen oft kontroversen Ansätze entwickelt werden können. Diese Arbeit erhält … eher den Charakter eines Katalogs unausgewiesener Ideen und Interventionsformen mit teils gefährlichen Auswirkungen bei den Demenzkranken.“ (Lind 2002, siehe auch Lind 2007: 18).

Literatur

  • Bartholomeyczik, S. et al. (2006) Rahmenempfehlungen zum Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Demenz in der stationären Altenhilfe . Herausgeber: Bundesministerium für Gesundheit
  • Gutzmann, H. et al. (2005) Demenzielle Erkrankungen. Medizinische und psychosoziale Interventionen. Stuttgart: Kohlhammer Verlag
  • Lind, S. (1989) . Psychiatrie im Altenpflegeheim. Probleme einer krankheitsangemessenen Versorgung. Deutsche Krankenpflege-Zeitschrift, 42, 10, 676 – 680
  • Lind, S. et al. (1990) Milieu für Demente. Neue Perspektiven der krankheitsangemessenen Versorgung Dementer im Altenpflege heim. Deutsche Krankenpflege-Zeitschrift, 43, 10, 744 – 747
  • Lind, S. (2002) Rezension: Maciejewski, B. et al.: Qualitätshandbuch Leben mit Demenz. Altenheim, 41, 7, 41
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Maciejewski, B. et al. (2001) Qualitätshandbuch Leben mit Demenz. Köln: Kuratorium Deutsche Altershilfe
  • Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS)(Hrsg.) (2009) Grundsatzstellungnahme: Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz in stationären Einrichtungen, Essen: Eigenverlag
  • Nocon, M. et al. (2010) Pflegerische Betreuungskonzepte bei Patienten mit Demenz. Ein systematischer Review. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 43 (3): 183-189

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Sven.Lind@web.de). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

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